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In Seoul beginnen die Leute jetzt, Hausfassaden zu streicheln
Neue Zürcher Zeitung

Südkoreas trendige Hauptstadt mausert sich zum neuen Kunst-Hub Ostasiens. Zur rechten Zeit kommt da ein ungewöhnlicher Art Space, der von den Basler Architekten Herzog & de Meuron realisiert wurde. Bereits hat sich Seoul in dieses Gebäude verliebt.

29. November 2021 - Philipp Meier
In kultureller Hinsicht steht China für das Prächtige und Grossartige, Japan aber für das Raffinierte und Verfeinerte. Die dritte im Bunde der grossen ostasiatischen Kulturnationen, Korea, nimmt da für sich gerne das Attribut des Organischen in Anspruch. Zwar mag dies dem westlichen Auge in der himmelstrebenden Hauptstadt Seoul auf den ersten Blick verborgen bleiben. Hier schiessen Türme aus Stahl und Glas aus dem Boden wie in jeder anderen Metropole Ostasiens.

Taucht aber aus der Häuserzeile plötzlich eine archaisch-erdig anmutende Wand auf, so reagieren viele wie magisch angezogen. Man sieht Passanten innehalten und die Fassade berühren. Teenager lassen sich dabei beobachten, wie sie die Aussenhaut dieses ungewöhnlichen Gebäudes zärtlich streicheln. Da mag jene kulturell tief wurzelnde Verbundenheit der Koreaner mit dem Urwüchsigen im Spiel sein.

Bei der neuen Realisation handelt es sich aber nicht einmal um einen genuin koreanischen Wurf, sondern um einen Bau der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron. Und dieser könnte sich kaum markanter abheben von seiner schicken Umgebung im trendigen Stadtteil Gangnam, der durch den K-Pop-Star Psy Weltberühmtheit erlangt hat. Hier hat der Hunger des dynamischen Tigerstaats nach Luxusgütern längst dafür gesorgt, dass sich die westlichen Mode-Brands mit glitzernden Flagship-Stores einen regelrechten Wettlauf um Aufmerksamkeit liefern.

Das neue und ziemlich signifikante Zeichen in Seouls facettenreicher Architekturlandschaft ragt jedenfalls wie ein spitzes Dreieck in den Himmel, als wollte es den rasanten Aufstieg der südkoreanischen Hauptstadt zum neuen Kunst-Hub Asiens anzeigen. Das geschieht allerdings mit einiger Diskretion, denn kein Schild an der schmucklosen Fassade verrät, dass es sich hier um eine Kunststiftung handelt. Nur ein schlichter Screen neben dem von der Strasse zurückversetzten Eingang gibt bekannt, welche Ausstellung gerade gezeigt wird.

Wie eine Skulptur

Wer steckt hinter der Stiftung mit dem neuen Kunstraum, der diesen September erst eröffnet worden ist? Der für Westler etwas kryptisch wirkende Name der Kunststiftung hat auch für koreanische Ohren etwas Geheimnisvolles. Song Eun bedeutet verborgene Kiefer und ist der Nom de Plume, also eine Art Künstlername, des Gründers des koreanischen Unternehmens ST International, das auch die bereits 1989 ins Leben gerufene Stiftung finanziert. Sung-Yeon Yoo wollte einst selber Künstler werden. Die Verwirklichung dieses Jugendtraums wurde aber durch den Koreakrieg vereitelt.

Neben der Karriere im Energiegeschäft lebte Yoo seine Kunstbegeisterung damit aus, koreanische Künstler zu unterstützen. Seit 1999 führt sein Sohn Familienunternehmen und Stiftung. Zu Ehren des Vaters, aber auch aus eigener Affinität zur Gegenwartskunst rief Sang-Duck Yoo 2001 einen jährlichen Kunstpreis ins Leben und gründete eine Non-Profit-Galerie. Nun realisierte er einen eigens für Ausstellungen und Veranstaltungen vorgesehenen Kunstort, der koreanischer Gegenwartskunst, aber auch der damit eng verwobenen internationalen Kunstszene eine öffentliche Plattform bieten soll.

