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Die Villa als Gesamtkunstwerk
Neue Zürcher Zeitung

Arbeiten der Union des Artistes Modernes in Hyères

Die Villa Noailles in Hyères, ein surrealistisch angehauchtes Meisterwerk des Architekten Robert Mallet-Stevens, zeigt gegenwärtig eine repräsentative Auswahl von Arbeiten der Mitglieder der Union des Artistes Modernes aus den dreissiger Jahren. Als Spiegel einer grossbürgerlichen Kultur vereinen die Exponate die Eleganz des Art déco mit dem Zukunftsglauben der Moderne.

10. August 1999 - Hans Hartje
Nur selten dürften bei einer Retrospektive die Exponate so gut zum Ort passen wie bei der gegenwärtigen Ausstellung in der Villa Noailles, die Robert Mallet-Stevens in den Jahren 1924-33 für die Mäzene Charles und Marie-Laure de Noailles hoch über Hyères an der französischen Riviera errichtete. In jenen Jahren, genauer von 1929 bis 1939, war Mallet-Stevens auch der erste Präsident der von Charlotte Perriand, René Herbst, Francis Jourdain, Jacques Le Chevallier, Jean Fouquet, Gérard Sandoz, Jean Puiforçat und Hélène Henry ins Leben gerufenen Union des Artistes Modernes (UAM). Die Gruppe, zu der in den folgenden Jahren auch noch bildende Künstler wie Fernand Léger und Sonia Delaunay, Architekten wie Le Corbusier, Ingenieure wie Jean Prouvé und Photographinnen wie Florence Henri stiessen, hatte die Herausbildung einer «radikal sozialen Kunst» auf ihre Fahnen geschrieben. Diese «Synthèse des arts» setzte auf die Zusammenarbeit der verschiedensten Künstler vom Juwelier bis zum Stadtplaner, mit dem Ziel, die neuesten Erkenntnisse von Wissenschaft und Technik in allen Bereichen der Ästhetik nutzbar zu machen. Von der Fruchtbarkeit dieses spezifischen Konzepts der Moderne zeugt neben den Ausstellungsgegenständen auch die Villa.

Am Ende einer Serpentinenstrasse sieht sich der Besucher der Villa Noailles plötzlich wie auf einem Schiffsbug, von dem aus der Blick über die Altstadt von Hyères und die Küstenebene bis zur Ile de Porquerolles geht. Der Vergleich mit einem Schiff ist gewollt: Wenn auch die ursprüngliche Bausubstanz auf die Ruinen eines Zisterzienserklosters aus dem 15. Jahrhundert zurückgeht, so hat Mallet-Stevens doch in erster Linie der topographischen Situation des sich parallel zur Küstenlinie erstreckenden Hügelkamms Rechnung getragen: Kreuzfahrt als Lebensform. Vorbei an einem spitz zulaufenden Mosaikgarten des Landschaftsarchitekten Guévrékian gelangt man in ein grünes Vestibül, in dem man sich in einer Art von Klostergarten wähnt. Im Inneren der Villa gelangt man - vorbei an dem durch Glasbausteine in der Decke diffus erhellten rosa Salon, dessen Möbel von René Herbst gefertigt wurden - in die kühlen Ausstellungsräume im Untergeschoss, deren Fenster dank der Hanglage den Blick auf den Horizont freigeben.

Hier sind Architekturmodelle von Paul Nelson (das Ärztehaus, die chirurgische Abteilung des Krankenhauses von Ismailia) zusammen mit Photographien von Man Ray ausgestellt. An der Wand hängen Plakate von Florence Henri, Planskizzen von Eileen Gray sowie Perspektivzeichnungen von Vladimir Bodiansky und Pierre Chareau. Von Chareaus pragmatischem Erfindungsreichtum zeugt überdies ein raumfüllendes Modell seines zwischen 1927 und 1931 in Paris realisierten Glashauses. Nebenan treten farbige Entwürfe von Robert Delaunay für den Eisenbahnpavillon der Pariser Weltausstellung 1937 in einen Dialog mit kubistisch inspirierten Gouachen von Le Corbusier, die wiederum den Kontakt suchen zum Prototyp eines Liegestuhls, den der Meister zusammen mit Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand entworfen hat.

Man kann sich gut vorstellen, wie Man Ray hier 1929 das Meisterwerk des cinematographischen Surrealismus, «Les mystères du château du dé», gedreht oder Luis Buñuel 1930 das Drehbuch für «L'Age d'or» verfasst hat, obwohl die Einrichtung der Villa nicht in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten ist. Die Villa - über dreissig Jahre kaum benutzt - verfiel allmählich, bevor Charles de Noailles sie 1973 der Stadt Hyères verkaufte. Erst 1987 wurde die Bausubstanz unter Denkmalschutz gestellt. Inzwischen sind die Instandsetzungsarbeiten so weit fortgeschritten, dass sichtbar und spürbar ist, wie das geplante internationale «Centre d'Art et d'Architecture» aussehen wird, das hier im Jahre 2001 eröffnet werden soll. (Bis 5. September)

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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