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Design ist politisch, sagt Lilli Hollein – und fordert zum Tanz auf
Neue Zürcher Zeitung

Für die neue Direktorin des Museums für angewandte Kunst in Wien ist Design prägender Bestandteil unseres Alltags. Damit will sie die altehrwürdige Institution beleben und diverser gestalten.

4. Juli 2022 - Susanna Koeberle
Wenn Lilli Hollein über die Spitzen aus der Sammlung der jüdischen Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1859–1936) spricht, erscheint dieses vermeintlich biedere und altmodische Objekt plötzlich in einem ganz neuen Licht. Lilli Hollein liest Spitzen durch die Augen einer faszinierenden Frauenfigur und spinnt so eine neue Erzählung über diese uralte Kulturtechnik. Seit letztem September sichtet sie als neue Direktorin des Museums für angewandte Kunst (MAK) in Wien solche Artefakte in dem riesigen Fundus einer während über 150 Jahren gewachsenen Sammlung.

Diese Sammlung umfasst Kunstschätze vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Da gibt es Kunsthandwerk und Design, Grafik und Mode, Glas und Mobiliar, aber auch Kunst und Architektur – oder anders gesagt: Dieses Museum repräsentiert die ganze materielle Vielfalt, die unsere Lebenswelt ausmacht. Dazu gehört sogar ein so vergessenes Nischenthema wie Spitzen. Und eben selbst für Spitzen-Design kann sich Lilli Hollein begeistern.

Ihre Art, über Design zu reden, ist sehr zugänglich. Man spürt ihre Fähigkeit, Objekte durch Geschichten zu neuem Leben zu erwecken. Damit schafft sie es nicht nur, frische Blicke auf alte Gegenstände zu werfen, sondern fördert zugleich die Bildung von neuen Synapsen. Genau dieses Verknüpfende ist für die MAK-Generaldirektorin, so ihr offizieller Titel, ein wichtiges Merkmal von Design: «Design ist eine Disziplin, die viele an einem Tisch versammelt.»

Kind einer Künstlerfamilie

Und Lilli Hollein hat recht: Design sitzt an der Schnittstelle zu vielen anderen Disziplinen und ebenso zum Alltag. Es hält mehrere Werkzeuge in der Hand, kann «wichtige Fragen unseres Zusammenlebens formulieren», wie sie es ausdrückt. Dieser panoptische Zugang kommt nicht von ungefähr. Aufgewachsen in einer Künstlerfamilie wurde sie schon im Kindesalter für einen umfassenden Kulturbegriff sensibilisiert. Ihr Vater war der Architekt, Designer, Ausstellungsgestalter und Architekturtheoretiker Hans Hollein (1934–2014). Ein Vielarbeiter, der nach dem Nachtessen oft nochmals ins Büro ging.

«Unsere Eltern boten meinem Bruder und mir einen Nährboden, um einen Sinn für Kultur und Kreativität zu entwickeln. Wir haben viele Reisen unternommen. Das erweiterte meine Sicht auf die Welt und gab mir ein wertvolles Rüstzeug. Wir wurden familiär mit vielen Möglichkeiten ausgestattet. Die Voraussetzungen, sie zu nutzen, muss man aber selber schaffen», erzählt Lilli Hollein.

Prinzipiell glaube sie, dass Kreativität unser aller Überlebenschance ist für das, was uns in Zukunft erwarte. Was ein kreativer Prozess bedeutet, lernte sie durch ihre Ausbildung zur Produktdesignerin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Dennoch entschied sie sich schon kurz nach dem Studium, den Weg in die Vermittlung einzuschlagen. Zusammen mit Tulga Beyerle und Thomas Geisler gründete sie 2007 die Vienna Design Week, ein Festival, das die gesellschaftliche Rolle von Design betont.

Nach dem Abgang von Beyerle und Geisler leitete Hollein das Festival über viele Jahre weiter. 2021 gab sie den Stab an die jüngere Generation weiter. Die Zeit war reif für den Schritt ins Museum. Die Verflechtung von Publikum, Festival, Stadt und Museum will sie nun aber auch im MAK umsetzen.

Das Museum öffnen

Das Museum in den Stadtraum hinein zu öffnen, ist eines der Kernanliegen. Überhaupt geht es ihr um Öffnung. Nicht nur soll die prächtige Säulenhalle des MAK öffentlich betretbar werden, ohne Ticket. Auch das frühere Direktionsbüro im ersten Stockwerk räumte sie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit. Hier finden nun Ausstellungen, Events und Vermittlungsaktivitäten statt.

Solche Willkommenssignale an das Publikum sind charakteristisch für ihre Visionen. Angesprochen fühlen soll sich ein möglichst diverses Publikum. Schliesslich, so Hollein, sei ja auch unsere Gesellschaft charakterisiert durch Widersprüche und Vielfalt. Design finde eben nicht im hermetisch abgeschlossenen Raum der Happy Few statt, sondern sei prägender Bestandteil unseres Alltags. «Design hat eine Moderatorenfunktion, es gestaltet gesellschaftliche Prozesse ebenso wie Produkte und Sehnsüchte. Dieser Verantwortung muss man mit Haltung, Mut und Innovation begegnen. Das MAK soll für herausragende Gestaltung und für die Verantwortung von Kunst und Design für eine nachhaltige, positive Zukunft unserer Gesellschaft stehen.»

Und auch, was die Ausstellungsinhalte betrifft, steht Diversität an oberster Stelle. Zum einen will Hollein zusammen mit dem Kustodinnenteam des MAK die Sammlung neu vermitteln. Es gehe heute in der Museumsarbeit verstärkt darum, komplexen Themen wie Kolonialismus oder Provenienzforschung gerecht zu werden und diese entsprechend transparent und zugänglich zu kommunizieren.

Hollein möchte zudem dem eurozentrischen Blick neue Perspektiven entgegensetzen. Der Austausch mit anderen Designkulturen und Museen ist für sie ein wichtiges Instrument diesbezüglich. Und bei allem Respekt vor der Geschichte: Die Gegenwart in die Mitte des Hauses zu holen, ist ihr ein ebenso zentrales Anliegen. Das Designlabor im unteren Stockwerk etwa ist eine Wunderkammer. Hier werden neue Materialien und experimentelle Entwürfe präsentiert, die den Weg in eine nachhaltige und lebenswerte Zukunft weisen.

Eine grosse Ausstellung, die im Dezember 2022 eröffnet wird, widmet sich dem Fest – ein dankbares Feld, um zu illustrieren, dass Pop-Kultur und Politik ebenso zu Design gehören. «Das Thema Fest verdeutlicht auf ideale Weise, was mir wichtig ist. Wir können damit zeigen, dass sich unsere Sammlung vom Mittelalter bis in die Gegenwart und auch die Zukunft spannt. Und es ist etwas, das uns alle betrifft; mit irgendeiner Art von Feierlichkeit wird jeder Mensch konfrontiert.»

Zugleich sei das Thema ungeheuer politisch: «Das Fest war schon immer ein Instrument der Avantgarde, um etwas auszuprobieren. Man denke etwa an den Maskenball, der Standesunterschiede verwischte oder bei dem man Geschlechterrollen tauschen konnte», erklärt Lilli Hollein. Die Vielfalt von Design ist nicht zu unterschätzen. Wir wären nicht erstaunt, wenn das Publikum im MAK demnächst zum Tanz aufgefordert würde.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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