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Don Quijote der Architektur
Der Standard

Wie kann man Strukturen minimalisieren und gleichzeitig dem Bewohner oder Nutzer größtmöglichen Freiraum einräumen? Seit über dreißig Jahren beschäftigt den Architekten Heidulf Gerngross dieser scheinbare Widerspruch.

17. Juli 1999 - Franziska Leeb
Eine der eigensinnigsten Figuren der Wiener Architekturszene feiert heuer ihren sechzigsten Geburtstag. Haben es gleichaltrige Weggefährten mittlerweile zu stattlichen öffentlichen Aufträgen und Universitätsprofessuren gebracht, so ist er einer, der jenseits des etablierten Architektur- und Baubetriebs mit Hingabe nach dem Essentiellen in der Architektur sucht. Die Rede ist von Heidulf Gerngross, geboren 1939 in Kötschach/Kärnten.

Er besuchte das Werkschulheim Felbertal, wo er neben dem Gymnasium eine Tischlerlehre absolvierte, der er seine handwerklichen Fähigkeiten verdankt. Aus dieser ersten Ausbildungszeit blieb ihm vor allem ein Wortwechsel aus der Berufsschule in Erinnerung: „Was ist Zeit?“ fragte der Lehrer - „Zeit ist Geld“, antwortete ein Mitschüler, „Richtig, setzen“, sagte der Lehrer.

Von diesem Dialog kann vielleicht ein direkter Bogen zu Gerngross' Hauptanliegen der vergangenen Jahre gespannt werden: die Entwicklung systematisierter Haustypen, u.a. auf Basis vorgefertigter Container, die schnell zu errichten, möglichst flexibel und gleichzeitig wirtschaftlich sein sollten.

In der Zwischenzeit widmete er sich dem Architekturstudium, das er in Wien begann und in Graz abschloß. Ein Stipendium für die University of California Los Angeles (UCLA) ermöglichte ihm den Kontakt zu Archigram, damals in den sechziger Jahren die führende Architektur-Denkfabrik.

Im Gegensatz zu den Megastrukturen der visionären Stadtplanungsprojekte Archigrams, in denen Menschen eher „wie Ameisenkolonien“ (Gerngross) eine untergeordnete Rolle spielen, rollte er das Thema der Plug-In City von der anderen Seite auf. Er entwickelte vorgefertigte Polyester-Raumzellen für das Individuum, die dann zu Stadtstrukturen gefügt wurden.

Der Student Gerngross suchte Antworten auf die dominanten Positionen und Vorbilder der Zeit. Die Beschäftigung mit den Arbeiten von Kasimir Malewitsch, Le Corbusier und Friedrich Kiesler provozierten im Denken des jungen Gerngross die Frage nach dem architektonischen Raum, der er mit verschiedenen grenzüberschreitenden Arbeiten akribisch nachging. „Seismographische Aufzeichnungen“ nennt er eine Serie graphischer Blätter, die über Jahre hindurch entstanden sind und mit denen er die Welt mit Strichen zu erforschen und erklären suchte.

Als Antwort auf Kieslers Konzept des „Endless House“ hatte Gerngross nicht die Auflösung der Raumgrenzen im Sinn. Er erachtet vielmehr das bewußte Setzen von Grenzen, innerhalb derer eine theoretisch unbegrenzte individuelle Entwicklung stattfinden kann, als Grundlage architektonischen Handelns.

Nach dem Motto „Die Fläche ist die Algebra des Raumes“ präsentierte er 1993 in einer Galerie in Oslo einen Raum unter dem Titel The Endless House, dessen begrenzende Flächen er mit 1, 2 und 3 bezeichnete. Als Schlüsselwerk betrachtet er seine auf einem DINA4-Blatt festgehaltene Arbeit Der architektonische Raum, auch Gerngross-Raum genannt, bei dem sich monochrome Flächen mit unterschiedlicher Farbdichte und dem Schriftzug GERNGROSS versehen im Kopf des Betrachters zu einem virtuellen Raum zusammenfügen.

1968 begann er in Los Angeles seinem Volksbuch zu arbeiten, das zehn Jahre später als über zwölfhundert Seiten umfassender Band erschien. Gerngross mechanisierte die Sprache und setzte nach einem rhythmischen System eigene und aufgeschnappte, literarisch wertvolle Texte, die er per Zufallsgenerator auswählte, gleichermaßen wie Fragmente von Schundliteratur zum weltweit ersten Computerroman zusammen.

