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Gesucht: Venedigs Bewohner
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Es war das größte urbanistische Projekt der Stadt Venedig seit dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch ein letzter Versuch, die Stadt in die Zukunft zu führen. Dem Campo Junghans fehlt allerdings das Wichtigste: die Menschen – sie fehlen überall abseits der touristischen Pfade.

12. August 2022 - Harald A. Jahn
Für die meisten Besucher ist Venedig eine immer gleiche romantische Kulisse; kaum eine Stadt bietet eine so unverwechselbare Identität, und rasch entsteht der Eindruck, sie sei zur Zeit der Dogen erstarrt, um seither pittoresk zu verfallen. Venedig war aber stets zeitgemäß. Nähert man sich über den Bahndamm, dominiert an der linken Stadtkante eine postmoderne Wohnanlage das Bild; am Piazzale Roma, dem Eintrittstor zur Stadt, blickt man vom Parkhaus des Stadtplaners Eugenio Miozzi aus den 1930er-Jahren auf die futuristische Ponte della Costituzione von Santiago Calatrava; dazwischen wartet die moderne Straßenbahn auf Passagiere zum Festland. Nur wenige Schritte weiter liegt der Baukörper des Bahnhofs Santa Lucia von 1952 breit gestreckt am Kanal, und schräg gegenüber versuchte die Stadt 1959, mit einem experimentellen Bau von Giuseppe Samonà, ihre Rolle als Verwaltungszentrum zu betonen.

Nun hat die moderne Architektur auch den berühmtesten Platz und damit die Herzkammer der Stadt erreicht: Der Stararchitekt David Chipperfield hat mit der diskreten Restaurierung der Alten Prokuratien am Markusplatz den nördlichen Gebäudetrakt in die Gegenwart gebracht. Hier arbeiteten und wohnten ursprünglich die Beamten der Baubehörde, später war der Komplex schlicht das Verwaltungszentrum der Serenissima, dann übernahm der Versicherungskonzern Generali schrittweise den verwinkelten Bau – der zuletzt allerdings weitgehend leer stand. Es ist ein introvertiertes Projekt, von außen fast unsichtbar; innen wurden jedoch 12.000 Quadratmeter Nutzfläche neu definiert. Während der Dachboden zu einem Ausstellungs- und Veranstaltungsbereich ausgebaut wurde, behielten die alten Büroräume im ersten und zweiten Stock teils ihre Funktion: echte Arbeitsplätze in einer Stadt, die fast nur noch als Touristendienstleister funktioniert.

Erstmals zugänglich seit 500 Jahren

So gleichförmig die unendlich lange Fassade aus Bögen und Säulen von außen wirkt, so verworren war der Mikrokosmos im muffigen Inneren vor der Sanierung; tatsächlich handelte es sich hier eigentlich um eine Reihe von Einzelhäusern. Chipperfield hat dann auch eher mit kleinen, befreienden Eingriffen gearbeitet, Ordnung ins Chaos gebracht, mit Respekt vor dem Bestand und hoher handwerklicher Qualität; die zentrale neue Treppe zum Dachpavillon ist neben dem Auditorium die einzige große, vielleicht sogar etwas unsubtile Geste. Zum ersten Mal seit der Erbauung vor 500 Jahren ist der Komplex nun für die Allgemeinheit zugänglich. Noch haben die Touristen die neue Attraktion nicht so recht entdeckt, noch hat sich die neue Attraktion nicht in den Organismus der Stadt eingeschrieben. Ein ähnlich prominentes Haus in ähnlich prominenter Lage hat diese Phase bereits hinter sich: Die Fondaco dei Tedeschi, die frühere Niederlassung der deutschen Händler neben der Rialtobrücke, war fast eineinhalb Jahrhunderte lang das Hauptpostamt der Stadt, bis es – nach Ankauf durch die Benetton-Gruppe und von Protesten begleitet – von Rem Koolhaas zu einem luxuriösen Einkaufszentrum verwandelt wurde. Trotz der bei solchen Projekten üblichen Versprechen wie Respekt vor der historischen Substanz oder Öffnung des Innenhofs als Piazza für alle Bürger änderte sich die Funktion doch völlig: von einem selbstverständlichen Angebot für die Bürger der Stadt zu einem weiteren talmiglitzernden Anziehungspunkt für den (gehobenen) Massentourismus. Auf der Strecke bleibt bei dieser Internationalisierung die Authentizität der Städte, spürbar ist das in fast allen historischen Zentren Europas.

