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Der Himmel über Moskau ist geschlossen
Der Standard

Die Kulturszene in Moskau. Vor Kriegsbeginn und danach. Anhand eines kürzlich fertiggestellten Museums von Renzo Piano, das jetzt bloß noch eine leere Hülle mit einer leeren Piazza ist. Ein persönlicher Bericht der Wiener Architektin und Filmemacherin Andrea Seidling.

28. März 2022 - Andrea Seidling
Ich erschrecke. Auf einmal sitzt mir Wladimir Putin gegenüber. Die Botox-Mimik, der stoische Halbmastblick, das Charisma eines Kühlschranks. Wie macht Ragnar Kjartansson das nur? Der isländische Künstler, der mir im Besprechungsraum des Wiener Volkstheaters gegenübersitzt, sieht Putin normalerweise nicht ähnlich, trägt sogar einen Bart.

Zum ersten Mal begegneten wir einander vor drei Monaten, in Moskau. Pussy-Riot-Künstlerin Mascha Aljochina stellte uns bei der Eröffnung des neuen Moskauer Kulturhauses GES-2 vor. Ragnar Kjartansson bespielte gerade das neue Moskauer Kulturhaus unter dem Titel Nach Moskau! Nach Moskau! Nach Moskau! mit diversen Projekten und Ausstellungen, unter anderem mit einem Remake der in Russland in den 1990er-Jahren populär gewordenen US-Soap-Opera Santa Barbara . Kartjansson: „Die Serie war das Role-Model für den russischen Kapitalismus.“

Mit dieser Begegnung begann der Moskau-Artikel, den ich vor ein paar Wochen schrieb und der dann nicht veröffentlicht werden konnte, vom Krieg aus dem Blatt geworfen. Worum ging es? In erster Linie um das GES-2, ein ehemaliges Kraftwerk, vom italienischen Architekten Renzo Piano sorgsam renoviert und umgewandelt in eine Kulturkathedrale, eine „Kathedrale des Lichts“, wie er selbst sagt. Ein lebendiger Ort des Produzierens und Erlebens von Kunst. Finanziert von der Stiftung V-A-C des russischen Oligarchen Leonid Michelson. Gelegen auf der Bolotnaya-Insel der Moskwa, im angesagten Kreativviertel der russischen Hauptstadt, dem Kreml zu Füßen.

Das GES-2 soll frischen Wind ins Moskauer Kulturleben bringen, erklärte mir der künstlerische Leiter Francesco Manacorda nach der Eröffnung im Dezember 2021. Auch das Raumkonzept stehe für Öffnung und Dynamik: Der schwellenlose Zutritt und das Entree, von Piano zur „Piazza“ erklärt, holen den öffentlichen Raum ins Gebäude. Und die flexible Raumnutzung lasse zu, dass immer wieder Neues entstehen könne, ohne durch vorgegebene Nutzungsnarrative eingeschränkt zu werden. So der ambitionierte Plan.

„Alle sind weg“

Frischer Wind kommt heute nur noch vom Moskauer Himmel, wo vier hohe blaue Stahlrohre, mit denen Piano die Fabriksschlote ersetzte, in 70 Meter Höhe Frischluft ansaugen und ins Gebäude leiten. Das Kulturleben in Moskau ist tot und das GES-2 nur noch eine leere Hülle, meint Ragnar Kjartansson. Noch am Tag des Kriegsbeginns zog er seine Ausstellung zurück und beendete die Produktion des russischen Santa Barbara -Remakes.

Und nun sitzen wir im Wiener Volkstheater, wo gerade seine Kulissenoper Klang der Offenbarung des Göttlichen aufgeführt wird, reden über die nahe Vergangenheit, die schlagartig zur fernen wurde, halten eine Art Therapiesitzung ab. Wie geht es unseren Moskauer Freundinnen und Bekannten aus der Kulturszene heute? „Alle sind weg. Außer jenen, die im Gefängnis sitzen“, lautet die bittere Bilanz.

Manche Vorzeichen erkennt man erst im Nachhinein. Ich war Ende 2021 nicht als Architekturkritikerin in Moskau, sondern zehn Wochen lang Artist in Residence des Atelierprogramms der Kunstsektion im Bundesministerium. Ich recherchierte zu einem Essayfilm über die Moskauer Jahre von Margarete Schütte-Lihotzky und ihrem Mann, über die Jahre 1930 bis 1937. Die häufigste Reaktion meiner Kolleginnen vor Ort war: Warum sind die Schüttes so lange geblieben, wo doch Stalins Terror nicht mehr zu übersehen war? Darauf konnte ich bis heute keine belegbare Antwort finden. Aber die Frage erscheint nun in einem neuen Licht. Und eröffnet eine andere: Hatten diese Kolleginnen schon eine Vorahnung vom Kommenden?

