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Was mit uns passiert, wenn berühmte Bauten einstürzen
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Der Prozess zur Brücken-Katastrophe soll Genua von seinem Trauma befreien. Paris zittert um den rostigen Eiffelturm. Über Niedergang und Neustart ikonischer Bauwerke.

9. Juli 2022 - Karl Gaulhofer
Zwei Jahre: So kurz soll der Prozess dauern, mit dem die Stadt Genua ihr kollektives Trauma überwinden will – den Einsturz der Autobahnbrücke Ponte Morandi im August 2018, der 43 Menschen das Leben kostete. In nur zwei Jahren soll geklärt sein, ob die Autobahngesellschaft und hohe Beamte in Rom aus Profitgier Gefahren vertuscht haben. Schwere Anschuldigungen, viele Kläger – üblicherweise dauern solche Gerichtsverfahren weit länger. Aber die Frist ist gezielt gesetzt: Nur knapp zwei Jahre dauerte auch der Neubau der Brücke. Die Italiener feierten den Kraftakt als Symbol ihres Widerstandsgeistes: In der Not stehen wir zusammen, lassen uns nicht unterkriegen, krempeln die Ärmel auf und zeigen der Welt, dass wir neu durchstarten können.

Freilich war das nur möglich, weil man den Auftrag ohne Ausschreibung vergab und die Regeln aussetzte, mit denen Italien die Korruption im Bauwesen eindämmen will. Aber der Genueser Stararchitekt Renzo Piano hat für seine Planung ja auch keinen Cent verrechnet.

San Giorgio heißt die neue Brücke, nach dem inoffiziellen Stadtpatron. Ein Kämpfer auch er, der Bezwinger des Drachen. Das Banner des Heiligen – rotes Kreuz auf weißem Grund – flatterte auf den Galeeren, als Genua noch die „Herrscherin der Meere“ war, wie Petrarca schrieb, „prächtig an Menschen und Mauern“. Doch mit dem Niedergang der Schwerindustrie ab den 1970er-Jahren brach ihr das ökonomische Rückgrat. Der Hafen verlor an Bedeutung, aus der stolzen wurde eine sieche Stadt, der 260.000 Bewohner den Rücken kehrten. Im Einsturz der Brücke sahen viele den Todesstoß. Der Ponte San Giorgio dient nun als Symbol einer ersehnten Neugeburt.

Eiffel würde „in Ohnmacht fallen“

Wie sehr ikonische Bauwerke mit kollektivem Traum und Trauma, Stolz und Sorgen verbunden sind, zeigt sich soeben auch in Frankreich. „Werden wir den Eiffelturm einstürzen sehen?“, fragt das Magazin „Marianne“ in seiner jüngsten Ausgabe. Das Wahrzeichen von Paris ist von Rost zerfressen, haben die Aufdecker aus geheimen Berichten erfahren. Gustave Eiffel würde „in Ohnmacht fallen“, zitiert das Blatt einen Insider. Hatte doch der Ingenieur geschrieben: „Der Anstrich ist das Wichtigste für die Erhaltung eines metallischen Werks, und die darauf verwendete Sorgfalt die einzige Garantie, dass es die Zeiten überdauert.“

Schon 20 Mal hat man die Streben neu gestrichen, in modisch wechselnden Farben. Aber nie wurde in jüngerer Zeit der alte Lack entfernt, das gesamte Eisenfachwerk abgebeizt. Denn dafür müsste die Betreibergesellschaft den Turm länger schließen. Und das wäre – bei sechs Millionen Besuchern pro Jahr, die zum Vollpreis je 27 Euro zahlen – ein gewaltiger Umsatzentgang. Das Überpinseln mit immer neuen Schichten aber führt zu Spannungen, Rissen, Abblättern, bis mit dem Wasser der Rost eintritt und das Eisen aushöhlt wie Termiten das Holz.

Noch hält ein Teil der alten Schichten, so bald wird der Eiffelturm also nicht in sich zusammenbrechen. Aber die Aufregung zeigt, welche Emotionen mit der Vorstellung verbunden sind – als wäre es das Ende Frankreichs.

Die ganze Welt war bestürzt, als sich –mit der Katze des Kustoden als einzigem Opfer – 1902 der Markusturm in Venedig auf einen Schutthaufen reduzierte. Ein Menetekel für die anbrechende Moderne: Am tausendjährigen Fundament der Pfähle lag es nicht. Der geplante Aufzug war schuld – um ihn installieren zu können, hatte man im Inneren des Turmes Metallanker entfernt. Wohl auch deshalb beschloss der Stadtrat sofort, den Campanile wiederaufzubauen, „com'era e dov'era“, wie und wo er war. Zum Missfallen von Otto Wagner: Auch der „moderne Stil“ solle am Markusplatz vertreten sein, meinte der Wiener Architekt. Der gar nicht so alte Turm habe ohnehin „die Harmonie und Ästhetik des Platzes verdorben“.

Die Gelegenheit zum Wandel tatsächlich genutzt haben die Westberliner, als 1980 ein Teil ihrer Kongresshalle einstürzte. Als „schwangere Auster“ war diese bekannt, wegen ihrer spektakulären Aufwölbung, aber auch als Symbol für die deutsch-amerikanische Freundschaft. Diese war gegen Ende des Kalten Krieges durch die Friedensbewegung angekratzt. Und so hat man mit dem Wiederaufbau die Agenda zu einem global orientierten „Haus der Kulturen“ erweitert.

Symbole der Hybris

Oft wurden einstürzende Prunkbauten auch als Symbol der Hybris punziert. Davon ausgenommen war just jene Epoche, in der die Tragstruktur am häufigsten versagte: Beim Bau der gotischen Kathedralen krachte es ständig irgendwo. Aber die Bischöfe hielten es eben für ein gottgefälliges Werk, gen Himmel zu streben, immer höher, schlanker und heller, um sich gegenseitig zu übertrumpfen und christliche Weltwunder zu schaffen, die alle antiken verblassen lassen.

Zudem waren sie bibelfest und wussten: Auch der Turm von Babel stürzte nicht ein. Er verfiel zur Ruine, nachdem die Arbeiter einander durch göttlich induzierte Sprachverwirrung nicht mehr verstanden und die Baustelle aufgeben mussten. Erst der jüdische Historiker Flavius Josephus verbreitete später die Legende vom Sturm, der den zu hohen Turm umgehauen habe.

So oder so: Die historischen Fakten waren anders. Der 91 Meter hohe, pyramidenförmige Tempelturm, auf den sich das Alte Testament bezieht, war keinem frevlerischen König geschuldet, der sich aufs Niveau der Götter hieven wollte. Vielmehr wollten, wie Herodot uns aufklärt, fromme Baumeister den Gottheiten ermöglichen, zuweilen herabzusteigen, um die Nacht mit einer Priesterin zu verbringen. Was für ein Missverständnis!

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