Das dafür von Herzog & de Meuron realisierte elfstöckige Gebäude mit mehreren für die Kunst vorgesehenen Etagen ist das erste Projekt in Korea der unterdessen über 500 Mitarbeiter grossen Architekturfirma. Seine ungewöhnliche Form eines schlank aufragenden Triangels schuldet es der begrenzten Grundfläche von rund tausend Quadratmetern. Aufgrund der Schattenwurf-Regulierungen musste man sich entscheiden, entweder niedrig und breit oder hoch und schmal zu planen. Um aber so hoch wie möglich und zugleich mit maximalem Volumen bauen zu können, haben sich die Architekten nach unzähligen Modellen für die wohl radikalste Version entschieden.

Zur Seite des verkehrsreichen Boulevards hin ist das Gebäude als eine senkrecht emporragende Wand wahrzunehmen, deren Abgeschlossenheit nur von zwei schmalen, wie überdimensionierte Schiessscharten anmutenden Fenstern aufgebrochen wird. Auf der Rückseite fällt die Fassade schräg ab, was dem seine Nachbarhäuser überragenden Bau von der Seite her gesehen die Gestalt eines schmalen ungleichmässigen Dreiecks gibt.

Die skulpturale Anmutung des Baus hat aber auch mit seiner haptisch wirkenden Materialität zu tun. Die aufgeraute Betonfassade weist eine von unzähligen quadratischen Kiefernholz-Paneelen herrührende Struktur auf, die für Beton ungewöhnlich warm, ja geradezu mineralisch wirkt.

Die Seouliter haben den Bau bereits ins Herz geschlossen. Jeder weiss, wie unglaublich teuer hier der Boden ist. Die SongEun-Kunststiftung aber ist kein unnahbarer Glaspalast und auch kein wie sonst üblich in ostasiatischen Städten von Anzeigetafeln und Firmenschildern zugepflastertes Gebäude. Alles ist hier entschieden anders: Einerseits hermetisch gegen die grosse Verkehrsachse abgeschlossen, wirkt dieser Kunstort andererseits durch seinen offen gestalteten Eingangsbereich einladend, ja geradezu verführend mit seiner fast schon porös atmenden Aussenhaut.

Der schwarze Plattenbelag im hofartigen Eingangsbereich mit dem kleinen, sich an die Mauer schmiegenden Garten setzt sich hinter der Glasfront zur Lobby fliessend fort: Anders als übliche Kunststiftungen, die ihren Zweck oft auch darin haben, ihren Stifterfirmen in der Öffentlichkeit einen möglichst imposanten Auftritt zu ermöglichen, übt man sich hier in Zurückhaltung und pflegt die Niederschwelligkeit. Jeder soll sich willkommen fühlen, der Eintritt ist kostenlos.

Die oberen Stockwerke des sechzig Meter hohen Baus fungieren als Firmenbüros. Die Einfahrt zur Tiefgarage schimmert je nach Tageslicht in silbernen bis bronzenen Tönen, die vom Decken-und Wandanstrich herrühren. Die sich spiralförmig in den Untergrund windende Einfahrtsrampe bildet auf ihrer Rückseite in der Lobby ein grosses organisch wirkendes, schneckenförmiges Loch in Gestalt einer ins untere Geschoss versenkten Galerie. Von der Lobby aus geht der Blick tief in den dortigen Ausstellungsraum, der nur über einen Aufzug zugänglich ist.

Die Lobby selber ist minimal gehalten. Über eine grosszügige Treppe, deren eine Hälfte wie in einem antiken Theater zum Sitzen, Verweilen und Betrachten des kleinen Gartens hinter den Frontscheiben einlädt, erreicht man die oberen Ausstellungsräume. Es sind schlichte White Cubes mit hellem Holzparkett.

Die Eröffnungsschau, die Architekturansichten von Thomas Ruff oder auch Rauminstallationen der koreanischen Künstler Ho-Yeon Kang und Kibaik Yeon vereinte, enthüllte übrigens eine interessante Gemeinsamkeit des Stiftungsgründers mit dem Architekten Jacques Herzog: Auch dieser wollte einst Künstler werden. So waren in der Ausstellung tatsächlich zwei eigentliche Kunstwerke von Herzog & de Meuron zu sehen.

