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Bauland, günstig abzugeben
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Siedlungsentwicklung nach Milchmädchenart: Pro Minute werden in Österreich 37,4 Quadratmeter Boden versiegelt, pro Stunde 2,6 neue Gebäude fertiggestellt – zwei Drittel davon sind Einfamilienhäuser. Die Folgen der Flächenwidmung werden kaum kommuniziert.

26. Januar 2022 - Franziska Leeb
Die Zahlen aus der Ausstellung „Boden für alle“ des Architekturzentrums Wien, die seit der Präsentation im Vorjahr durch das ganze Land tourt und noch bis 27. Februar in Waidhofen an der Ybbs zu sehen ist, sind eindrücklich. Manifest werden sie zum Beispiel nördlich von Hollabrunn im Weinviertel. Wenn man das ausgedehnte Gewerbegebiet, das die Ortschaft Suttenbrunn zum Wurmfortsatz der Bezirkshauptstadt degradiert, hinter sich gelassen hat, wächst einem seit zehn Jahren das Siedlungsgebiet von Schöngrabern entgegen. Trat früher das Dorf einen Kilometer vor der Ortseinfahrt nur durch die romanische Kirche und Scheunen in Erscheinung, breitet sich das Siedlungsgebiet nun rasant ins beste Ackerland aus. „Siedlungen nach solchem Planschema sind besonders häufig im unteren Manhartsberg anzutreffen, deren schönste, regelmäßigste Anlage Schöngrabern bei Oberhollabrunn ist“, schrieb der Bauforscher und Denkmalpfleger Adalbert Klaar in seiner Analyse der Siedlungsformen Niederösterreichs im Jahr 1930.

Während selbst der Strukturwandel in der Landwirtschaft dem auf das Mittelalter zurückgehenden Typus des planmäßig angelegten Angerdorfs wenig anhaben konnte, zerstörten zehn Jahre Siedlungsentwicklung das Bild nachhaltig – hier reden wir noch gar nicht von der Gestalt der Bauten. Rund 80 Einfamilienhäuser sind allein in der Neubausiedlung Hübelgrund auf umgewidmetem Ackerland entstanden. Während in dieser Zeit die Bevölkerung der aus fünf Katastralgemeinden bestehenden Gemeinde Grabern um 22 Prozent wuchs, stieg sie von 2011 bis 2021 allein in Schöngrabern von 752 auf 1048 Einwohner, also um fast 40 Prozent. Zum Vergleich: In Wien-Donaustadt, einem Hotspot der Stadtentwicklung, kamen in der Zeit nur 25 Prozent neue Bewohner hinzu. Wer annimmt, der extreme Zuzug sei auf eine attraktive Gemeindeinfrastruktur zurückzuführen, irrt. Denn die hält mit dem Wachstum nicht Schritt.

Infrastruktur? Fehlanzeige!

Warum dennoch enormer Andrang auf Bauplätze besteht, ist leicht erklärt: Um die 20 Euro waren vor zehn Jahren für einen Quadratmeter Bauland zu bezahlen, maximal 35 Euro sind es aktuell. Ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass in Nachbargemeinden das Dreifache eher die Regel als die Ausnahme ist. Zugleich platzen Volksschule und Hort aus allen Nähten. Außer einem Bäcker gibt es kein Lebensmittelgeschäft mehr. Ein Bahnanschluss fehlt, der letzte Bus nach Hollabrunn fährt um 18 Uhr, in die Gegenrichtung ist vor 19 Uhr Schluss mit öffentlichem Verkehr. Doppelgaragen vor den neuen Eigenheimen künden davon, dass ein Auto pro Familie nicht reicht, um den Pendleralltag zu bewerkstelligen. Wann der 2020 beschlossene Volksschulneubau im benachbarten Mittergrabern kommt, steht in den Sternen. Der in der Gemeindezeitung veröffentlichte Budgetvoranschlag für heuer sieht nun einmal den Ankauf eines Klassencontainers vor. Zwei Zeilen davor macht eine andere Position, stolze 800.000 Euro, unter dem Titel „Grundankäufe für Siedlungsentwicklung“, stutzig. In der lokalen ÖVP-Parteizeitung liefert der Bürgermeister die einfachen Argumente dafür: Mangels Tourismus und Betriebsgebieten blieben nur die von der Einwohnerzahl abhängigen Ertragsanteile von Bund und Land sowie eben Erträge aus Grundstücksverkäufen, um die Gemeinde auf wirtschaftlich gesunde Beine zu stellen.

