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Jugendlicher Klassiker. Endlich übersetzt.
Der Standard

Warum mußten eigentlich zwanzig Jahre verstreichen, bis Rem Koolhaas Delirious New York auf Deutsch erscheinen durfte?

10. Juli 1999 - Ute Woltron
Der Verlag ARCH+ in Aachen bringt nicht nur besonders interessante Architekturzeitschriften auf den Markt, er erfreut seine treue Stammleserschaft auch immer wieder mit architekturpublizistischen Schmankerln, die offenbar sonst weit und breit kein anderer Verlag hervorzubringen vermag. So warfen die Spezialisten etwa vor einiger Zeit eine Sammelmappe mit allen Vorlesungen des Berliners Julius Posener zur unbändigen Freude all jener auf den Markt, die den unnachahmlichen Witz und Esprit und die reiche Fachkenntnis des schrulligen Architekturprofessors zu schätzen wissen.

Nun erreicht uns die freudige Botschaft, daß der Verlag ein weiteres Wohl in die Tat umgesetzt und das wahrscheinlich abartigste und einflußreichste Architekturbuch der vergangenen Jahrzehnte übersetzt hat: 1978 war Delirious New York bei Rizzoli, New York, erstmals erschienen, seinen Autor, einen gewissen Rem Koolhaas, kannte damals kaum jemand. Heute gilt der Holländer als einer der schärfsten und unbarmherzigsten Vordenker der Architekturszene. Der Journalist, der zum Architekten wurde, hat in seinem Buch versucht, dem „Manhattan-Raster“ zu entsprechen. Er meint: „Es ist eine Ansammlung von Blocks, deren Nähe und Nebeneinander ihre jeweiligen Bedeutungen verstärkt.“ Viele Blocks machen eine Stadt, und Delirious New York zeichnet völlig unkonventionell die Geschichte der Metropole anhand ihrer baulichen Entwicklung nach.

Koolhaas nimmt seinen Leser bei der Hand und durchwandelt mit ihm Coney Island genau so wie das Empire State Building. Er vollzieht „Die Besiedlung der Lüfte“, „Die Geschichte des Pools“ und das Leben in Blocks wie dem Waldorf-Astoria nach. Dabei geht es ihm aber eben nicht nur um die Art und Weise, wie Ziegel geschichtet und Stahlträger miteinander verbunden werden, sondern um die Bewohner und Erschaffer der Architekturen, um die komplizierte Biosphäre, in der das Gebilde Stadt sich herauskristallisiert. Sichtbar ist der Haufen, doch die Ameise hat ihn produziert. „Der Manhattanismus“, sagt Koolhaas deshalb, „ist die urbanistische Doktrin, die unversöhnlichen Gegensätze zwischen einander ausschließenden Positionen aufhebt. Um seine Theoreme in der Realität des Rasters Gestalt annehmen zu lassen, bedarf er eines menschlichen Repräsentanten.“

Den findet er etwa in Person des Raymond Hood, der die Vision eines Manhattan als „Stadt der Türme“ erst hegt und dann umsetzt. Der Architekt baut dabei nicht nur in die Höhe, er macht sich auch Gedanken über die Volumina der Blocks und der Straßenräume, also über das größere Ganze, das gute Architekten genau so im Visier haben wie einzelne Räume und andere Kleinigkeiten.

Architektur als Prozeß - das klingt heute unverdienterweise ein bißchen nach Schlagwort, doch der Koolhaassche Ansatz ist zurecht in den Architekturtheoretikerwortschatz eingegangen. Der Holländer, der so glasklar formuliert und so unbarmherzig konstruiert, hat vor wenigen Jahren mit dem Buch S, M, L, XL ein vielbeachtetes Nachfolgewerk publiziert, in dem er -nunmehr erfolgreicher Architekt - konkret auf seine persönliche Arbeit und ihre unterschiedlichen Dimenstionen eingeht. Eine spannende Angelegenheit. Jedoch architekturtheoretisch bei weitem interessanter und auch nach zwei Jahrzehnten erfrischend neu und um vieles saftiger als das übliche Theoretikertrockenfutter ist der Erstling Delirious New York geblieben. Wen der nicht gerade anspruchslose, weil vom literarisch geschulten Koolhaas gehörig gefeilte englische Text abgeworfen hat, der darf sich jetzt per Deutschfassung durch Manhattan und damit auch die Geschichte der bauenden Ameise Mensch geleiten lassen. Delirious New York, Verlag ARCH+, öS 569,-.

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