Bei einer Konferenz in Nischni Nowgorod, die den internationalen Kulturaustausch thematisierte, erlebte ich eine geradezu euphorische Aufbruchsstimmung. Ebenso in der Moskauer CCI Fabrika, in der ich ein Atelier bewohnen durfte und in der fast jede Woche eine neue Ausstellung eröffnet wurde. Doch diese Aufbruchsstimmung war wohl in erster Linie dem erhofften Ende der Corona-Pandemie geschuldet, die in der Kulturszene, im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsschichten Russlands, sehr wohl ernst genommen wurde. Dass in ihrem Schatten das Gesetz, nach dem Organisationen ohne Prozess als „ausländische Agenten“ eingestuft werden können, nunmehr auf Einzelpersonen ausgeweitet wurde, die Geld aus dem Ausland erhalten, sorgte auch bei den ohnehin fatalistisch gestimmten Kreativen für Beunruhigung.

Nehmen wir zum Beispiel meinen Kameramann Sascha: In den Jahren zuvor hatte er kein Problem damit, dass ich ihm sein Honorar aufs Konto überweise, denn: „Ich bin ja nur ein kleiner Fisch.“ Dieses Mal wollte er das Geld doch lieber auf die Hand. Mit Krieg rechnete er nicht: „Truppenaufmärsche sind für Russen alltäglich.“ Nach Kriegsbeginn erhalte ich nur noch Nachrichten von ihm, die sich nach dem Lesen löschen – ein elektronisches „Burn After Reading“. Er teilt mir mit, dass er auf der Liste der Reservearmee steht und versucht, nach Istanbul zu fliehen, um nicht auf ukrainische Freunde schießen zu müssen.

Oder Teresa Iarocci Mavica: die engagierte Kuratorin der V-A-C, die Oligarch Michelson zur zeitgenössischen Kunst führte, Renzo Piano zum Umbau des GES-2 animierte, Ragnar Kjartansson nach Moskau holte. Vier Wochen nach der Eröffnung des neuen Kulturhauses hat sie ihren Posten zurückgelegt. Manche spekulieren, dass Putin hinter diesem Rückzug stehe, dass ihm die Ausrichtung des GES-2 missfallen habe. Kjartansson erzählt von der Privatführung, die Putin im neuen Kulturhaus bekam, mit abgeschalteten Videos und verhängten Arbeiten und einem Schlagersänger zur Erbauung. „Eine Potemkin’sche Show für den Herrscher.“

Hakenkreuz-Bilderrahmen

Kjartansson mimt nun Putin, der mit starrer Miene durchs GES-2 stolziert. Wir scherzen, dass er nach Moskau fliegen sollte, um dort als Diktatoren-Doppelgänger den Frieden zu verkünden. Chaplin gelang ja Ähnliches. Aber nur im Film. – Ist die Kunst ohnmächtig? Ja. – Und nein: Denn warum sonst sollten sich Diktatoren bemühen, sie zu verbieten, sie ins Gefängnis zu stecken?

Mascha Aljochina, die mich mit Kjartansson bekannt gemacht hat, wurde bereits im Dezember 2021 für zwei Wochen inhaftiert, wegen eines Postings, das den Präsidenten von Belarus mit einem Hakenkreuz-Bilderrahmen zeigt. Ragnar spielt mir nun eine Sprachnachricht vom 28. Februar vor, in der Mascha von ihrer neuerlichen Verhaftung berichtet. „Sie ist wundervoll“, sagt er. Und plädiert dafür, die russischen Künstlerinnen im Westen heute nicht zu boykottieren: „Sie sind die Stimme des Widerstands.“

[ Andrea Seidling ist filmende Architektin und leitet das Magazin „Akku. Geschichten zu Architektur und Stadt“ auf okto.tv. Im Herbst 2021 war sie zu Recherchen für einen filmischen Essay über Margarete Schütte-Lihotzkys Jahre in der Sowjetunion auf Einladung des Residency-Programms des BMKOES in der CCI Fabrika in Moskau. ]

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