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Die Vision der Smart City
Der Standard

Künstliche Intelligenz wird die Planung und Taktung von Städten verändern. Autonom fahrende Autos könnten sich ans Zeitmanagement der Passagiere anpassen. Das würde Parkplätze sparen und neuen Platz für Wohn- und Grünräume schaffen. Doch die KI-gesteuerte Stadt bringt nicht nur Vorteile.

16. Juni 2023 - Adrian Lobe
Als im 19. Jahrhundert die ersten Telefonanschlüsse installiert wurden, gab es Befürchtungen, dass sich die Opernhäuser und Kirchen leeren könnten, da die Musik via Telefonleitung live in die Wohnstuben übertragen würde. „Kein Mensch, der in seiner eigenen Stube mit seinem Telefon an der Seite sitzen und so der Vorführung einer Oper an der Academy lauschen kann, wird sich die Mühe machen, in die 14th Street zu gehen und den Abend in einem schwülheißen und überfüllten Gebäude verbringen“, prophezeite die New York Times in einem Artikel vom 22. März 1876. „Genauso werden viele Leute es vorziehen, Vorlesungen und Predigten in der komfortablen Privatsphäre ihrer eigenen vier Wände anzuhören, statt in die Kirche oder in den Hörsaal zu gehen.“

Man könnte das rückblickend als Vision einer Welt im Lockdown deuten, wo Konzerte und Vorlesungen live im Internet gestreamt wurden. Doch die Corona-Pandemie war ein Ausnahmezustand, die Prognose der Zeitung eine Fehleinschätzung. Die Konzertsäle sind heute wie damals voll – trotz Telefons, trotz Internets.

Die raumtechnische Veränderung kam durch eine andere Erfindung: Strom. Als in den 1880er-Jahren Glühbirnen die funzeligen und stinkenden Gaslampen ersetzten und Gebäude und Straßen in elektrischem Kunstlicht erstrahlten, wurden auch solche Gegenden begehbar, in denen sich nächtens nur Ganoven und Halunken herumgetrieben hatten.

KI ist der neue Strom

Elektrizität erlaubte auch in der Industrie eine ganz andere Raumnutzung: Mussten vorher Geräte nahe an der Dampfmaschine platziert werden, konnte die Energie fortan in die Fläche geleitet werden und auch weiter entfernte Maschinen antreiben. Ohne Strom hätte es keine Serienproduktion bei Ford gegeben, keine U-Bahnen, keine Klimaanlagen, keine Aufzüge, die wiederum die Voraussetzung für Hochhäuser waren.

So gesehen war Strom ein doppelter Treiber der Urbanisierung: Einerseits entstand durch die Beleuchtung ein produktives und sichereres Nachtleben. Andererseits sorgte die Elektrifizierung von Verkehrsmitteln für Mobilität und Verdichtung. Künstliche Intelligenz, die der Informatiker Andrew Ng als „neuen Strom“ bezeichnete, könnte die Städte nun abermals verändern.

Robotertaxis auf Abruf

Schon heute wird der Raum algorithmisch vorgespurt. Algorithmen empfehlen Bars, Cafés und Restaurants, und Navigationsdienste lotsen einen so zielstrebig von A nach B, dass man fast die Umgebung ausblendet. Wenn künftig autonome Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein werden, könnten auch Parkflächen ganz anders genutzt werden. KI-gesteuerte und elektrisch betriebene Robotertaxis, die aus den Routinen und Gewohnheiten der Fahrgäste lernen, könnten als lose aneinandergereihte Wagons wie eine Art Shuttle rund um die Uhr in der Stadt verkehren und Passagiere just in time dort abliefern, wo sie aussteigen wollen.

Wenn das smarte Haus feststellt, dass der Bewohner jeden Morgen um acht Uhr das Haus verlässt, um zu seinem Arbeitsplatz zu fahren, könnte ein Roboterfahrzeug die Person abholen und noch drei weitere auf dem Weg einsammeln, um später, nachdem die Gäste an ihrem Zielort abgesetzt wurden, einen älteren Menschen vom Arzt abholen – wie ein Ruf-Taxi, nur dass der Computer schon weiß, wo man sich aufhält und das Auto proaktiv den Zielort ansteuert.

Teure Parkplätze oder Parkhäuser bräuchte es nicht mehr, weil die Fahrzeuge im laufenden Verkehr „geparkt“ würden und bei geringer Auslastung Warteschleifen in der Peripherie drehen. Mit der algorithmischen Regulierung des Verkehrs ließe sich eines der drängendsten urbanen Probleme lösen: Platznot. Parkhäuser versiegeln große Teile von Städten, und das, obwohl sie häufig gar nicht voll belegt sind. Allein in den Vereinigten Staaten verbrauchen Parkhäuser fünf Prozent der Stadtfläche.

