Artikel

Tirol liegt am Fjord
Der Standard

Eine Ausstellung im Kunsthaus Mürz zeigt Bauten des Büros Snøhetta, die sich an die Ränder der Wildnis vorwagen, sowohl in Norwegen als auch in Österreich. Ein Paarlauf in alpin-nordischer Disziplin.

21. Oktober 2023 - Maik Novotny
Es ist ein Betriebsausflug der besonderen Art, den diese Firma alle zwei Jahre veranstaltet. Die mittlerweile 400 Architektinnen und Architekten, die an neun weltweiten Standorten ar-beiten, versammeln sich im Dovrefjell-Gebirge in Mittelnorwegen und stapfen in Funktionskleidung durch Schotter und Schnee, um einen Berg zu besteigen. Der Name des Berges: Snøhetta. Der Name des Büros: Snøhetta. Eine naheliegende Idee also, könnte man sagen. Doch, sagt Bürogründer Kjetil Thorsen, so einfach war es dann doch nicht mit der Namensgebung.

Natürliche Erhabenheit

„Unser erstes Büro in Oslo war über einer Bierstube namens Halle von Dovre“, erzählt Thorsen. Die gleichnamige Bergregion ist mittels der Formulierung „til Dovre faller“ (bis Dovre fällt) seit 1814 in der norwegischen Verfassung als nationaler Gedanke ewiger Unabhängigkeit verankert. Ein feierlicher Schwur, auf den sich schon der eine oder andere Humpen heben lässt; und von dort war es nur ein Assoziationseck weiter zum schönen Namen Snøhetta.

Städtische Feierlaune und natürliche Erhabenheit, dieser Paarlauf zieht seinen Slalom durch das ganze Werk des 1989 gegründeten Büros, das mit dem schneeweißen Opernhaus in Oslo in die Weltliga aufgestiegen ist. Heute hat man Niederlassungen in Oslo, Paris, Innsbruck, New York, Hongkong, Shenzen, Adelaide, Melbourne und San Francisco.

Ausschließlich dem natürlichen Aspekt hat sich eine monografische Ausstellung verschrieben, die derzeit am Kunsthaus Mürz zu sehen ist. Arctic Nordic Alpine macht einen Bogen um die spektakulären Kulturbauten und versammelt stattdessen vor allem kleine Projekte, die dort angesiedelt sind, wo sich Wanderwege ins Nichts verlaufen und die Elemente die Kontrolle übernehmen. Im Hochgebirge, im Schnee, am Fjord.

Insgesamt 26 Bauten sind als feingezeichnete Planskizze auf dicht nebeneinandergehängten Papierbahnen zu lesen, zwischen denen man sich behutsam durchschlängeln muss. Spurenelemente und Skizzen von Architektur wie der Panoramaweg hoch über Innsbruck mit seinen in die Landschaft gezeichneten Aussichtsbalkonen oder die 55 knapp unter der Wasseroberfläche gesetzten Steine in Brønnøysund, die nur bei Ebbe begehbar sind.

„Es sind Bauten an sensiblen Orten, die die Architektur nur begrenzt verbessern kann“, sagt Kjetil Thorsen. Die Minimierung des Fußabdrucks wird so zur entscheidenden Entwurfsaufgabe. So wie bei der gerade mal 30 Quadratmeter großen Schutzhütte am Akrafjorden, deren Baumaterialien bis auf einen Stahlträger alle per Pferd transportiert wurden. „Was wir Architekten tun können, ist, mit architektonischen Mitteln auf die Natur zu zeigen und Bewusstsein bei den Menschen zu schaffen. Es geht uns immer darum, die Landschaft zu lesen. Wichtig ist es, die Grenzlinie zu definieren, ab der die Natur in Ruhe gelassen werden soll.“ So wie bei der Aussichtshütte Tverrfjellhytta, die mit Blick auf den Snøhetta genau an die Grenze zwischen Mensch- und Rentier-Territorium gesetzt wurde. Eine Art kleine Glasschatulle mit behaglicher Sitzlandschaft, ein nordisches Sofa in einem Schaufenster, mit der Gebirgskulisse als Fernsehprogramm. Didaktik, verpackt als Ästhetik. Oder auch: Natur als Konsumgut.

