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Kunst in Flandern: Wo Kohle abgebaut wurde, gackern nun die Hühner
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In der flämischen Bergbaustadt Genk wurden die aufgelassenen Minenbetriebe kreativ neu belebt. Die Kulturprojekte C-Mine und Labiomista laden ein zu Stollenerkundungen, in eine Wunderkammer mit Skulpturen und in einen besonderen Park.

13. Oktober 2023 - Harald A. Jahn
Im Dreiländereck von Ostflandern, wo ein niederländischer Streifen von einigen Kilometern Breite Belgien von Deutschland trennt, liegt Genk. Anders als das berühmte Gent ist diese ehemalige Bergbaustadt kaum auf dem touristischen Radar, obwohl das Städtchen genau zwischen Düsseldorf und Brüssel liegt; 80 Kilometer sind es jeweils, ins niederländische Maastricht kann man mit dem Fahrrad fahren. Im 20. Jahrhundert verwandelte die Kohleförderung die bis dahin romantische Region in ein Bergbaugebiet, bis die letzten Minen in den 1980er-Jahren schlossen. Trotzdem ist die Stadt bis heute einer der wichtigsten Industriestandorte Flanderns und lockt Arbeitskräfte aus der ganzen Welt an; über hundert verschiedene Ethnien machen Genk zur diversesten Stadt Belgiens.

Die Altlasten der aufgelassenen Minenbetriebe wurden hier kreativ neu belebt, mit zwei überraschend großzügigen, professionellen Kulturprojekten: C-Mine und Labiomista. Auf dem ehemaligen Industriegelände des Winterslag-Steinkohlebergwerks ragen zwei Fördertürme hoch in den Himmel, die früheren Betriebsgebäude wurden ab 2005 sorgfältig renoviert und den neuen Nutzungen angepasst; die beeindruckenden Backstein-Industriedenkmäler von C-Mine mit der zeittypischen Großzügigkeit und Schönheit ihrer ehemaligen Maschinenhallen sollen der führende Kreativ-Cluster der Region werden. Natürlich bietet hier auch ein Bergbaumuseum Expeditionen in die Stollen im Untergrund, das Areal ist aber vor allem Kunstcampus und mit der LUCA School of Arts Homebase für zahlreiche Firmen der Kreativwirtschaft, einen Kinokomplex, ein Veranstaltungs- und Ausstellungszentrum. Herzstück der Anlage ist das Kraftwerksgebäude, hier wurden die alten Aggregate erhalten und Teil des „Designzentrums“ mit seinen multifunktionalen Bereichen; der früher T-förmige Grundriss wurde von 51N4E-Architects mit zwei Theatersälen zum Rechteck erweitert.

Neben den historischen Ziegelgebäuden dominiert ein riesiges Labyrinth aus Stahlplatten den Außenbereich: Das Architektenduo Gijs/Van Vaerenbergh schickt die Besucher in ein Gewirr fünf Meter hoher Gänge. In der beklemmend regelmäßigen Grundform sind dreidimensionale Volumen ausgeschnitten, unsichtbare Kugeln oder Kegel durchdringen den harten Rhythmus des Stahlkastens, die beim Weg durch die Struktur plötzlich sichtbar werden; manchmal ermöglichen sie den Blick nach draußen, manchmal ergeben sie überraschende virtuelle Kuppeln in den rostigen Eisenräumen. Auf den ersten Blick viel subtiler, aber doch logisch ist die zweite Umwidmung. Die Zwartberg-Mine wurde schon 1966 geschlossen, danach richteten private Betreiber hier einen Zoo ein, eigentlich mehr einen Gnadenhof und damit eine eher traurige Angelegenheit, bis die Stadt Genk um die Jahrtausendwende das Areal übernahm und den Zoo schloss.

