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Der Spitzturm von Notre-Dame steigt wieder in den Pariser Himmel
Neue Zürcher Zeitung

Vier Jahre nach dem Brand der Kathedrale sind die Restaurierungsarbeiten an einem symbolischen Punkt angelangt. Auch der Termin für die Wiedereröffnung steht fest: Es ist der 8. Dezember 2024 gesetzt. Diese Wette ist aber noch nicht gewonnen.

16. April 2023 - Nina Belz
An einem Donnerstag Mitte März rutscht Frankreich in eine institutionelle Krise. Die Premierministerin drückt die vom Präsidenten geplante Rentenreform ohne Abstimmung durch das Parlament – und verärgert damit nicht nur die Opposition, sondern viele Französinnen und Franzosen. Sie werfen der Regierung und dem Präsidenten vor, sich der Demokratie zu verweigern. In der Nacht werden in mehreren grossen Städten Autos und Mülleimer brennen.

Gleichentags wird im Nordosten des Landes, in einem Dorf eine gute halbe Stunde von Metz entfernt, ein Teil des französischen Selbstverständnisses wieder aufgebaut. Im Hinterhof des Dachbauunternehmens Le Bras Frères in Val de Briey sind acht Männer mithilfe von Hebebühnen und Kränen dabei, den Sockel des Spitzturms der Kathedrale von Notre-Dame zusammenzusetzen. Er war beim Brand am 15. April 2019 in Flammen aufgegangen, abgebrochen und zusammengestürzt. Es waren Bilder, die sich in die Erinnerung vieler Augenzeugen eingebrannt haben und durch die Presse um die Welt gingen.

Der Schock wich bald der Kreativität. Der Wiederaufbau und insbesondere die Form des Spitzturms regten die Phantasie von Architekten an: Sollte er künftig ganz aus Glas oder Metall sein, viel höher werden oder von Pflanzen umrankt werden?

Der französische Präsident setzte dem Spintisieren ein abruptes Ende, als er im Sommer 2020 beschloss, dass Notre-Dame wieder so aussehen sollte wie vor dem Brand. Der Spitzturm würde also wieder knapp 66 Meter hoch. Sein Gerippe besteht aus Eichenholz, verziert wird er mit Statuen aus Kupfer und vor allem mit Blei, und auf seiner Spitze wird ein Hahn sitzen. So hatte es der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert ersonnen und bauen lassen.

Bis Ende dieses Jahres wird das Markenzeichen der Kathedrale nach und nach wieder in den Pariser Himmel wachsen. Sein Fundament wird in Val de Briey nun zum ersten Mal zusammengebaut, und dieses ist allein schon monumental: Der Sockel des Spitzturms ist 16 Meter hoch und misst 15 auf 13 Meter.

Die Schlacht von Notre-Dame

Die Männer auf der Hebebühne montieren die allerletzten Elemente der insgesamt 110 Teile. Es ist ein symbolischer Schritt, zu dem nicht nur die Presse eingeladen worden ist. Architekten, Planer und andere für den Wiederaufbau verantwortliche Personen sind dafür eigens aus der Hauptstadt in einem Bus angereist. Und auch der Präfekt sowie einige Lokalpolitiker sind zugegen.

Als Erstes ergreift der General das Wort. Es fehlt ihm nicht an Pathos. Jean-Louis Georgelin war einmal Generalstabschef der französischen Armee. In den Tagen nach dem Brand der Pariser Kathedrale wurde er von Präsident Macron mit der Aufsicht der Restaurierungsarbeiten betraut.

Diese sind, in den Worten Georgelins, eine Schlacht, die es zu gewinnen gilt, und zwar bis im kommenden Jahr. «Das Image Frankreichs hängt im nächsten Jahr von zwei Ereignissen ab: den Olympischen Spielen und der Wiedereröffnung von Notre-Dame», sagt er. Die hier demonstrierte Handwerkskunst werde entscheidend dazu beitragen, diese Schlacht zu gewinnen. Das Publikum klatscht, die Zimmerleute rund um den Sockel lächeln etwas verlegen.

Aurélien Duclos steht mit ein paar Kollegen etwas im Hintergrund und beobachtet das Geschehen. Der 41-Jährige sieht gerade ebenfalls zum ersten Mal, was er und seine rund vierzig Kollegen in den vergangenen sechs Monaten geschaffen haben. Sie haben ihre Zeit vor allem in der riesigen Fertigungshalle in Duclos’ Rücken verbracht.

