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„Jedes Gebäude hat seinen eigenen Klang“
Der Standard

Er baut wenig und langsam, er nimmt sich Zeit. Seine Bauten sind eher leise als laut. Kommende Woche gastiert der 80-jährige Schweizer Architekt Peter Zumthor beim Festival Wien Modern. Ein Gespräch über Musik und Räume – und über die Emotionen, die mit beidem verbunden sind.

11. November 2023 - Maik Novotny
Man muss nicht Schopenhauers fast zu Tode zitiertes Bonmot von der Architektur als gefrorener Musik bemühen, um auf die Parallelen zwischen diesen beiden Disziplinen zu verweisen. Harmonie, Rhythmus und Raum gehören für Architektinnen und Musiker zum Handwerkszeug. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor, seit seiner Kindheit Musikliebhaber, hat in Zusammenarbeit mit dem Wiener Musikverein und dem Festival Wien Modern anlässlich seines 80. Geburtstags ein Programm mit 13 Konzerten und acht Werkstattgesprächen zusammengestellt. der STANDARD traf ihn vor seinem Wien-Gastspiel zum Gespräch.

STANDARD: Nächste Woche gastieren Sie beim Festival Wien Modern. Welche Rolle spielt Musik für Sie? Hören Sie Musik, während Sie entwerfen?

Zumthor: Architektur und Musik sind bei mir nicht getrennt. Es gibt aber Arten von Arbeit, bei denen ich keine Musik brauchen kann. Wenn ich gut drauf bin und zeichne, höre ich am liebsten das Miles-Davis-Quintett aus den späten 50er-Jahren. Das ist zwar keine Neue Musik wie bei Wien Modern, aber es hat eine spannungsgeladene Energie, die ich schätze. Dann gibt es besinnliche Stunden, in denen ich andere Dinge höre.

STANDARD: Eigentlich assoziiert man mit Ihrem gebauten Werk eher Stille als Musik. Ist es ein Ziel Ihrer Architektur, Stille zu evozieren?

Zumthor: Nein, überhaupt nicht. Jedes Gebäude hat seinen eigenen Klang. Es gibt verschiedene Arten von Stille, und es gibt auch Musik, die Raum produziert. Wurde die Orgel für die gotische Kirche erfunden? Oder wurde die gotische Kirche erfunden, damit man gut Orgel spielen und singen kann? Musik ist eine Kunst, die uns sehr direkt und unmittelbar berühren kann. Vielleicht kann ich das auch mit meinen Räumen erreichen.

STANDARD: Sie haben oft erwähnt, dass Ihre frühesten musikalischen Prägungen die Gesänge in der Kirche waren. Also eine Einheit von musikalischem und räumlichem Erlebnis.

Zumthor: Meine Mutter hat als junge Frau zu Hause bei der Arbeit immer gesungen. Mir gefiel ihre Stimme. In der katholischen Kirche hat mich als Bub immer beeindruckt, wie die ganze Gemeinde gemeinsam am Ende des Gottesdienstes „Großer Gott, wir loben dich“ sang. Singen als Gemeinschaftserlebnis. Das war ein schöner Kontrast zu allen anderen Dingen, die im Gottesdienst gesagt wurden, bei denen ich immer das Gefühl hatte, es ist eine große Heuchelei. Aber die Musik war davon unberührt. Musik bewusst erlebt habe ich etwas später, als ich begann, Jazz zu hören. Das war ein großes Erlebnis in der biederen Schweiz der 1950er-Jahre, als die Lehrer und Eltern ihre Kinder noch aus erzieherischen Gründen schlagen durften. Und da war diese Übertragung des Amateur-Jazzfestivals in Zürich, da spielte ein junger Schweizer Trompete wie der liebe Gott persönlich, wie eine Mischung aus Chet Baker und Miles Davis. Das hat mich umgehauen. Das war ein Fenster in eine neue Welt.

STANDARD: Wie schafft man als Architekt emotionale Räume, wenn Emotionen etwas sehr Individuelles sind? Gibt es dafür ein Handwerkszeug?

Zumthor: Ein Handwerkszeug gibt es ganz sicher, aber wenn man das Handwerk gut beherrscht und sich ganz viel Mühe gibt, heißt das ja noch nicht, dass die Musik oder die Architektur automatisch gut wird. Es gab Zeitgenossen von Bach, die haben den Kontrapunkt wohl gleich gut verstanden wie er, aber konnten ihm trotzdem nicht das Wasser reichen. Wenn ich meine Arbeit anschaue, denke ich, dass ich ein Talent geschenkt bekommen habe, für das ich gar nichts kann. Na ja, das klingt jetzt ein bisschen zu schweizerisch bescheiden. Oder vielleicht zu großspurig?

