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Wie viel Platz braucht der Mensch?
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Auf zu hohe Einwohnerdichte reagieren Menschen mit sozialem Rückzug. Wie können zukünftig dicht besiedelte Großprojekte wie die Seestadt Aspern oder die Reininghaus-Gründe in Graz auf diese Herausforderung antworten?

18. November 2021 - Sigrid Verhovsek
Auch wenn derzeit ein Revival der Stadtflucht thematisiert wird, wachsen Einwohnerzahlen wie umbauter Raum der europäischen Großstädte unaufhörlich. Urbane Infrastrukturen, Job- und kulturelle Vielfalt sowie Bildungsangebote vergrößern den Druck auf innerstädtische Wohn- und Arbeitsflächen. Veränderte Wohnstandards und die Kapitalanlage Boden tragen ebenso zur Notwendigkeit einer baulichen Nachverdichtung bei: Baulücken werden lukrativ geschlossen, größere Brachen „entwickelt“. Bekannte aktuelle Beispiele sind die Neue Seestadt Aspern in Wien, ein ausgedientes Flugfeld mit 240 Hektar, und die 54 Hektar großen Reininghaus-Gründe der ehemaligen Brauerei in Graz. Trotz unterschiedlicher Dimensionen ist die Flächenrelation ähnlich: Die Seestadt nimmt 0,6 Prozent der Fläche Wiens ein, Reininghaus 0,5 Prozent von Graz. Obwohl beide Vorhaben bereits über ein Jahrzehnt laufen, wird damit ein ganzes Quartier oder eine Stadt in der Stadt „aus dem Boden gestampft“.

In diesem Zusammenhang wird ein Begriff nachlässig gehandhabt, dessen Präzisierung im Vorfeld viele Fehlentwicklungen verhindern könnte: Das Wort „Dichte“ bedeutet für Architekt:innen, Stadtentwickler:innen, Humangeograf:innen oder Soziolog:innen je unterschiedliche, sogar konträre Sachverhalte, die sich von der Urdefinition „Quotient aus Körpermasse zu Volumen“ entfernt haben. Das ist deshalb riskant, weil bei der Gestaltung unserer Umwelt interdisziplinär friktionsfrei zusammengearbeitet werden sollte und sich diese fachspezifischen Dichten gegenseitig beeinflussen – und ihre Relationen wiederum das Ergebnis eines Bauvorhabens mitbestimmen.

Für im österreichischen Baugeschehen Tätige bedeutet Dichte zunächst Bebauungsdichte oder Geschoßflächenzahl, also das Verhältnis der Gesamtfläche der oberirdischen Geschoße zur Bauplatzfläche. Entwurfsprozesse starten deshalb meist nicht mehr mit einer Erkundung des Genius Loci, sondern mit einer Prüfung des Flächenwidmungsplanes: Mithilfe der amtlich vorgegebenen (höchst)möglichen baulichen Dichte errechnet man die ausführbare Bruttogeschoßfläche und versucht diese bis zum letzten Quadratzentimeter unter Einhaltung der Grenzabstände „auf das Grundstück“ zu bringen. Je nach Gefühlslage mag dies als verantwortungsvoller Umgang mit der endlichen Ressource Boden oder als beinhart kalkulierte Gewinnmaximierung im Immobiliengeschäft gedeutet werden.

Menschen kommen erst dann ins Spiel, wenn etwa Geografen von verschiedenen Formen der Besiedelungsdichte sprechen; hier geht es um die Relation zwischen Menschen und Fläche. Maßgeblich im Wohnbau sind Belegungsdichte (Personen/Wohnung) oder Belegungsziffer (Personen/Wohnraum), allgemein geläufig sind Angaben zur Bevölkerungsdichte in Form von Einwohner/Grundfläche. Obwohl in der Seestadt Aspern teils wesentlich höhere bauliche Dichten auf einzelnen Grundstücken erlaubt sind, werden die Einwohner der Reininghaus-Gründe in ihrem Stadtteil punktuell „enger“ beisammenleben: Die geplanten Wohneinheiten für 10.000 Menschen auf 54 Hektar bedeuten, dass pro Person innerhalb des Quartiers eine Grundfläche von 54 Quadratmetern zur Verfügung steht – für 20.000 Menschen in Aspern werden es je etwa 120 Quadratmeter sein.

