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«Ist der Mensch näher verwandt mit einer Erdnuss oder einer Qualle?»
Neue Zürcher Zeitung

In der Höhle der Ameisen: Der neue Anbau des Naturhistorischen Museums in Manhattan bietet seinen kleinsten Lebewesen den spektakulärsten Raum.

6. Juni 2023 - Susanna Petrin
Gegen eine halbe Million Ameisen schleppen Blattstücke, die ihr Körpergewicht um ein Mehrfaches übersteigen, entlang meterlangen Aluminiumbahnen, erklimmen hundertprozentige Steigungen, hangeln sich über Wassergräben, krabbeln schliesslich über den Köpfen der Zuschauer durch einen Tunnel auf die andere Seite, hinein in durchsichtige Glaskugeln, wo sie Pilze kultivieren. Die Blattschneiderameisen-Kolonie, die da ihr Handwerk vorführt, ist eine Hauptattraktion im neu eröffneten Anbau des American Museum of Natural History in New York, eines der grössten und – spätestens seit dem Film «Nachts im Museum» – bekanntesten Naturkundemuseen der Welt.

Wie Ameisen laufen hier auch die Menschen durch eine vier Stockwerke hohe Höhle. Das Architekturbüro Studio Gang hat mit Spritzbeton ein riesiges Atrium kreiert, das aussieht wie eine über Jahrtausende von Wind und Wasser geformte Felsenschlucht. Im Zentrum des 22 000 Quadratmeter grossen Gebäudes sind viel Licht und Luft sowie eine breite Treppe zum Steigen und Sitzen; die Ausstellungsräume befinden sich an den Rändern. «Wir haben uns zur Inspiration natürliche Landschaften in den westlichen Canyons der USA angesehen», sagt Anika Schwarzwald, Architektin bei Studio Gang: «Über die Erkundung dieses Raums möchten wir die Faszination dafür wecken, wie die natürliche Welt funktioniert.»

Das Gebäude der amerikanischen Architektin Jeanne Gang von Studio Gang mit seinen wellenden Wänden und langgezogenen Fenstern erinnert von aussen an jene der Pritzkerpreis-gekrönten Architektin Zaha Hadid. Ein neuer Hintereingang öffnet sich via ein freundliches Stück Park Richtung Columbus Avenue. Mit dem viel älteren Vordereingang teilt die Fassade das Material: rosa Milford-Granit aus Massachusetts. 465 Millionen Dollar hat der Anbau mit dem komplizierten Gönnernamen «Richard-Gilder-Zentrum für Wissenschaft, Bildung und Innovation» nach vier Jahren Bauverzögerung gekostet – 140 Millionen Dollar mehr als ursprünglich geplant.

Neben den Ausstellungsräumen beherbergt der Bau Klassenzimmer, ein Restaurant, zusätzlichen Stauraum für 4 seiner 34 Millionen Archivobjekte sowie eine Bibliothek samt öffentlich zugänglichen Arbeitsplätzen. Etwas versteckt lagern dort die Originaltagebücher von Darwin, und ganz offen, aber anonym, ist ein Schmetterling des Künstlers Banksy ausgestellt. Hier steht «artist unknown», aber ja, «er ist von Banksy», flüstert Lauri Halderman, die Vizepräsidentin für Ausstellungen.
Lebendige Exponate

Während das Naturhistorische Museum bisher vor allem mit Grossem lockte – den Sauriern, einem Blauwal, dem Universum –, will es nun im neusten Teil auch mit Kleinem bezaubern – Ameisen, Käfern, Plankton, Genen. Insekten gibt es hier nicht nur hundertfach aufgespiesst zu sehen, sondern wie im Film «Nachts im Museum» sind viele der Exponate lebendig. Auch tagsüber. Darunter sogar jene Tiere, die den New Yorkern besonders vertraut und verhasst sind: Schaben. Auf den Ekel folgt die Faszination: Denn die südamerikanischen Verwandten haben schöne, schwarz-weisse Muster oder sind von zartem, fast durchsichtigem Beige.

Makrofotografien an den Wänden oder Lupen über Schaukästen lassen genauer erkennen, welch sonderbare Wesen Insekten doch sind. Und in Kursen, die das Museum nun auch in den neuen Klassenzimmern im neuen Anbau anbietet, dürfen Kinder die Viecher sogar berühren. «Wir haben darüber nachgedacht, wie wir den Menschen, vor allem jüngeren, helfen können, Insekten anders zu sehen», sagt Lauri Halderman: «Die Leute müssen die Insekten nach dem Besuch bei uns nicht lieben, aber wir hoffen, dass sie besser verstehen, was diese Tiere tun, und dass sie wichtig sind. Und wenn sie das nächste Mal ein Insekt sehen, ist ihre erste Reaktion vielleicht nicht, auf sie zu treten.»

Die beim Menschen wohl beliebtesten Insekten, die Schmetterlinge, haben ihr eigenes Vivarium. Zu Hunderten flattern 80 Unterarten im warm-feuchten Pseudodschungel; sie setzen sich gerne auf Pflanzen, den Boden und die farbigen T-Shirts der Besucher. In einem Glaskasten kann man ihnen sogar bei der Verwandlung von der Puppe zum Schmetterling zusehen.

Und da, wo im Museum gerade nichts kriecht oder fleucht, laden interaktive Bildschirme zu Quizspielen ein. Die visuell überwältigende Filmshow «Invisible Worlds» lässt sich mit den Füssen beeinflussen, denn die 360-Grad-Projektion umfasst auch den Boden und reagiert dort wiederum auf Bewegungen. Die Zuschauer können auf Körperzellen stampfen oder mit einem Tritt fliegende Vogelzüge umleiten.

Die Hauptbotschaft des Hauses ist nicht neu, wird aber immer wieder vermittelt: Alles ist mit allem verbunden. Wir Lebewesen teilen Gensequenzen, Verwandte und Ökosysteme. Wir haben alle gemeinsame Vorfahren, auch wenn das manchmal ein paar hundert Millionen Jahre her ist. «Ist der Mensch näher verwandt mit einer Erdnuss oder einer Qualle?» lautet eine der Quizfragen. Affen sind uns am nächsten, aber verwandt sind wir am Ende sogar mit den Schaben. Ein anderes Spiel vermittelt, wie eine Intervention in einem Ökosystem Folgen für ein Hunderte von Kilometern entferntes Ökosystem haben kann – zum Beispiel wegen der Migrationsroute gewisser Tiere.

Wissenschaftskrise

Gerade heute, gerade in den USA brauche es ein attraktives naturhistorisches Museum, das Kontexte aufzeige, finden die Museumsleute. «In diesem Land gibt es eine Art Wissenschafts- und Bildungskrise, viele Menschen glauben den Fakten nicht mehr», sagt die Architektin Anika Schwarzwald. Und die Ausstellungsvizedirektorin Halderman ergänzt: «Es scheint einen Trend zu geben, wissenschaftlich geführten Beweisen nicht folgen zu können. Wir versuchen, den Menschen zu helfen, die Wissenschaft zu verstehen.»

Ein paar wenige der emsig krabbelnden Blattschneiderameisen landen auch im Wassergraben. Und ertrinken. Ist das ethisch vertretbar? Das Wasser war nicht als Falle vorgesehen. Aber die Ameisen würden täglich lernen, ihren Weg zu optimieren, sie würden Pheromonspuren legen und so ihren Nachfolgern helfen. «Sie arbeiten so hart», sagt eine Besucherin. Und das im Museum. Tag und Nacht.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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