Prosa, Drama- und Gedichtformation wechseln einander ab. In den dramatischen Passagen läßt er Worte als Akteure auftreten. Teile des Bandes sind in einem von ihm entwickelten Raumalphabet verfaßt, dessen Buchstaben durch Drehung eines einzigen Zeichens, einem Winkel, gebildet werden.

Mitte der Siebziger Jahre startete er die mehrjährige Zusammenarbeit mit Helmut Richter, aus der unter anderem das Einfamilienhaus Königseder, ein Geschoßwohnbau auf den Gräf & Stift-Gründen in Wien-Döbling und das chinesische Restaurant Kiang im ersten Bezirk hervorgingen.

Wieder allein beschäftigte er sich mit der Konzeption der bereits erwähnten Containerhäuser und gründete die Gesellschaft ST/A/D - Städtebau/Architektur/ Design. Das „ST/A/D Schnellhaus“, 1992 erstmals präsentiert und inzwischen mehrfach weiterentwickelt, ist nicht nur ein preiswertes Wohnbaumodell für Katastrophenfälle, sondern erfüllt auch Gerngross' Credo wider eine (pseudo)individuelle Handschrift.

Das Projekt entstand mit seinem inzwischen verstorbenen Freund und Geschäftspartner Robert F. Schwan, und wurde unter dem Titel Wiener Loft - Patent als Grundelement von Siedlungsstrukturen verwendet. In Zusammenarbeit mit der Werkstatt Wien entstand nach dem Konzept der Wiener Loft, allerdings noch nicht aus industriell vorgefertigten Bauteilen, sondern in herkömmlicher Bauweise, die Erste Wiener Loftsiedlung in der Ödenburgerstraße in Wien-Floridsdorf. Damals galt die Siedlung als der preiswerteste Wohnbau in Wien.

Die Wohneinheiten bestehen aus zwei Geschosse hohen Räumen mit einem fixen Sanitärkern im Erdgeschoß und einer Galerie und Balkenlage im zweiten Geschoß. Der zweigeschossige Raum kann entweder in seiner Großzügigkeit belassen, oder bei Bedarf - auch im Selbstausbau - geschlossen werden, um zusätzliche Wohnfläche zu gewinnen: ein bisher nicht dagewesener Grad an Freiheit im Sozialen Wiener Wohnbau.

Sein bisher größtes Gebäude, die Hauptschule in der Kleinen Sperlgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk wurde 1998 fertiggestellt. Auch bei dieser großen öffentlichen Bauaufgabe blieb Gerngross seinem Berufsbild vom Architekten als Integrator und Vermittler zwischen Kunst, Technik und Nutzer treu. Seine stete künstlerische Beschäftigung mit Farbe und Raum findet hier besonders augenscheinlich ihren Ausdruck in der Fassadengestaltung mittels verschiedenfarbiger Sonnenschutzmarkisen, die je nach Stellung unterschiedliche Bilder und Raumeindrücke bewirken. Und es war auch er, der die Namensgebung des Gebäudes - „Friedrich Kiesler Schule“ - angeregt und letztlich durchgesetzt hat, als Referenz an jenen Architekten, dessen Werk ihm Anregung und Inspiration für das eigene Denken war und dessen Leistungen in seiner Heimat erst viel zu spät Beachtung fanden.

„Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen“, heißt es bei Friedrich Hölderlin in Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Ein Bekenntnis, das auf Gerngross, den Einzelkämpfer, der stets versucht zu vermitteln, stets am Puls der aktuellen Kunst- und Architekturszene ist, nur zu gut übertragen werden kann. Wenn sein Beitrag zum österreichischen Architekturgeschehen auch noch nicht ausreichend durch die jüngere Geschichtsschreibung gewürdigt worden ist, so zählt Heidulf Gerngross auf jeden Fall zu den Inspiratoren und Mentoren vieler junger Kollegen, die wie auch die junge Architektengruppe Sputnik, seine Ausstrahlung, Unvorgenommenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber allen neuen Entwicklungen ganz besonders schätzen.

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