Im englischen Sprachraum wird Bevölkerungsdichte als „social density“ bezeichnet: Der ursprünglich von Durkheim geprägte Terminus der sozialen Dichte hat jedoch einen anderen Hintergrund, nämlich den der Anzahl und Intensität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Diese heute als Interaktionsdichte bezeichnete Qualität eines sozialen innerhalb des baulich determinierten Raumes beeinflusst ein Quartier als sogenannte gute Nachbarschaft maßgeblich. Für die Beziehung zwischen dicht bebautem Raum, Einwohnerdichte und sozialem Netzwerk gibt es leider keine einfache Formel: Als Grundannahme ermöglicht bauliche Dichte bei mittlerer Belegung jene Bevölkerungsdichte, die physische Kontakte als Voraussetzung von Interaktion evoziert. Aber werden bauliche und/oder Einwohnerdichte zu hoch, entsteht das Gefühl von Enge, von „Crowding“, worauf Menschen mit sozialer Isolation reagieren.

Ein Grenzwert, ab dem Enge empfunden wird, bzw. die zunehmende räumliche Dichte, die soziale vermindert, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Das subjektive Empfinden von Beengtheit ist unter anderem von kulturellen Aspekten, anerzogenem Territorialverhalten, Dauer und „Freiwilligkeit“ des Aufenthalts, aber ebenso von der Raumbildung abhängig. Organisation, Form und Materialität von Bauwerken und Zwischenräumen, Grenzen, Schwellen und Übergänge, Ausblicke und Einblicke wirken nicht nur auf das ästhetische Empfinden, sondern können das Gefühl von „ausreichendem“ geräumigem Volumen als Voraussetzung für Kontaktaufnahmen verstärken oder vermindern.

Crowding wird teilweise auf den Effekt von „prospect and refuge“ zurückgeführt: Türen oder Fenster sind nicht nur funktionelle Zimmer-Assets, sondern bedeuten reale oder virtuelle Fluchtmöglichkeiten und Kontrolle verleihende Sichtachsen. Auch ein Quartier wird als zu „dicht“ empfunden, wenn man sich „gefangen“ fühlt – dies mag für viele unerheblich klingen, aber Kinder und Jugendliche, ältere Menschen oder Migrant:innen haben ohne ausreichende, finanziell leistbare Infrastrukturen oftmals einen sehr engen Lebensradius. Eine Erhöhung der „Funktionsdichte“ kann wiederum räumliche Dichte abmindern: Monotone Wohnsilos fühlen sich beengender an als Gebiete mit vielen unterschiedlichen Nutzungen und entsprechenden Erdgeschoßzonen. Hohe Interaktionsdichte ist dagegen entscheidend für die langfristige Akzeptanz eines dichten Wohnquartiers: Je besser die Beziehungen zwischen den Mitbewohnern sind, desto eher wird hohe Einwohnerdichte als Quelle für Synergien empfunden.

Zwar verteilt sich die Fertigstellung der einzelnen Quartiere in Reininghaus oder Aspern noch auf einen längeren Zeitraum, dennoch gibt es anfangs keine „gewachsene“ Nachbarschaft, keine etablierten Treffpunkte. Deshalb sind neun Stadtteilmanager:innen in Wien und zwei in Graz als Besiedelungsunterstützer:innen tätig, zeigen Angebote der Architektur auf und organisieren Beteiligungsmöglichkeiten. Auch Wohnbaugenossenschaften haben den Bedarf zum Aufbau der Interaktionsdichte für eine höhere Wohnzufriedenheit, weniger Vandalismus und verminderte Fluktuation erkannt: Anstatt einer anonymen Hausverwaltung arbeiten in den meisten neuen Quartieren wieder Siedlungsbetreuer:innen vor Ort. Man darf annehmen, dass die Kosten für diese sozialen Schnittstellen irgendwo im Promillebereich des Projekt-Gesamtaufwandes liegen.

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