Auf diesen 8000 Quadratmetern kümmern sich Angestellte von drei Dachbauunternehmen aus dem ganzen Land allein um den Spitzturm. Die Tage sind lang, aber ihre besondere Aufgabe motiviert die Männer (Frauen gibt es in diesem Team nicht). Manche sind nur für einige Wochen oder Monate hier, andere wie Duclos begleiten den Spitzturm bis zu seiner Montage in Paris.

Ein aussergewöhnliches Exemplar

Der aus der Mayenne stammende Zimmermann ist seit dem vergangenen Juli dabei, also noch bevor es an die konkreten Arbeiten ging. Er hat zunächst vor allem Pläne studiert und Modelle gebaut. Dann hat er das nach und nach angelieferte Holz auf seine Beschaffenheit untersucht. Etwa 2000 Eichen wurden für den Dachstock und den Spitzturm im ganzen Land gefällt, zum Teil auch auf privatem Grund.

Sie kamen bereits nummeriert und für ihre Dienste bestimmt in Val de Briey an. Duclos hat sie zugeschnitten und auf den Millimeter genau angepasst, damit sie auch ohne Schrauben ineinander halten. Und er hat immer wieder Pläne studiert. «Ich habe die Baustelle etwas unterschätzt», sagt er lächelnd. «Ich dachte zuerst: Ja, das ist halt ein Spitzturm. Aber es ist doch ein aussergewöhnliches Exemplar.»

Duclos gehört zu den Besten seines Faches im Land. Er hat Dächer von bekannten Loire-Schlössern repariert, jene der Grande Écurie im Schloss Versailles und so manchen Glockenturm von alten Kirchen. Noch nie aber war er so lange ohne Pause für eine Baustelle abbestellt. Sie erlaubt ihm, Techniken wieder zu praktizieren, die man in der Ausbildung zum Zimmermann zwar lernt, aber im Alltag selten anwendet. «Ich lerne hier auch immer noch sehr viel», sagt er.

Die Hauptprobe für den Sockelaufbau haben die Zimmerleute mit einer kleinen Verzögerung, aber dennoch mit Bravour gemeistert. Nach einer Reihe von weiteren Reden wird ihnen applaudiert. Duclos und seine Kollegen dürfen auf das Gruppenbild: lächeln mit dem General, dem Chefarchitekten, den Politikern und den Firmenchefs. Danach wird in der Halle Champagner und Bier serviert.

Ein nationaler Mythos

Nicht alle Arbeiter lassen sich davon verführen. Im Hintergrund wird weiter gehämmert, zum Beispiel an einem Dachbinder, der den Spitzturm mit dem Querschiff verbinden wird. Denn an dem, was der General auf dem Hof in nicht ganz ernstem Ton sagte, ist etwas dran: Die «Schlacht um Notre-Dame» ist noch nicht gewonnen. Sie ist vor allem ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Kathedrale soll am Vormittag des 8. Dezember 2024 wiedereröffnet werden.

Das ist zwar nach dem Ende der Olympischen Spiele, die im Sommer 2024 in der französischen Hauptstadt stattfinden werden. Aber es ist ein Datum, das es knapp noch erlauben würde, das Versprechen des Präsidenten einzulösen. Emmanuel Macron hatte noch in der Unglücksnacht gesagt, dass Notre-Dame innerhalb von fünf Jahren wiedereröffnet werde.

Die Pandemie hatte dieses Ziel zunächst in die Ferne rücken lassen. Aber nicht nur die Ausgangssperren und Lieferengpässe verkomplizierten die Lage. Schon zuvor war in und im Umfeld der Kathedrale eine erhöhte Bleikonzentration festgestellt worden. Umfangreiche Abklärungen erforderten einen Arbeitsstopp von mehreren Wochen. Bis heute haben alle, die die Baustelle betreten, ein aufwendiges Sicherheitsprotokoll zu befolgen. Trotz Schutzkleidung müssen die derzeit rund 400 Arbeiter vor jedem Austritt duschen, selbst am Mittag, wenn sie essen gehen.