STANDARD: In der medialen Darstellung gelten Ihre Bauten oft als puristisch. Doch viele Details wie die in Mahagoni und Leder ausgeführten Umkleiden der Therme Vals sind geradezu opulent und theatralisch. Resultiert das aus Ihrer Erfahrung als Katholik in der protestantischen Schweiz?

Zumthor: Für Vals haben wir die alte Bäderkultur studiert. Die Sportbäder, die damals viel gebaut wurden, haben uns nicht interessiert. Wir reisten nach Budapest und in die Türkei, besuchten Hamams, Dampfbäder, Mineralbäder, wir erlebten Baden als uraltes Reinigungsritual. Die Therme Vals ist das erste zeitgenössische Bad, das sich zurückbesinnt auf diese ursprünglichen Baderituale. Der Besucher der Therme verwandelt sich Schritt für Schritt in einen ganz besonderen Badegast. Das Ablegen der Kleider, das Hinabsteigen in die Landschaft der Bäder, das Erlebnis von Licht und Schatten, von Wasser in verschiedenen Temperaturen – all das hat etwas Theatralisches, aber vor allem etwas Sinnliches. Stein, Wasser, Licht und Schatten. Schöne Hölzer, Messing, Leder, nackte Haut.

STANDARD: Welche Rolle spielt der Begriff der Schönheit für Sie?

Zumthor: Vor 20 Jahren habe ich in einem Essay geschrieben: „Hat die Schönheit eine Form?“ Sie hat tausend Formen. Ich suche nicht nach Objektivität, ich suche nach persönlicher Berührung. Wir alle empfinden Schönheit in der Natur. Wenn man Peter Handke liest, hat man das Gefühl, er würde wohl am liebsten Bücher schreiben, die die gleiche Selbstverständlichkeit haben wie ein Baum, der im Wald gewachsen ist. Die natürliche Schönheit der Natur ist auch mir ein Vorbild.

STANDARD: Derzeit entsteht in Los Angeles Ihr größtes Projekt, der Neubau des Los Angeles County Museum of Art (LACMA). Ein völlig anderes Umfeld als das europäische, in dem Sie sonst bauen. Eine interessante Abwechslung oder sogar eine Befreiung für Sie?

Zumthor: Meinen Entwurf für das LACMA kann ich mir nirgends in Europa vorstellen, schon gar nicht in der Schweiz. Die Geste und der Maßstab des neuen Gebäudes passen in die Landschaft von L.A. Wir versuchen, einen Ort zu schaffen, wo es noch keinen Ort gibt. L.A. ist ein filmischer Ort, in dem die Häuser an einem vorbeiziehen. Mit dem Museumsneubau machen wir eine städtebauliche Setzung, öffentlicher Raum soll entstehen. Ich glaube, das wird uns gelingen.

STANDARD: Zahlreiche US-Künstler und -Architekten haben das kuratorische Konzept des Museums und das horizontale Raumkontinuum kritisiert. Was ist Ihre Reaktion darauf?

Zumthor: Innovative Neubauprojekte werden immer kritisiert, weil man das Neue nicht versteht und auch nicht sieht. Diese Kritik zu ertragen gehört zum Geschäft des Architekten. Steht das Gebäude einmal da und hat die Ausstrahlung und Präsenz, die wir uns erträumt haben, gewinnt es Liebhaber. Die kritischen Stimmen werden weniger. Das habe ich immer wieder erlebt. Gott sei Dank. Und es gibt auch jetzt schon Lob. Als ich im Frühjahr dort war, gab es ein Barbecue für die Bauarbeiter, und dann haben 350 Bauarbeiter zu meinem 80er Happy Birthday für mich gesungen. Ich mag die Melodie zwar überhaupt nicht, aber das war ein berührender Moment.

STANDARD: Ein Echo der Kirchenchöre aus der Kindheit, am anderen Ende der Welt.

Zumthor: Ja, könnte man so sagen!

STANDARD: Das Wien-Modern-Programm findet unter anderem im Musikverein statt, der als einer der akustisch besten Räume der Welt gilt. Ein Konzerthaus fehlt noch in Ihrem Werkverzeichnis. Würden Sie gerne noch eines bauen?

Zumthor: Ja, ich würde gerne einen Raum für zeitgenössische Musik oder Kammermusik entwerfen oder ein schön gelegenes Berghotel aus Holz. Wer weiß?

Peter Zumthor, geboren 1943 in Basel, gründete 1979 sein Architekturbüro in Graubünden, wo er bis heute mit einem kleinen Team arbeitet. Zu seinen Bauten gehören die Therme Vals, das Kunsthaus Bregenz und das Kunstmuseum Kolumba in Köln. 2009 wurde er mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.

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