Das erinnert an die Fabel vom Milchmädchen Lisette, das auf dem Weg zum Markt erträumt, was es von den Einnahmen für die Milch alles wird kaufen können – und im Freudensprung darüber den Topf ausleert. Wie hoch der Preis ist, den die Kommune durch unvorsichtiges Wachstum und hemmungslose Bodenverschwendung zu tragen hat, geht aus den Rechnungen der Zersiedler nicht hervor. Abgesehen von der Errichtung der notwendigen Straßen, Wasser- und Kanalanschlüsse, ist auch deren Instandhaltung zu kalkulieren. Was bedeutet der Bodenfraß für die wenigen verbliebenen landwirtschaftlichen Betriebe, denen zur Produktion weniger und teurer werdende Ackerflächen zur Verfügung stehen? Was bedeutet das Wachstum für das soziale Zusammenleben? Wo finden sich – jenseits von Feuerwehrfest und Kirtag – Orte der Begegnung? Wo es kein fußläufig erreichbares Geschäft gibt, verlagern sich die Einkäufe umso mehr ins Internet, es steigen Transportverkehr und Bodenverbrauch. Was passiert, wenn sich auf nahen Äckern ein Logistikzentrum ansiedelt, um die Versorgung und das Retourenmanagement effizienter zu gestalten? Ein notwendiges Übel, das den Ruf nach Lärmschutz laut werden lässt? Wer bezahlt dafür? Die Allgemeinheit.

Die Ausstellung „Boden für alle“ erläutert ebenso gut recherchiert wie anschaulich die historischen, politischen und rechtlichen Hintergründe sowie die wirtschaftlichen und ökologischen Zusammenhänge der Bodenfrage. Sie zeigt aber auch, dass es Wege gibt, dem Teufelskreis zu entkommen und die Entwicklung in gesündere Bahnen zu lenken. Eigens für die niederösterreichische Ausstellung machte man den Güterverkehr zum Thema. Jakob Tuna erklärt in seiner Diplomarbeit „Wohin mit der Logistik“, warum es notwendig ist, die Logistik in der Raumplanung stärker zu berücksichtigen, und legt einen Entwurf für ein entsprechendes sektorales Raumordnungsprogramm für Niederösterreich vor.

Von der Fabrik zum Gartencenter

Man sollte sich auch damit befassen, wie Bestehendes adaptiert werden kann. Ein Forschungsteam an der New Design University St. Pölten zeigt anhand des industriellen Leerstandes im Bezirk Baden auf, dass diese Strukturen zum einen über Jahrzehnte und Jahrhunderte durch einfache Maßnahmen wieder für andere Zwecke nutzbar zu machen sind, und zum anderen viel Bestand da ist, der nur darauf wartet, wieder sinnvoll verwendet zu werden, anstatt immerzu neue Flächen zu versiegeln. So wurde zum Beispiel die aus dem 19. Jahrhundert stammende Bettfedernfabrik in Pfaffstätten im Vorjahr ohne allzu großen Aufwand in ein Gartencenter der Firma Starkl verwandelt. Gleichermaßen ist es an der Zeit, neue Wohnformen innerhalb bestehender Siedlungsstrukturen zu entwickeln.

Raumordnung und Siedlungsentwicklung sind komplexe Themen. Milchmädchenrechungen helfen da nicht. Die Schuld an der Misere wird oft (und oft nicht zu Unrecht) den Bürgermeistern umgehängt. Die örtliche Raumplanung fällt in den Wirkungsbereich der Gemeinden, dem Land obliegt aber die Prüfung des Geschehens. Wie sehr Ziele wie Bodenschutz und Klimaschutz die kommunalen Siedlungsentwicklungen leiten, hängt also auch davon ab, wie sehr die Rolle als Aufsichtsbehörde wahrgenommen wird. Aber auch davon, wie transparent die Folgen einer Flächenwidmung an die Bevölkerung kommuniziert werden.

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