Das eine davon war eine Installation, die unter dem Titel «Lego House: One specific room» der Funktion des Estrichs als Erinnerungsraum nachspürte, die er für uns mit seinem Sammelsurium an deponierten und vergessenen Gegenständen innehaben kann. In der anderen Installation, «Olfactory Object Seoul» mit in kleinen Keramiken eingelassenen Duftkerzen, ging es um die assoziationsreiche Welt von Gerüchen, die auch in Häusern eine eminente Rolle spielten, wie Jacques Herzog einst in einem Interview mit Philip Ursprung unterstrich.

Lebendige Galerienszene

Der SongEun Art Space kommt zur rechten Zeit. Seoul baut sich gerade aus zum neuen Kunst-Hotspot von Fernost. Nächstes Jahr soll hier erstmals die internationale Messe für Gegenwartskunst Freeze stattfinden. Und zahlreiche westliche Galerien haben Adressen im Zentrum der Stadt eröffnet. So etwa König aus Berlin, der seine Räume soeben mit einer Schau vibrierender Papierarbeiten von Katharina Grosse einweihte. Oder der Salzburger Galerist Thaddaeus Ropac, der seine Eröffnungsschau jüngsten Gemälden von Baselitz widmete.

In Seoul seit längerem vertreten ist auch die renommierte New Yorker Pace Gallery, die gerade Arbeiten von Alexander Calder zeigte. Bereits 2017 eröffneten hier Lehmann Maupin aus New York als eine der ersten Galerien aus dem Westen eine Dépendance. Nun will man nächstes Jahr mit einem eigenen Gebäude des preisgekrönten koreanischen Architekturbüros Society of Architecture (SoA) auf 2400 Quadratmeter Ausstellungsfläche expandieren.

Dies in unmittelbarer Nähe zum Leeum Samsung Museum of Art, das in einer spektakulären dreiteiligen Folge von miteinander verbundenen Bauten der Stararchitekten Mario Botta, Jean Nouvel und Rem Koolhaas einen Teil der riesigen Samsung-Lee-Kunstsammlung beherbergt. Dazu gehören Spitzenstücke koreanischer Keramik und buddhistischer Kunst ebenso wie Werke von Alberto Giacometti, Francis Bacon, Louise Bourgeois, Anish Kapoor, Nam June Paik oder Andy Warhol.

Letztgenanntem widmet gerade der von Frank Gehry entworfene und 2019 eröffnete Flagship-Store Louis Vuitton Maison Seoul in seiner Rooftop-Galerie eine Schau mit Werken aus der Stiftung des französischen Luxuskonzerns (bis 2. Februar 2022). Westliche Kunst ist aber auch angesagt bei den grossen, regelmässig an der Art Basel teilnehmenden koreanischen Galerien. So richtet die Galerie Kukje gegenwärtig dem Briten Julian Opie eine Schau aus (bis 28. November).

Einen Katzensprung davon entfernt dreht sich dafür im National Museum of Modern and Contemporary Art (MMCA) alles um die einheimische Kunstproduktion. Zurzeit werden dort die vier diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger des Korea Artist Prize gefeiert (bis 20. März 2022).

Förderung der hiesigen Kunstszene ist auch ein Anliegen von SongEun Art Space. Das ist wichtig. Denn sollten die Koreaner einmal den Gefallen verlieren an den westlichen Luxuslabels, zu welchen im asiatischen Lifestyle-Verständnis auch die grossen Künstlernamen gehören, so werden wohl all die Brands der Mode- und Kunstwelt auch bald wieder weg sein.

Man fragt sich daher, wie nachhaltig dieser momentane Kunst-Boom wirklich ist – eine Frage, die übrigens auch an der Pressekonferenz zur Eröffnung des neuen Baus von Herzog & de Meuron gestellt wurde. Pierre de Meuron gab darauf zur Antwort, SongEun sei für Generationen gebaut. Nachhaltig sei dieser Ort dann, wenn die Menschen zahlreich und immer wieder gerne hinkämen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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