Venedig ist von massivem Bevölkerungsschwund betroffen: Heute leben im historischen Zentrum gerade 50.000 Menschen, vor 50 Jahren waren es doppelt so viele. Noch in den 1980er-/90er-Jahren wurden allerdings neue Wohngebiete erschlossen, typischerweise anstelle obsolet gewordener Industriebetriebe an den Rändern der historischen Altstadt. Direkt neben dem Bahnhof lag der Komplex der Streichholzfabrik Saffa. Das Büro von Vittorio Gregotti entwarf einen neuen Stadtteil, der zwischen 1981 und 2002 in zwei Etappen fertiggestellt wurde. Wie selbstverständlich fügen sich die Bauten in das Wegenetz von Cannaregio; ruhig und unaufgeregt entwickeln sich aus dem zentralen Platz lang gestreckte Wohnhöfe, an denen streng symmetrisch die abgestuften rostroten Baukörper, teils mit Eigengärten, angeordnet sind; gekrönt werden die Häuser von hoch liegenden Balkonen, Zitate der typischen „Altana“, der über den Dächern errichteten Holzbalkone, die das Altstadtpanorama bis heute prägen.
Schornsteine erinnern an Fabriken

Südlich der Stadt, unter dem Bauch des „Venezianischen Fisches“, liegt Giudecca, dominiert von der gigantischen „Molino Stucky“, einer ehemaligen Getreidemühle und Nudelfabrik, heute Luxushotel. Auch in ihrer Umgebung ist das frühere Gewerbegebiet weiterhin ablesbar: Alte Ladekräne und Schornsteine erinnern an Fabriken, an deren Stelle teilweise immer noch Brachen liegen. Es ist die Rückseite der Serenissima, hier ankern die Boote der Müllabfuhr, ein Umspannwerk summt leise, die Sozialwohnblocks könnten in jeder italienischen Stadt stehen. Genau hier versuchte Venedig ab den 1980er-Jahren noch einmal, wirklicher Lebensraum zu sein, mit neuen Wohnungen für echte Venezianer; beauftragt wurden Architekten von Weltrang.

Direkt hinter der Molino Stucky baute Gino Valle seinen dichten Wohnkomplex in strengem Quadratraster. Drei Doppelzeilen mit etwa 100 Wohnungen steigen zur Landseite hin an, um auch den hinteren Wohnungen den Blick auf die Lagune zu ermöglichen; hohe Pfeiler tragen diese Gebäudeteile. Dabei wirkt der Wald aus Ziegelsäulen, wirken die Treppenläufe zu den Erschließungsbrücken nicht als dunkler Angstraum: Valle hat sich bei der Gestaltung an der Backsteinarchitektur der alten Fabriken orientiert, die Abfolge von Pfeilern, Bögen und Stiegen wirkt lebendig und warm.

Ein Stück weiter westlich liegt das Junghans-Areal, nach dem Masterplan von Cino Zucchi auf das Grundstück der ehemaligen Uhrenfabrik gesetzt: ein Miniaturstadtteil, der Venedigs typische Stadtstruktur nachempfindet, mit vorsorglich bereits deutlich höheren Kaimauern. Teile des Altbestandes wurden integriert, ein kleines Theater zeichnet die Form der ehemaligen Baukörper nach und dominiert den Campo Junghans. Es war das größte urbanistische Projekt der Stadt Venedig seit dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch ein letzter Versuch, die Stadt für echte Bewohner in die Zukunft zu führen. Eigentlich fehlt dem Areal nur wenig – aber das Wichtigste: die Menschen. Und sie fehlen überall abseits der touristischen Trampelpfade; am Campo Junghans scheint der Weg in die Zukunft der Stadt bis auf Weiteres zu enden.

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