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Palmetten im Gitterraster
Neue Zürcher Zeitung

Alexander Thomson im neuen Architekturmuseum Glasgow

Anfang Juli wurde in Glasgow ein neues Architektur- und Designmuseum eröffnet: das «Lighthouse» in dem 1893-95 von Charles Rennie Mackintosh gestalteten früheren Druckereigebäude des «Glasgow Herald». Mit der ersten Ausstellung ehrt die Stadt - in diesem Jahr «UK City of Architecture and Design» - den bemerkenswerten schottischen Architekten Alexander Thomson.

15. Juli 1999 - Ursula Seibold-Bultmann
Woher der Campanile zwischen Plattenbauten? Warum daneben einsam der ionische Portikus? Reisende aus dem britischen Süden, mit dem Zug nach Glasgow Central unterwegs, erblicken kurz vor Ankunft in Fahrtrichtung rechts das schmerzhafteste Wahrzeichen der Stadt: die Ruine von Alexander Thomsons Caledonia Road Church (1856-57), wie sie inmitten der modernistischen Wohnwüste der «brave new Gorbals» aufragt. Der Bau, seit Anfang der sechziger Jahre ungenutzt, wurde 1965 von Vandalen in Brand gesteckt. 1972-73 folgte der Abriss der angrenzenden mehrstöckigen, ebenfalls von Thomson errichteten Wohnhäuser; 1993 verlor der Kirchturm sein Dach.


Gruss an Ägypten

Noch unter dem Eindruck dieses Panoramas verlässt man nach Ankunft des Zuges den Bahnhof durch den Ostausgang zur Union Street. Direkt gegenüber dräut schwarz eine massige Steinfassade. Beim zweiten Blick enthüllt sich deren imposante Rhythmik: Man steht vor Thomsons Egyptian Halls von 1870-72. Über den Läden im Erdgeschoss lagern drei von energischen Horizontalen getrennte Stockwerke. Die einzelnen Bauglieder sind in geradezu leidenschaftlich repetitiver Weise ornamentiert. Dabei bleibt die Wand subtil geschichtet. Das zweite Geschoss mit seiner langen Reihe fensterhinterlegter Doppelpilaster ist am flachsten behandelt und stösst optisch am weitesten vor, während darunter der erste Stock leicht zurückweicht; im stark plastisch artikulierten Obergeschoss stemmen gedrungene Säulen ein monumentales Gebälk in die Höhe. Die feine Diszipliniertheit der Licht-und- Schatten-Effekte besticht das Auge, obwohl der Stein von Schwefeldioxid zerfressen ist; mit der Renovierung soll demnächst begonnen werden.

Innert Minuten erreicht man von hier zu Fuss das Lighthouse. Offiziell wird der rote Sandsteinbau mit seinen historisierenden Dachgauben und seinem halb trutzig, halb floral gedachten Eckturm als erster öffentlicher Auftrag Mackintoshs bezeichnet; tatsächlich handelte es sich um die Neugestaltung des gut zwanzig Jahre älteren «Glasgow Herald»-Gebäudes, und die Fassadenpläne stammen aus einer Zeit, als Mackintosh noch junger Angestellter in der Firma Honeyman and Keppie war.

Trotzdem: Die Front des Gebäudes, das während der letzten fünfzehn Jahre leer stand, spricht eine phantasievoll wuchtige Sprache, und sein Umbau zum Museum wird einen ganzen Strassenabschnitt wiederbeleben helfen. Die verantwortlichen Architekten Page and Park aus Glasgow, die sich unter anderem durch die Neuordnung des Bezirks um die mittelalterliche Kathedrale der Stadt (seit 1984) und durch die Sanierung einer Gruppe von Warenhäusern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (dem jetzigen Italian Center in der John Street) einen Namen gemacht haben, mussten hier mit sehr begrenztem Spielraum auskommen, da die Baulücken neben dem L-förmigen Mackintosh-Komplex äusserst eng waren. Page and Park haben sie auf der Westseite durch einen unauffälligen vierstöckigen Anbau mit einer Fassade aus gelbem Sandstein und schlichten Metallplatten sowie im Norden durch den gläsernen Eingang zum Lighthouse geschlossen. - Im Innern des Häuserblocks beschränkte sich ihr Eingriff im wesentlichen auf die Ergänzung des «Herald»-Gebäudes durch einen etwas unruhigen neuen Zugangstrakt mit Treppen, Lifts und Zirkulationsflächen. Im überdeckten Innenhof schwebt eine von blauem Neon gesäumte Rolltreppe diagonal in die Höhe: Von der Aussichtskanzel auf dem Dach lassen sich die rechtwinklig aufeinanderstossenden Häuserschluchten der Innenstadt bewundern. Das im 18. Jahrhundert begonnene Gittermuster der Stadtanlage erklärt, warum man spätestens an diesem Punkt von Amerika zu träumen beginnt.

