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Gas aus Steinkohle für alle Stadtzürcher Haushalte war das Ziel – der Gasometer in Schlieren erinnert an ein Kapitel der Schwerindustrie
Neue Zürcher Zeitung

In den 1940er Jahren wurden 90 Prozent aller Stadtzürcher Haushalte mit Gas aus Schlieren versorgt. Die Energieanlage mit ihrem imposanten Speicher steht noch.

23. November 2022 - Dorothee Vögeli
Lange war der 35 Meter hohe Gasometer Schlierens Wahrzeichen. Er gehörte zur einst grössten Energieanlage der Schweiz. Täglich wurden hier 25 000 Kubikmeter Steinkohlegas produziert und vor der Verteilung in riesigen Speichern gelagert. Doch der letzte, von einem Stahlgerüst umfasste Gasbehälter hat Konkurrenz erhalten.

In der ehemaligen Industriegemeinde vor den Toren Zürichs sind Neubauten emporgeschossen. Auf dem Gelände der Leimfabrik Geistlich ist der letzte Hochkamin verschwunden. Um ein Haar hätte dem einzigen Teleskop-Gasometer der Schweiz das Gleiche geblüht.

«Rosthaufen» nannte der Volksmund das Relikt aus der Ära der Grossindustrie. Sogar die verantwortliche Stiftung erwog den Abbruch. Dass der Gasometer nun vorerst gerettet werden konnte, ist Jürg Conzett zu verdanken. Der Bündner ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ingenieurskunst.

Für den Gasspeicher in Schlieren hat er eine pragmatische und zugleich elegante Lösung entwickelt: Wie ein Regenschirm spannt sich nun ein schwebendes Dach über die fragile Kuppel und bewahrt das undichte Monument vor weiteren Schäden. Kürzlich wurde der Rettungsschirm eingeweiht. Die Kosten von 2,2 Millionen Franken werden aus dem kantonalen Denkmalpflegefonds finanziert.

«Die Technik ist überholt, aber raffiniert»

Jürg Conzett ist Konstruktionsingenieur. Der Bündner schafft Tragwerke für Brücken, aber auch für Häuser. Besonders interessieren ihn alte Bautechniken, in die er sich gerne hineindenkt. Er wird deshalb auch im Kanton Zürich immer wieder zu Rate gezogen. Begleitet hat er zum Beispiel die Renovation des Kongresshauses und der Tonhalle.

Zum Gasometer Schlieren sagt Conzett: «Es ist ein aussergewöhnliches Projekt, weil es europaweit fast keine Teleskop-Gasometer mehr gibt. Ihre Technik ist überholt, aber raffiniert.» Er vergleicht das Bauwerk mit einer Dampflokomotive, die nicht mehr fährt.

Das Besondere an der Konstruktion ist, dass man durch das Stahlgerippe hindurch den Gasbehälter, auch Glocke genannt, sehen kann. Je nach Füllstand fuhr früher der Behälter auf Rollen und Führungsschienen in drei Stufen nach oben, eben wie ein Teleskop. Heute verharrt der Kessel auf der tiefsten Position.

Weil im Gasometer kein Gas mehr gelagert wird, lässt sich im Innern ein acht Meter tiefes, kreisrundes Becken erkunden. Früher war es mit Wasser gefüllt, um den Behälter nach unten abzudichten. Im Winter wurde das Wasser mit Dampf enteist. Auch das Heizhäuschen gibt es noch.

Roger Strub ist stellvertretender kantonaler Denkmalpfleger und Mitglied der Stiftung, die für den Erhalt und Betrieb des Gasometers verantwortlich ist. Er sagt: «Der Gasometer in Schlieren ist einzigartig geworden.» Mit Backsteinen ummauerte Gasspeicher wie in Wien, in die Wohnungen hineingebaut wurden, bezeichnet er als blosse Hüllen. Die ursprüngliche Mechanik sei nicht mehr erhalten.

Aus Steinkohle wurde Gas

Der Schlieremer Gasspeicher stammt aus einer Zeit, als Zürich von einem Tag auf den anderen eine Grossstadt wurde. Das geschah am 1. Januar 1893. Damals wurden elf Vororte eingemeindet. Nicht mehr 28 000, sondern 121 000 Menschen benötigten fortan Trinkwasser und Strom. Es brauchte neue Infrastrukturanlagen.

Für das geplante Gaswerk schien ein Standort etwas ausserhalb der Stadt geeignet. Denn die Umwandlung von Steinkohle zu Koks und Gas war eine ziemlich schmutzige Angelegenheit. Schlieren war auch ideal, weil es einen Eisenbahnanschluss gab, um die Kohle anzuliefern. 1896 entstand dort unter der Leitung des Stadtbaumeisters Arnold Geiser die damals gesamtschweizerisch grösste Energieanlage.

Anfänglich brauchte man das Gas hauptsächlich für die Beleuchtung der Stadt. Erst danach wurde es zunehmend für das Kochen und Heizen verwendet. In den 1940er Jahren waren etwa 90 Prozent aller Haushalte der Stadt der Gasversorgung angeschlossen. Damals strebte man die Vollversorgung aus Eigenproduktion an.

1974 stellte die Stadt Zürich auf Erdgas um. Das Gaswerk wurde stillgelegt. Sämtliche Bauten der Anlage blieben auch nach der Schliessung bestehen. Bis zur Jahrtausendwende nutzte die Erdgas Zürich AG die insgesamt vier Gasometer weiterhin als Speicher. Dann riss sie drei davon ab. Den verbleibenden Gasspeicher verkaufte sie dem Kanton zu einem symbolischen Betrag von einem Franken.

