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Was uns Blumen bedeuten
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Blumen sind für die Ästhetik ein Gegenstand von zentraler Bedeutung. Blumen in der Natur, in Gärten; Blumen als Symbole, Blumen als Dekor, wo immer es um Verschönerung der Welt geht – Blumen sind dabei. Aber was bedeuten uns eigentlich Blumen, was ist der Grund der Faszination, die sie ausstrahlen? Dieser Frage geht der folgende Beitrag nach.

1. Juli 1999 - Gernot Böhme
Die Blumen sind nicht bedroht. Was uns hier Sorgen machen kann, ist nicht die Verringerung der Artenvielfalt. Wir wissen, daß das gärtnerische Wesen eher zur Steigerung der Artenvielfalt beiträgt. Ein Schrebergärtenareal ist allemal artenreicher als eine agrikulturell genutzte Fläche oder ein Forst. Das Interesse an Vielfalt wird hier sogar zu einer Vermehrung der Artenvielfalt beitragen, traditionell durch Züchtung und in Zukunft wohl auch durch gentechnische Veränderungen. Und hier mag ein Grund zur Sorge liegen. Die Freiheit der Manipulation mag Blüten treiben, die alle Grenzen sprengen – auch die des Geschmacks. Eine Ahnung davon können die gefärbten Kohlköpfe vermitteln, die sich heute schon in Blumenläden finden. Warum nicht Blumen bunt, weich und kuschelig wie die Pompons von Go-go-Girls oder spitzig und bizarr wie Hellebarden? Da Lust mehr Lust will und der Markt Neuigkeiten prämiert, scheinen hier keine Schranke gesetzt.

Was also bedroht ist, ist nicht die Vielfalt der Blumen, wohl aber ihre Natur oder sagen wir, die Blume als ein erstaunliches und dankbar von der Natur empfangenes Geschenk. Trotz aller Bewunderung: mit dem, was die Natur uns bietet, geben wir uns nicht zufrieden. Was einem Sorge machen könnte, ist also die Auflösung der Grenze zwischen dem von der Natur Gegebenen und dem von uns Gemachten. Und diese Grenze wird nicht erst durch Züchtung und Gentechnik aufgelöst, sie ist schon in einer anderen Weise undeutlich geworden, nämlich durch die immer perfekter werdende Produktion künstlicher Blumen. Auch das könnte einem Sorgen machen. Da die Blume ein ästhetisches Objekt ist oder, besser gesagt, als solches benutzt wird, ist die künstliche Blume so gut wie die natürliche. Nein, besser, sagt der Ökonom und der Raumgestalter: unabhängig von der Jahreszeit, unabhängig von den Lichtverhältnissen, pflegeleicht und unvergänglich. Die ästhetische Erfahrung ist indifferent gegenüber dem Unterschied von natürlich und künstlich. Sie hält sich an die Oberfläche, an das, was sich zeigt: sie ist eine Erfahrung des Scheins. Und selbst noch die Präferenz für das Natürliche erweist sich als Geschmacksache: Wer kennt nicht Andersens Märchen vom Schweinehirten, nämlich die Geschichte von dem Prinzen, der so jämmerlich scheiterte, als er seiner Angebeteten eine Rose überreichte. „Pfui Papa!“, rief sie, „sie ist nicht künstlich, es ist eine echte Rose!“

Wer wird die explosive Steigerung der Erscheinung von Blumen durch Züchtung und Gentechnik steuern? Wer wird die Schranke zwischen natürlich und künstlich wahren können? Die Blumen bedeuten uns viel, sehr viel. Gerade deshalb konnte die Blume ja zu einem so hervorragenden Produkt ästhetischer Ökonomie werden.
Was war es doch, was wir an Blumen schätzten?


Der Blumen Zier

Blüten, würde Adolf Portmann sagen, sind Organe des Sichzeigens. Und als solche sind sie auch biologisch funktional, also verständlich. Gleichwohl bleibt merkwürdig die unendliche Steigerung dieses Sichzeigens auch dann noch und auch dort noch, wo der biologische Zweck, die Bestäubung und Besamung verschwindet. Merkwürdiger aber sollte sein, daß wir für dieses Sichzeigen empfänglich sind, die wir doch gar nicht, wie die Insekten, gemeint sind. Wir Menschen erfahren deshalb an den Blumen unsere eigene Weltoffenheit, unsere Bereitschaft zur Teilnahme auch an dem, was uns nichts nützt. Die Liebe zu Blumen ist ein Signum von Humanität.