Zoo des 21. Jahrhunderts

2014 wurde dann der Künstler Koen Vanmechelen auf das Gelände aufmerksam. Zentrales Element seiner Arbeit ist Biodiversität, berühmt wurde er mit dem „Cosmopolitan Chicken Project“: Das Huhn wird, von den Himalaya-Ausläufern ausgehend, seit Jahrtausenden weltweit domestiziert und hat sich dabei in viele Rassen aufgespalten, wurde an die jeweiligen Orte und Bedürfnisse angepasst gezüchtet. Seit 1999 kehrt Vanmechelen diesen einschränkenden Prozess um, indem er Hühner aus aller Welt kreuzt, um irgendwann ein „kosmopolitisches Huhn“ zu erhalten, das die Gene aller Hühnerrassen der Welt in sich trägt – ein „Perpetuum mobile der genetischen Diversifizierung“.

Es ist eine charmante Idee, gerade in einem früher monofunktionalen Industriegelände die Diversität zu feiern, und es ist ein charmanter „Zoo des 21. Jahrhunderts“, der so entstanden ist: ein ruhiger Flecken Land, angereichert mit historischer und zeitgenössischer Architektur, mit Kunstobjekten und Tieren, die sich sichtlich wohlfühlen. Historisches Schmuckstück ist die ehemalige Direktorenvilla, nun Villa OpUnDi (Open University Diversity) genannt, eine Wunderkammer voll mit den Tierskulpturen des Künstlers. Schimären sind es, hybride Mischwesen – Vanmechelen kreuzt alles mit allem, Fell und Federn mit Marmor, Glas oder Eierschalen. Den Eingangspavillon („The Arc“), aber vor allem das Hauptgebäude ließ er neu bauen: Der Schweizer Stararchitekt Mario Botta hat mit „The Battery“ einen schlichten lang gestreckten schwarzen Baukörper in den Park gestellt, angedockt sind zwei riesige Vogelvolieren, Aufzuchtstationen für bedrohte Arten. Das Obergeschoß, für das Publikum unzugänglich, ist das private Atelier des Künstlers. Darunter, im Sockel des in alle Richtungen offenen Pavillons, ist es still und ein wenig feierlich, es ist ein Schrein mit großformatigen Arbeiten, die in seitlichen Nischen inszeniert werden, eine große Marmorskulptur steht in der Mittelachse: Ein Baby sitzt auf einem Bücherstapel, der die „Encyclopedia of Human Rights“ in fünf Bänden darstellt – auf der venezianischen Biennale 2019 hat der Künstler den Länderpavillons in den Giardini symbolisch einen transnationalen „Pavillon der Menschenrechte“ entgegengesetzt.

Sinnbild für das vereinte Europa

Die „Batterie“ ist auch sinnbildliches Tor in den ruhigen Landschaftspark voll mit Vanmechelens Großskulpturen und Tiergehegen. An manchen Stellen laden Pavillons zur Partizipation ein, sind allerdings verwaist; nicht immer kann der theoretische Anspruch mit dem Tagesgeschäft mithalten, manches wirkt etwas eitel, aber der Park ist trotzdem ein Naturparadies, in dem die Kunst mit den Tieren harmoniert. Er ist klug entworfen und gestaltet, die barrierefreie Wegführung wirkt ungezwungen, verhindert aber auf diskrete Weise das Betreten geschützter Bereiche; der Wanderer fühlt sich nicht als außenstehender Betrachter, sondern mit der Natur verbunden.

Im Park von Biomista zelebriert Vanmechelen seine Hühnerzucht; sein „kosmopolitisches Huhn“ ist Symbol des Sieges der Vielfalt über die Monokultur. Es ist gerade die Diversität, die resilient macht: Die vielfach gekreuzten Hühner sind widerstandsfähiger, gesünder und friedlicher als das „Industriehuhn“ aus dem Supermarkt – ein großer Genpool ist für Vanmechelen ein unendliches Reservoir von Anpassungsfähigkeit. Diese Vermischung ist für den Künstler auch das Gegenteil der Idee abgegrenzter Nationalstaaten, sein Symbol für die Gleichwertigkeit aller Menschen: Jedes Wesen braucht alle anderen, um zu überleben. Genk mit seiner Diversität wird damit zum Sinnbild für das vereinte Europa, an dem mutige Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg bauen – vor dreißig Jahren machte es hier, im nur wenige Kilometer entfernten Maastricht, einen großen Schritt vorwärts.

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