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Kribbeln unterm Krauthappel
Der Standard

Greg Lynn kooperiert mit Fabian Marcaccio in der Wiener Secession

Wien - Leben mit Maschinen. Zeit: Gegenwart. Haltbarkeitsdauer: unbestimmt. Und das geht hier, simpel gesagt, so: Parameter - wie Wind, Sonne, Temperatur, topographische und städtebauliche Eckdaten - in den Computer eingeben und Lösungen erwarten. Das tat der junge US-Architekt Greg
Lynn mit seinem neuesten Kunststreich, der erstmals in der Wiener Secession auch tatsächlich verwirklicht wurde.

3. Juli 1999 - Doris Krumpl
Wien - Leben mit Maschinen. Zeit: Gegenwart. Haltbarkeitsdauer: unbestimmt. Und das geht hier, simpel gesagt, so: Parameter - wie Wind, Sonne, Temperatur, topographische und städtebauliche Eckdaten - in den Computer eingeben und Lösungen erwarten. Das tat der junge US-Architekt Greg Lynn mit seinem neuesten Kunststreich, der erstmals in der Wiener Secession auch tatsächlich verwirklicht wurde.

Das erste Secessions-Architekturprojekt seit langem - und allein deshalb begrüßenswert - ist ein amorphes, aus „organischem“ Aluminium geschweißtes Alien, das sich das symmetrische Jugendstiljuwel einverleibt. Ein tingeling thing, wie es Lynn und der mit ihm kooperierende Maler Fabian Marcaccio benennen, beide übrigens bekennende Science-Fiction-Afficionados. Der Name, übersetzt etwa „das kribbelnde, beißende Ding“, bezieht sich auf einen Horrorfilm, in dem ein Arzt behauptet, Angst sei ein eigenes Lebewesen.

Hatten andere Künstler sich vor den historischen Räumen verneigt oder das Innere gänzlich negiert und zugebaut, so betreibt das Duo in bester postmodernistischer Manier dessen Dekonstruktion: eine wuchtige, schrille Intervention, die das dekorative Blätterelement der Kuppel, das goldene Krauthappel, und die strenge Geometrie des Gebäudekerns gleichfalls in die Mangel nimmt.

Das fremde, CAD-generierte Ding schlängelt sich von der Kuppel aus über die Decke der Vorhalle, wo es dann als Art Schiffsrumpf im Hauptraum strandet.

Roh, und die stählernen Konstruktionslinien verleugnend oder durchstoßend, schiebt sich die Malerei des seit zwölf Jahren in New York lebenden argentinischen Künstlers Fabian Marcaccio dazwischen - was an der Fassade allerdings etwas mager und verloren aussieht.

Er scannt in Pop-Farben Objekte, Einwegspritzen, wuchernden Fleisch-Schleim (Alien!) oder Makroaufnahmen von Texturen zu einem Mahlstrom von sich überlagernden Schichten und Farbspuren. „Information overload“ im Infobombardement aus dem Geiste von H. R. Giger. Images, auch aus der klassischen Malerei, wie etwa der dicke Pinselstrich des abstrakten Expressionismus werden als Abfolge von Filmkadern gleichsam mutiert, zuweilen 35 Meter lang. Keine Collage `a la Pop Art, sondern eine Zitatensammlung, Abgründe, in denen man sich verlieren kann.

Die Rückseiten der mit Nylonschnüren aufgespannten Prints ziert hingegen klassisch wilde Malerei. Bedeutsam auch, daß der Architekt nicht brave Anhaltspunkte für die Künstler-Bilder liefert, sondern daß sich alles autonom mixt zu einer hochexplosiven Mischung. Deren Haltbarkeit steht allerdings in den Sternen und hängt auch ein bißchen von der Beschaffenheit der jeweiligen Computerprogramme ab. Doch was soll's, die Secession steht für's Zeitgenössische - und das soll ja vor allem gerne kribbeln und beißen. Bis 8.8.

Ausstellung Lucy Orta im grafischen Kabinett, Gitte Villesen (DK) in der Kellergalerie

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