Wenn wir die Blumen als Gabe der Natur erfahren, so ist sie uns doch Zugabe, zwar hochwillkommen, doch nicht wirklich nötig, ein Mittel zur Steigerung, zur Überhöhung des Lebens, eine Zier.
„Schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben“,
so dichtet Paul Gerhard. Und obgleich sein Gedicht in die Tradition der Physikotheologie gehört, in der man aus der Schönheit der Welt auf die Weisheit ihres Schöpfers schließen wollte, gerät doch Gerhards Lob schon in die Nähe der Nützlichkeitserwägung. Was die Natur von selbst zeigt, was Gottes Gabe ist, wird schon in der nächsten Zeile zur Zier, die „mir und dir“ zur Lust dient. Die Schönheit der Blumen wird in Analogie zur Prachtentfaltung gedacht, durch die die Menschen sich gegenseitig zu übertreffen suchen:
„Narzissen und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an
als Salomonis Seide.“
So wandelt sich unsere Haltung zu Blumen immer wieder – historisch wie auch bei jedem einzelnen. Was am Anfang Staunen und Achtung gewesen sein mag, auch Achtung unserer selbst in unserer Offenheit zur Welt, wandelt sich mehr und mehr zum instrumentellen Verhalten. Die Schönheit der Blume läßt sie zum Schmuck werden; daß sie etwas ausstrahlt, macht sie geeignet zur Erzeugung von Atmosphären: heitere Girlanden, prächtige Buketts oder Zier, Verzierung zur Erzeugung wenigstens des Angenehmen. Schon die Römer zierten ihre Decken und Wände mit Blumengirlanden. Wie sollten sie uns nicht als Dekor dienen, als Schmuck auf Bucheinbänden, Druck auf Tapeten, Motive auf Kleidern; kein Restaurant ohne Blumenvase, kein Podium ohne Blumenarrangement, keine Beerdigung ohne ein Meer von Blumen. Die Allgegenwart von Blumen in unserem Alltag läßt sie zum Inbegriff des Ästhetischen werden, freilich im Sinne von Verschönerung, die in unserem Leben die überall herrschende Funktionalität überdecken soll. Sie bleibt die Erinnerung an etwas ganz anderes, die freie Gabe, das Ohngefähr, die Zweckfreiheit. Sie ist die Schönheit für den alltäglichen Gebrauch, ausgezahlt in kleiner Münze.