Fortan ging es um Sein oder Nichtsein des denkmalgeschützten Industriedenkmals. Zunächst hatte man hochfliegende Pläne. Kanton und Heimatschutz investierten sechs Millionen Franken in die Sanierung. Ziel war es, nicht nur die Rostschäden zu beheben, sondern auch die Mechanik der Maschine erlebbar zu machen.

Mit Luft- statt mit Gasdruck liess sich dann der Behälter tatsächlich wieder hinauf- und hinunterfahren. Doch die Freude währte kurz. Schon bald wurde klar, dass das Wasserbecken undicht war und die neuen Beschichtungen bereits wieder abzublättern begannen. Das mit Licht effektvoll inszenierte Schauspiel liess sich nur während zweier Jahre mitverfolgen. 2007 stellte die Stiftung Gasometer den Betrieb des in Kleingruppen begehbaren Museums ein.

Lange blieb die Zukunft des Gasometers ungewiss. Aus Kostengründen begruben die Verantwortlichen schliesslich den Traum, den Gasometer wieder als bewegliche Maschine instand zu stellen. Derweil nagte der Rost weiter. Das nötigte die Stiftung, verschiedene Szenarien ernsthaft zu prüfen. Auch die Option eines kontrollierten Verfalls.

Das ganze Gaswerk gibt es noch

Als Jürg Conzett vor acht Jahren nach Schlieren reiste, um den Patienten unter die Lupe zu nehmen, war er zunächst beeindruckt von der Gesamtanlage. Das ehemalige Gaswerk mit all seinen Bauten ist im Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz. Dazu gehören eine Arbeitersiedlung, eine Direktorenvilla und zahlreiche Produktionsgebäude.

Erhalten sind ein Maschinenhaus mit einer funktionstüchtigen Sulzer-Dampfmaschine, ein Wasserturm und ein Apparatehaus. Darin wurde das aus der Steinkohle entwichene Gas von Fremdstoffen gereinigt, bevor es ins Netz abgegeben wurde. Und es gibt ein Uhren- und Reglerhaus. Darin mass man, wie viele Kubikmeter Gas erzeugt und in die Leitungen abgegeben wurden.

Verschwunden ist hingegen die Halle mit den Öfen, in denen die Steinkohle verbrannt wurde. Überlebt hat aber die riesige Halle, in der das Koks – ein weiteres Endprodukt des Verbrennungsprozesses – gelagert wurde. Und der Gasometer, das markante Sinnbild des historischen Ensembles. Für Conzett war dessen Rettung auch deshalb das Gebot der Stunde.

Seine Diagnose: Das eindringende Regenwasser ist die Ursache des Korrosionsproblems. Brennt die Sonne auf das Kesseldach, entwickelt sich im Innern Dampf, der die Metallkonstruktion beschädigt und Löcher ins dünne Blech der Glocke frisst. Regenwasser rinnt zudem durch den Ringspalt am unteren Rand der Glocke ins Innere.

Conzett konzipierte zunächst einen möglichst kleinen Schutzschirm über dem Dach der Kuppel. Als er den Vorschlag dem Denkmalpfleger Roger Strub präsentierte, fragte dieser: «Könnten Sie das Dach nicht so weit auskragen lassen, dass es die Übergangsstelle des Teleskops noch besser schützt?» Conzett staunte – sichtbare Eingriffe sind normalerweise bei Denkmalschützern verpönt.

Noch so gern nahm er den Ball auf und entwarf eine ausladende hölzerne Tragkonstruktion mit einem Durchmesser von 56,5 Metern. Darüber spannen sich Membrane aus Polyestergewebe. Trotz Schutzschirm ist das Bauwerk nicht vollständig gesichert. Laut Conzett könnten gewisse Korrosionsprozesse langsam weiterlaufen. Sie seien zu beobachten, um allenfalls darauf reagieren zu können. Der Ingenieur ist aber zuversichtlich, dass sich der Gasometer nun längerfristig erhalten lässt.

Die Zugänglichkeit wird ein Thema

Gibt es Pläne für ein Museum? Oder für eine Kulturstätte wie im Gasometer im deutschen Oberhausen? Der stellvertretende Denkmalpfleger winkt ab. Publikumsintensive Nutzungen seien undenkbar, sagt er. Derzeit sind nur an einzelnen Tagen pro Jahr Besichtigungen möglich. Im Rahmen von Open House Zürich oder am europäischen Tag des Denkmals. «Die Zugänglichkeit wird aber in der Stiftung ein Thema werden», sagt Strub.

In Zusammenarbeit mit dem Gasi-Museum, das sich im ehemaligen Maschinenhaus befindet, lasse sich die Öffnung bestimmt «etwas intensivieren». Aus sicherheitstechnischen Gründen seien aber auch künftig grosse Personengruppen keine Option. «Veranstaltungen mit 200 Leuten sind wegen fehlender Fluchtwege nicht möglich.» Gleichwohl schliesst Strub kulturelle Nutzungen nicht aus. «Künstlerische Interventionen wie etwa die Produktion von Videos, die sich reproduzieren lassen, sollen im Gaskessel wie früher weiterhin möglich sein.»

Trotz feuerpolizeilichen Auflagen sieht Conzett mehr Potenzial. «Aber die Zeit ist noch nicht reif», sagt er. Und selbst wenn nichts passiert, hat sich seines Erachtens der Aufwand gelohnt: «Auch ein leeres Bauwerk hat einen Sinn.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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