Frage des Fußabdrucks

Bei aller Schönheit wird der Weg ins Nordische und Alpine zur Gratwanderung, bei der sich die Frage stellt: Soll man noch mehr Besucher an Orte locken, die an sich schon fragil sind, um den Besuchern die Einsicht in ebendiese Fragilität zu vermitteln? Ist ein kleiner Fußabdruck akzeptabel, wo gar kein Fußabdruck noch besser wäre?

Diese Frage stellt sich Snøhetta auch selbst; als Antwort hat das Büro das System Powerhouse entwickelt. „Powerhouse-Gebäude produzieren ihre eigene Energie und haben daher die graue Energie, die sie für den Bau verbraucht haben, schnell amortisiert“, erklärt Patrick Lüth, langjähriger Leiter des Innsbrucker Büros. Inzwischen wurden sechs Powerhouse-Projekte realisiert. Das erste davon war das kreisförmige Hotel Svart knapp über dem Polarkreis, das pro Jahr etwa 85 Prozent weniger Energie verbraucht als gewöhnliche Hotels.

Etwas weniger landschaftlich hochsensibel ist die Lage des Hotels, das Snøhetta in Tschagguns im Montafon errichteten. Hier bestand direkt daneben schon ein Kraftwerk, was Maßstäbe in puncto visueller Massigkeit setzte. Im Alpbachtal wiederum errichtete das Büro in einem neu erschlossenen Skigebiet eine Skilift-Bergstation inklusive eines konsumfreien Selbstversorgerraums. „Das Prinzip Jause ist auch sehr typisch für Norwegen – das verbindet beide Länder“, sagt Patrick Lüth. Die „Bergjuwel“ genannte Bergstation im Alpbachtal lässt sich als Versuch deuten, eine ausgebeutete Landschaft zu lesen und ihr etwas Ruhe und Respekt abzuringen. Schöne Holzoptik inmitten der Zerstörung, Konsumfreiheit inmitten der Unersättlichkeit goldgegerbter Tiroler Liftkaiser. Auch eine Gratwanderung.

Oder, wie Kjetil Thorsen sagt, auch ein Modell für die nahe Zukunft. „Das 1,5-Grad- und eigentlich auch das 2-Grad-Ziel sind nicht mehr erreichbar. Wir spüren in Norwegen die Klimaveränderung, und in den Alpen genauso. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als adaptiv zu denken. Die Architektur kann hier Ideen liefern, denn sie war immer schon ein vorausdenkender Beruf.“

Im eisigen Permafrost

Schlusspunkt und Extrempol des alpin-arktischen Dialogs: Longyearbyen, 1300 Kilometer nördlich des Polarkreises. Eingegraben im eisigen Permafrost befindet sich das Svalbard Global Seed Vault, in dem die Samen der Erde aufbewahrt werden, um eine wie auch immer geartete Katastrophe zu überdauern. Ein unsichtbares Riesenbauwerk, dem Snøhetta Sichtbarkeit an der Oberfläche verschafften. Zuerst in Form eines Servicegebäudes, in dem die Samen registriert werden. Eine flache, kantige Box aus schwarzem Stahl, auf dünnen Stelzen über dem Schnee; unaufdringlich, ohne banal zu sein. Der nächste Schritt, das Besucherzentrum Svalbard, wird Fußabdruck und Aufmerksamkeit vergrößern. Ein archaischer weißer Kegelturm, in dem man eine momentan geometrische Schneeverwehung oder einen aus der Erde gepressten Bohrkern sehen kann. Eine Einladung, sich den Extremen zu stellen. Architektur als menschliche Grenzerfahrung. Kalt und schön wie der Snøhetta.

[ „Arctic Nordic Alpine“, Kunsthaus Mürz, Mürzzuschlag, bis 19. 11. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: