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Der Kampf um die Straße
Der Standard

Immer mehr Großstädte verbannen Autos von den Straßen – zumindest probeweise. So will man die Auswirkungen des Verkehrs auf die Lebensqualität untersuchen und alternative Konzepte austesten. Die temporären Sperren erhitzen jedoch die Gemüter, es fliegen nicht nur die Fetzen.

25. August 2023 - Theresa Scharmer
In Weiß, Pink, Rot und Violett ragen die Blumen aus ihren Töpfen auf die Fahrbahn. Es sind viele kleine Farbtupfer im sonst so farblosen Stadtbild. Zu Hunderten stehen die Blumenkästen auf der Straße, verteilt zwischen Verkehrsschildern und rot-weiß gestreiften Absperrbaken, vollkommen ungestört. Dafür sorgt ein großes Schild: „Weesperstraat in Richtung Visserplein geschlossen, hier umdrehen“. Und tatsächlich: Weit und breit ist kein Auto auf der mehrspurigen Fahrbahn zu sehen.

Es war ein ungewöhnliches Bild, das sich in den vergangenen Monaten in Amsterdam bot. 27.000 Autos täglich rollen normalerweise über die Weesperstraat durch das Zentrum der niederländischen Hauptstadt. Nicht so vom 12. Juni bis zum 23. Juli: Zwischen sechs Uhr früh und 23 Uhr abends war die Weesperstraat für den Autoverkehr gesperrt, Einsatzfahrzeuge ausgenommen.

Neben den Blumenkästen sollten auch Schranken verhindern, dass die Menschen das Fahrverbot umgehen. In der Mitte der Weesperstraat wurde ein kleiner Pavillon mit Kunstrasen und Picknicktischen errichtet. Anrainer konnten die Fläche für gemeinsame Veranstaltungen nutzen – und bekamen so einen Eindruck, wie eine mögliche Neugestaltung der Gegend aussehen könnte. Neben der Weesperstraat wurden auch drei Querstraßen blockiert, um zu verhindern, dass sich der Verkehr in die angrenzenden Wohngebiete verlagert.

Reaktionen sind gespalten

Dass Straßen für den Autoverkehr gesperrt werden und zu Fußgängerzonen, Fahrradwegen oder Parks werden, ist in der Radstadt Amsterdam nichts Neues. Mit der Weesperstraat ist nun aber eine der zentralen Verkehrsadern Amsterdams betroffen. Im Pilotversuch möchte die Stadt die Auswirkungen auf Verkehr, Lärm, Sicherheit und Luftqualität untersuchen. Vor allem für die Anrainerinnen und Anrainer erhofft man sich eine Entlastung: 70 Prozent der Haushalte im Bezirk Nieuwmarkt sind autofrei, aber trotzdem unmittelbar vom Verkehr betroffen. Nicht zuletzt macht die temporäre Sperre auch sichtbar, wie viel Platz der Autoverkehr in der Stadt einnimmt.

Unumstritten war die Blockade der Weesperstraat, welche jahrelang von der Stadt vorbereitet wurde, jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Straßensperre wurde während der sechswöchigen Testphase zum Politikum. Mehrmals musste Verkehrsstadträtin Melanie van der Horst von den liberalen Democraten 66 ausrücken und das Projekt verteidigen. Anfang Juli wurde sogar eine Dringlichkeitsdebatte im Stadtrat einberufen, ein vorzeitiger Abbruch der Testphase stand im Raum.

Besonders die Bewohnerinnen und Bewohner im Norden der Stadt beklagten, dass es durch die Blockade – in Kombination mit anderen Baustellen und Straßensperren – teilweise unmöglich geworden sei, zur eigenen Wohnung zu gelangen. „Wie ist es möglich, dass die Interessen der Bewohner so schlecht vertreten werden? Es kann nicht anders sein, als dass es von Beamten ausgedacht wurde, die selbst nicht im Zentrum wohnen“, beklagte sich eine Anwohnerin in der Tageszeitung Het Parool. Für andere geht die Maßnahme nicht weit genug. „Die gesamte Stadt soll für Autos, die dort nichts zu suchen haben, gesperrt werden. Deren Fahrer können auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Was dann bleibt, ist ein sauberer, frischer und lebenswerter Ort für alle“, meint eine Anrainerin.

„Jetzt herrscht Krieg“

Für Aufregung sorgt derzeit auch ein ähnliches Projekt in München. 300 Meter der Kolumbusstraße im Stadtteil Au sind dort vier Monate lang für den Autoverkehr blockiert. Die Sperre ist Teil des Projekts Autoreduzierte Quartiere (AQT) der Technischen Universität München, das alternative Verkehrskonzepte testet. Anstelle der Straße befinden sich Hochbeete, Rollrasen und Sandkästen zum Spielen. Auch 40 Parkplätze sind vorübergehend weg, dafür gibt es E-Autos und Lastenfahrräder zum Ausleihen.

Während vor allem Familien mit Kindern den Garten und die Spielfläche genießen, beklagen sich andere über die Lautstärke und den Dreck. Die Situation sei unmöglich, es sei eine „Unverschämtheit, einen Sandplatz mit 40 lärmenden Kindern einen Meter vor das Schlafzimmer zu setzen“, sagt eine Anwohnerin im ZDF. Das soziale Klima habe merklich gelitten, Befürworterinnen und Gegner würden sich nur mehr anbrüllen. Eine Bewohnerin meint: „Jetzt herrscht Krieg.“ Beim Aufbau der Hochbeete und Sandkästen habe sogar jemand mit Eiern geworfen, berichtet eine weitere Frau der Taz.
Kritik erwünscht

Er könne den Ärger der Menschen verstehen, sagt auch Oliver May-Beckmann, einer der Projektleiter der TU München. Man müsse jedoch auch bedenken, dass zwei Drittel der Anwohnerinnen und Anwohner kein Auto besitzen: „Sie können den öffentlichen Raum auf einmal für sich nutzen. Und das sind die Veränderungsprozesse, über die wir sprechen. Nicht über Wegnehmen und Geben, sondern: Wie verhandeln wir als Gemeinschaft Gemeinschaftsgut aus?“ Alle zwei Wochen treten die Projektleiter im Rahmen einer Bürgersprechstunde mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in Austausch – Kritik sei explizit erwünscht. Auf diese Weise wolle man von den Anregungen lernen.

Während in München die Testphase noch bis Ende Oktober läuft, ist das Pilotprojekt in Amsterdam bereits abgeschlossen. Aktuell werden die Daten ausgewertet und Gespräche mit den Anwohnern und ansässigen Unternehmen geführt. Die Ergebnisse sollen im Herbst im Stadtrat präsentiert und dann über die Zukunft der Weesperstraat entschieden werden. Doch egal, wie das Ergebnis am Ende ausfallen wird: Die Veränderungen im Straßenraum werden wohl nicht ohne weitere Diskussionen vonstattengehen.

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