Wenn diese Flächen nun frei würden, könnte Platz für dringend benötigten Wohnraum entstehen. Schon heute platzen Städte aus allen Nähten, sind Wohnflächen rar und die Möglichkeiten der Nachverdichtung begrenzt. Statt Schlafstätten für SUVs könnte man Parkhäuser zu Wohnungen oder Co-Working-Spaces umwidmen. Konzepte dafür gibt es bereits.

Digitale Technologien besitzen die für die Stadtentwicklung günstige Eigenschaft, dass sie Räume absorbieren. Telefonzellen zum Beispiel sind mit dem Siegeszug von Mobiltelefonen fast vollständig aus dem Stadtbild verschwunden, genauso wie Parkuhren. Auch Geldautomaten werden überflüssig, wenn fast alle bargeldlos bezahlen. „Software frisst die Welt“, prophezeite schon vor Jahren der Internetpionier Marc Andreessen.

Besseres Zeitmanagement

Disruption produziert aber auch Verlierer. Die Ökonomen Ajay Agrawal, Joshua Gans und Avi Goldfarb schreiben in ihrem Buch Power and Prediction dass die immer besser werdende Prognosefähigkeit von KI-Systemen das Geschäftsmodell von Flughäfen bedrohe.

Der Grund: Passagiere reisen in der Annahme langer Wartezeiten bei der Gepäckabgabe und Sicherheitskontrolle früher an und verbringen die Zeit dann mit Konsum: Essen, Trinken, Shoppen, solche Dinge. „Versteckte Unsicherheit“ nennen das die Autoren. Wenn jedoch Apps auf Basis von Echtzeitdaten die genaue Wartezeit prognostizierten, würde diese Unsicherheit reduziert.

Fluggäste müssten nicht mehr so lange warten und würden ergo weniger Zeit mit Konsum verbringen. Und das wiederum würde Geschäften schaden, die kein Interesse an reibungslosen Abläufen haben.

In Saudi-Arabien wird derzeit die Retortenstadt The Line aus dem Wüstenboden gestampft: eine 170 Kilometer lange Schlauchstadt, deren Transportsystem ganz ohne Wartezeit auskommen soll. Die mit Sensoren und Kameras vollgestopfte Smart City sammelt laufend Daten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und sagt die Nutzung von Verkehrsmitteln voraus.

Die Kulturtechnik des Wartens könnte in den datengetriebenen vollvernetzten Städten von morgen obsolet werden: Das Badezimmer ist schon vorgewärmt, wenn man aus dem Bett steigt, der Aufzug bereits da, wenn man davor steht, und das Paket schon unterwegs, bevor man auf den Bestellknopf gedrückt hat. Alles läuft wie in einer gut geölten Maschine.

Mit der Kybernetisierung des Alltags könnten auch Wartesäle und Wartehallen verschwinden. Wer zieht noch eine Nummer und setzt sich ins Wartezimmer einer Amtsstube, wenn Behördengänge digital erledigt werden können? Wer schlendert noch durch Bahnhofs- oder Flughafenhallen, wenn er kaum noch auf seinen Flieger oder Zug warten muss?
Nie mehr warten

Das ziellose Umherstromern im urbanen Raum könnte bald der Vergangenheit angehören. KI-Systeme, die auf Nutzenmaximierung programmiert sind, machen das Stadterlebnis zielorientierter, stromlinienförmig und vielleicht auch langweiliger.

Zufällige Begegnungen werden seltener, wenn Interaktionen im Vorfeld berechnet werden. Das muss nicht per se negativ sein, denn an Orten, wo Menschen lange warten, wie etwa Bushaltestellen, lauern Gefahren. Wenn künftig Frauen und Kinder nicht mehr allein Dunkeln gehen müssen, weil sie ein öffentliches Robotertaxi nach Hause bringt, würde das Städte nicht nur sicherer, sondern auch demokratischer machen.

Stadtplaner müssen sich allerdings neue Raumnutzungskonzepte überlegen, sonst drohen Leerstand und Verödung. Auch die Werbeindustrie muss sich Gedanken machen, wie sie Menschen im öffentlichen Raum erreicht, die dort immer weniger verweilen.

Dass sich aber Hörsäle und Opernhäusern leeren, steht einstweilen nicht zu befürchten.

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