Zurück im vierten Stock, kann man sich in das von Gareth Hoskins ausgestattete Mackintosh Interpretation Center begeben, um eine Zeittafel zu studieren oder interaktive Computer auszuprobieren. Mackintoshs Eckturm darf man von hier aus ebenfalls erklimmen. Das alles ersetzt allerdings nicht einen Besuch der Hunterian Art Gallery der Universität mit ihren grossen Mackintosh-Beständen; das Lighthouse versteht sich als vermittelnde Institution und besitzt keine eigenen Sammlungen. Vier Galerien innerhalb des Gebäudes dienen Wechselausstellungen. Ein hausinternes Konferenzzentrum ergänzt das Angebot.

Die zur Eröffnung konzipierte Retrospektive des Schaffens von Alexander Thomson (1817-75) will den einfallsreichen und höchst produktiven Klassizisten als «Unknown Genius» in der Geschichte der Architektur auf ähnlicher Höhe wie Mackintosh verorten. Sie ist als visuell ansprechende Übersicht ohne primär wissenschaftlichen Anspruch gehalten. Teils chronologisch und teils thematisch gegliedert, spannt sie das Œuvre Thomsons zwischen das Schaffen von Karl Friedrich Schinkel - dessen Pfeilerreihen entlang der Fenster des Berliner Schauspielhauses zu einem Hauptmotiv im Formenrepertoire des Glasgower Architekten mutierten - und das Werk von Frank Lloyd Wright, dessen Prairie Houses verschiedentlich mit Thomsons Villen Holmwood (1857-58) und Langside (1856-57) in Verbindung gebracht worden sind.

Zu einer Zeit, als das Greek Revival andernorts längst von der Neugotik verdrängt worden war, entwickelte Thomson programmatisch seine malerische, stilistisch hybride und dabei ebenso urbane wie presbyterianische Klassizismus-Variante. In seinen Vorträgen konnte er von Athen und Ägypten schwärmen, als sei er eben erst dort gewesen: «Eine Gruppe schöner Formen» - dies über die Akropolis -, «die so voll Geist sind, dass sie zu denken scheinen». Dabei hat er Grossbritannien nie verlassen und baute nur in Glasgow und dessen engerer Umgebung. Für ihn durfte die Architektur nicht blossen Regeln folgen, sondern musste ewigen Gesetzen gehorchen, die sich in der Geschichte nach und nach offenbart hätten: Ägypten sah er auf die griechische Zivilisation vorausweisen, welche ihrerseits die Menschheit auf die Wahrheiten des Christentums vorbereitet habe. Als gläubiger Schotte und Viktorianer war er zutiefst vom Alten Testament ergriffen; wohl darum liess er sich von den megalomanen Bibelszenen des romantischen Sensationsmalers John Martin inspirieren, in denen aufgetürmte Podien, Prunktreppen und endlose Kolonnaden Edmund Burkes Konzept des Erhabenen einzulösen suchten.


Queen's Park Church

Am komprimiertesten kam dieser Einfluss in der 1943 von deutschen Bomben zerstörten Queen's Park Church zum Ausdruck - einem Tempel Salomos, wie er im Buch der Könige kaum prächtiger geschildert ist. Für die Ausstellung wurde ein (ohne Massstab präsentiertes) Grossmodell dieser Kirche angefertigt, und eine Computersimulation evoziert das spektakuläre polychrome Innere. Leider ist von Thomsons Nachlass nicht allzuviel erhalten; um so bedauerlicher, dass das Buch zur Ausstellung die Exponate - darunter Entwurfszeichnungen für Geschäftshäuser, Grabmonumente sowie insbesondere für die Caledonia Road Church - nicht systematisch erfasst. Statt dessen bietet es aber neben einer guten Einführung und schönen Photos einen ausführlichen Katalog sämtlicher erhaltener und zerstörter Thomson-Bauten. Auch wenn der Vergleich mit dem Genie eines Mackintosh doch etwas hinkt: Thomson hat das steinerne Gesicht Glasgows so nachhaltig geprägt wie kein zweiter. (Bis 19. September)


[ Begleitbuch, 184 S., £ 25.-. Unter dem Titel The Light of Truth and Beauty ist gleichzeitig eine Edition von Thomsons Vorträgen erschienen (200 S., £ 9.95). Das jüngst in den Besitz des National Trust for Scotland gelangte Holmwood (61-63 Netherlee Road) ist täglich von 13.30 bis 15.30 Uhr geöffnet. ]

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