Die Sprache der Blumen

Ursprünglich eine Gabe der Natur, sind doch die Blumen längst eingebunden in die Kulturen. Was sie uns bedeuten, hängt von Konventionen ab, von Riten und Gebräuchen. Blumen sind das Standardgeschenk schlechthin. Doch nicht jede Blume gehört sich für jeden und zu jeder Zeit. Im empfindsamen Zeitalter des 18. Jahrhunderts hatte man daraus eine richtige Blumensprache entwickelt, über die man sich in Handbüchern informieren konnte. Als Beispiel sei C.F. Bürgers 1780 in 5. Auflage erschienenes Werk „Der Blumensprache neueste Deutung – ein Taschenbuch der Liebe und Freundschaft“ genannt. In Resten sind solche Konventionen bis heute erhalten. Wichtiger als dieses gesellschaftliche Spiel der Blumensprache sind die zum Teil auf sehr alte Quellen zurückgehenden Blumensymbole und Allegorien in der bildenden Kunst. Die Blumenbeigaben etwa zu Marien- und Heiligenbildern oder in der Darstellung von Herrschern machen Charaktere, Tugenden und sonstige Attribute der Dargestellten kund. So steht „die Akelei für den heiligen Geist, die Lilie und die weiße Rose für die Unschuld und Reinheit, die rote Rose für das Leiden (die Passion), die rote Nelke für die wahre und reine Liebe, das Veilchen für die Demut, der Mohn für den Schlaf und Tod, die Myrte für Bekehrung und Liebe, der Efeu für Treue und ewiges Leben, die Distel für die Sünde.“1 Einige Blumen haben auch politisch-heraldische Bedeutung gewonnen. So stand schon die Lotosblüte in Ägypten für die Einheit des Reiches und die Lilie wurde zum Zeichen für die Herrschaft der Bourbonen.
Diese Blumensymbolik ging natürlich ein in die klassischen Stilleben, insbesondere des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie lassen sich partiell als Allegorien auf das Leben mit seinen Freuden und Leiden, mit Tugend und Laster lesen. Überdeckt und zugleich zusammengehalten werden sie allerdings durch das allgemeine Thema von Glanz und Vergänglichkeit. Die Blumenstilleben feiern die Pracht des irdischen Daseins und signalisieren immer zugleich die Vergänglichkeit, die Vanitas durch einzelne welke oder herabgefallene Blätter, durch Wurmfraß und beginnende Fäulnis. Malerisch dominant ist wie bei allen klassischen Stilleben die Zuwendung zur Realität, zum wirklichen Aussehen der Dinge. Das hängt mit der noch relativ jungen Entdeckung der Möglichkeiten der Ölmalerei zusammen. Im Gegensatz zur mittelalterlichen und antiken Stilisierung der Blumen haben wir es bei den klassischen Stilleben mit klar identifizierbaren Spezies zu tun. Eine der Ursprünge der Blumenstilleben ist so auch in den botanischen Darstellungen der Maria Sibylla Merian zu sehen.
Dieses Ineinander von Realismus und Symbolik führt zu der Frage, warum bestimmte Blumen für bestimmte Eigenschaften, Gefühle, Tugenden stehen. Sind diese Beziehungen bloß konventionell oder haben die Blumen selbst etwas an sich, daß sie jeweils besonders geeignet machen, dieses oder jenes zu symbolisieren. Wird an den Blumen selbst der Charakter erfahren, für den sie dann in der bildenden Kunst stehen? Einen gewissen Aufschluß über diesen Zusammenhang geben die expliziten Allegorien, die sich in der Emblematik finden. So macht die Emblematik besonders von der Ambivalenz im Charakter der Rose – stacheliges Gewächs mit lieblicher Blühte – Gebrauch. „Wer die Rose im grünen Hag pflücken will, soll sich nicht wundern, wenn er sich in den Finger sticht. Das Gute ernten wir nie ohne irgendwelche Trübsal. Ebenso kommt Freude nicht ohne Schmerz.“2 Wir kennen den Zusammenhang noch aus dem populären Goethe-Schubertschen Lied „Sah’ ein Knab ein Röslein stehn“. In der Emblematik werden also reale Eigenschaften der Blumen benutzt, um Verhältnisse im menschlichen Leben zu versinnbildlichen und deutlich zu machen. So wird der Heliotrop in seiner Eigenschaft, im Tageslauf der Sonne zu folgen, zum Sinnbild für ein an Christus orientiertes Leben. Die Nachtviole dient dazu, dem Dichter besonders die Nacht zu empfehlen. „Zur Nachtzeit duftet diese Blume mehr: widme auch du den Musen die Nacht, wenn du irgend Beifall finden willst“ (ebd., Sp. 314).
So formelhaft die Emblematik mit ihren Analogien sich gibt, sie lehrt doch bei den Bedeutungen, die wir mit Blumen verbinden, nach dem Charakter der Blumen selbst zu fragen. Radikaler in dieser Hinsicht ist die anthroposophische Forschung, die, angeleitet durch Goethes Rede von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe, nach den Anmutungscharakteren der Blumen fragt. Sie spürt dabei der Gestik und Physiognomik der Wuchsformen nach und versteht sich deshalb mit Recht als ein Teil physiognomischer Naturerkenntnis.3 So spürt Michael Kranich in der Wuchsform des Schneeglöckchens die Seelengebärde der Sehnsucht. Der Symbolcharakter des Schneeglöck-chens, nämlich daß es für Erwachen und Frühling steht, findet so seine Basis im Anmutungscharakter der Pflanze selbst.