Seit bald zwei Jahren wird auf der Baustelle im Zentrum der französischen Hauptstadt allerdings nicht mehr aufgeräumt, sondern gebaut und restauriert. Inzwischen ist das ganze Kirchenschiff eingerüstet, mehrere Kräne hieven abwechslungsweise Material, Steinblöcke oder Teile des Dachstuhls auf die Baustelle.

Beim Brand waren neben dem Spitzturm vor allem das Dach des Schiffs sowie der Nordturm in Mitleidenschaft gezogen worden. Doch auch die Wandmalereien, 22 Gemälde, 3000 Quadratmeter Glasfenster und fast 2000 Skulpturen müssen zumindest gereinigt werden. Gleiches gilt für die monumentale Orgel. Mit knapp 8000 Pfeifen ist sie eine der zwei grössten Frankreichs. Sie wurde demontiert und zur Reinigung in drei Ateliers im Süden des Landes gegeben. Überhaupt: Etwas mehr als die Hälfte der rund tausend Personen, die derzeit handwerklich mit der Restaurierung und dem Wiederaufbau der Kathedrale beschäftigt sind, sind nicht auf der Baustelle anzutreffen.

Sie arbeiten in ihren Werkstätten und Ateliers, die über das ganze Land verteilt sind. Nur ein einziges ausländisches Unternehmen – ein Glasmacher aus Köln – ist an der Baustelle beteiligt. Man habe die Aufträge EU-konform ausgeschrieben, die besten Angebote aber eben doch in Frankreich gefunden, heisst es.

Das passt perfekt in die Erzählung, die in Frankreich um den Wiederaufbau von Notre-Dame gesponnen wird. Die besten Handwerker im Land arbeiten auf die Wiedererstehung eines Monuments hin. Sie verarbeiten nur französisches Holz und Steine aus den Steinbrüchen im Norden von Paris. Frankreich baut ein Stück Frankreich wieder auf. Und ein General überwacht den Zeitplan.

Die Anziehungskraft ist ungebrochen

Notre-Dame war vor dem Brand die meistbesuchte Sehenswürdigkeit in der französischen Hauptstadt. Und selbst eingezäunt hat die Kathedrale eine grosse Anziehungskraft. Menschen posieren, fotografieren und staunen jeden Tag und bei jedem Wetter auf den Brücken in der näheren Umgebung. Die Souvenirverkäufer und die mobilen Verpflegungsstände sind ebenfalls zurück. Seit der Pont au Double wieder zugänglich ist, können sich Fussgänger der Kathedrale von Süden her nähern und direkt auf den Vorplatz gelangen. Dort steht seit einigen Wochen eine hölzerne Tribüne, die einen Blick über den Bauzaun und auf die unbeschädigte Fassade ermöglicht. An schönen Tagen ist dort bisweilen kein Platz mehr frei.

Hinter den beiden Glockentürmen hievt einer der Kräne grosse Holzbalken in die Höhe. Dann lässt er sie sorgsam in die Öffnung in der Mitte des Daches gleiten, aus der in ein paar Monaten der Spitzturm nach und nach in die Höhe wachsen wird. Was die Zimmerer knapp einen Monat zuvor in Val de Briey getestet haben, wird nun montiert, um ein paar weitere Jahrhunderte zu überdauern. Die Montage des Sockels soll bis zum 15. April abgeschlossen sein – zum vierten Jahrestag des Brandes.

Aurélien Duclos ist nicht auf der Pariser Baustelle, noch nicht. Er hofft, dass er zum Zug kommt, wenn die letzte Etappe des Spitzturms aufgebaut wird. Wenn in der Schlacht alles nach Plan verläuft, ist es Ende dieses Jahres so weit.
Zwei Ausstellungen dokumentieren in Paris den Wiederaufbau von Notre-Dame. Die «Cité de l’Architecture et du Patrimoine» blickt auf die lange Baugeschichte der Kathedrale zurück und bietet den bereits restaurierten Gemälden und Skulpturen, aber auch dem aus den Trümmern geretteten Wetterhahn ein vorübergehendes Zuhause (bis zum 29. April 2024). Die Ausstellung «Notre-Dame de Paris – au cœur du chantier» befindet sich unter dem Vorplatz der Kathedrale auf der `Île de la Cité und beleuchtet vor allem die Handwerkskünste sowie alle weiteren Berufe, die in den Wiederaufbau involviert sind. Eintritt frei.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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