Das Antlitz der Blumen

„Es sind die Blumen, die uns die lebendigste Vorstellung von Schönheit vermitteln“, sagt Edmund Burke in seinen philosophischen Untersuchungen über den Ursprung unserer Vorstellungen vom Erhabenen und Schönen.4 Wir sind geneigt, Burke in dieser Auffassung zu folgen. Aber was ist der Grund dafür? Haben Blühen und Schönheit etwas gemeinsam, das die Blume zur geeigneten Metapher macht, um beispielsweise den Eindruck weiblicher Schönheit zu vermitteln? Die bekannte Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry hat versucht, darauf eine Antwort zu geben.5 Nach Kant nennen wir einen Gegenstand schön, wenn er der Einbildungskraft Gelegenheit zu freiem Spiel gibt. Warum, fragt Scarry, sind Blumen unter allen schönen Dingen dafür besonders geeignet, warum nicht beispielsweise Gesichter. Es ist schwer, sagt sie, sich Gesichter zu vergegenwärtigen, bei Blumen ist das ganz anders. Und zwar, das ist ihre Antwort, wegen der handlichen Größe der letzteren: „Flowers, unlike the faces of human beings, appear to be the perfect size for imagining“ (ebd., 54). Ein merkwürdiger Grund, zumal die Größe von Blumen und Gesichtern durchaus vergleichbar ist. Aber dieser Größenvergleich – das lehrt die Arbeit von Scarry – verdeckt gerade die tiefere Verwandtschaft von Blumen und Gesichtern: Blumen schauen uns an.
Die fundamentale Erfahrung, deretwegen uns Blumen etwas bedeuten, ist die Erfahrung des Angesprochenseins. In der Blüte kommt die Pflanze aus sich heraus, strahlt in ihre Umgebung, macht sich deutlich. Organe des Sichzeigens nannte sie Adolf Portmann, von Anmutungscharakteren spricht Michael Kranich. In der Blüte, gerade wegen ihres ephemeren Charakters, artikuliert die Pflanze ihre Gegenwart. Sie sagt gewissermaßen: Ich bin hier. Diese artikulierte Präsenz nennen wir Schönheit. Sie ist das Herausleuchtendste, wie Platon sagt.
Unter allen Blumen gilt seit alters die Rose als die schönste. Es mag sein, daß sie die reine Hingabe an die Präsenz und damit die Vergänglichkeit am deutlichsten artikuliert. Ihr Anmutungscharakter ist, wie Michael Kranich zeigt, nur Geste reiner Hingabe, weil ihr Fruchtknoten im Stengel versenkt ist (ebd., 129 - 140).
Dieses Aufgehen in der reinen Präsenz, diese Zweckfreiheit des Zeigens hat Angelus Silesius im Anblick der Rose formuliert:
„Die Ros‘ ist ohn‘ warumb; sie blühet, weil sie blühet / Sie achtt nicht jhrer selbst, fragt nicht ob man sie sihet ...“
Kürzer noch Rainer Maria Rilke in seinem Grabspruch:
„Rose, o reiner Widerspruch, Lust, / Niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern.“
Oder noch kürzer –
Gertrude Stein:
„Eine Rose
ist eine Rose
ist eine Rose.“

1 REINBOTHE, H., WASTERNACK, C. (1986): Mensch und Pflanze. Kulturgeschichte und Wechselbeziehung. Quelle und Meyer, Heidelberg. S. 45.
2 HENKEL, A., SCHÖNE, A. (1996): Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Metzler, Stuttgart. Sp. 298.
3 KRANICH, E. M.(1993): Pflanzen als Bilder der Seelenwelt. Skizze einer physiognomischen Naturerkenntnis. Verlag freies Geistesleben, Stuttgart.
4 BURKE, E. (1968): A Philosophical Inquiry in the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful. Univ. of Notre Dame Press, London. Sec. XVI, S. 116.
5 SCARRY, E. (1997): Imagining Flowers: Perceptual Mimesis. Issues in Contemporary Culture and Aesthetic, Nr. 5. April 1997, 50 - 71.

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