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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

16. März 2024 Der Standard

Die Ruine Signa-Wunderland

Der Autor und Schauspieler Calle Fuhr bringt den „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ auf die Volkstheater-Bühne. Es ist ab heute, Samstag, zu sehen. Die [in der gedruckten Ausgabe] eingefärbten Textstellen sind Originalzitate aus dem Stück.

Die Signa wächst und wächst und wächst. Das muss sie auch. Das ist der Fluch von Benkos Geschäftsmodell. „Und ich finde es spannend und beachtlich, bis zu einem gewissen Grad ringt es mir sogar Respekt ab, mit welchem Geschick René Benko in der Lage war, hunderte, vielleicht tausende Menschen an der Nase herumzuführen“, sagt Calle Fuhr, hellblauer Anzug wie ein Entertainer in einer US-amerikanischen TV-Show à la Jeopardy! oder Der Preis ist heiß. „In der Zwischenzeit ist das Kartenhaus in sich zusammengekracht. Viele Menschen – ob mit Geld, Arbeitsplätzen oder unbeglichenen Rechnungen – sind dabei zu Schaden gekommen.“

Heute Abend soll es um einen Mann gehen, der in den letzten Monaten die Schlagzeilen gefüllt hat wie kaum ein anderer. Calle Fuhr, gebürtiger Düsseldorfer, Autor, Regisseur und Schauspieler in Personalunion, hat die Causa Benko und sein Unternehmensimperium Signa, das aus rund 1000 Töchtern und Enkeltöchtern besteht, im Laufe des letzten Jahres in Zusammenarbeit mit der österreichischen Investigativplattform Dossier studiert und analysiert – und beschlossen, darüber ein Ein-Personen-Stück zu schreiben und sich selbst auf den Leib zu schneidern: Aufstieg und Fall des Herrn René Benko.

Weil eben doch längst nicht alles gesagt ist. Heute, Samstag, ist Premiere im Volkstheater, der große Saal längst ausgebucht bis auf den letzten Platz, der STANDARD war bei der Generalprobe live dabei und hat Zitate daraus, fett markiert in diesem Text, aufgenommen und notiert. „Ob in Österreich bei Kika/Leiner oder in Deutschland mit Karstadt und Galeria Kaufhof: Der Signa wurden Millionen an Steuergeldern hineingepumpt, um die maroden Kaufhäuser vermeintlich am Leben zu halten. Dabei scheint es von Anfang an ein abgekartetes Spiel gewesen zu sein, und zwar auf Kosten der Öffentlichkeit. Daher finde ich“, meint Calle Fuhr, „geht die Sache uns alle an.“

Der René will Geld verdienen. Während seine Klassenkameraden wohl gerade die rubinrote Edition von Pokémon für sich entdeckten, begann er, sich in das Immobilienbusiness einzulesen. Passagenweise gleicht Fuhrs Stück einem Vortrag, einer Univorlesung, beginnend in Benkos Schulkarriere, die er frühzeitig abbrach, um bereits in jungen Jahren Kleinanleger für Immo-Aktien zu keilen, wird dabei aber nie fad, besser jedenfalls als jeder Immobilienlehrgang an einer FH. Erst allmählich füllt sich der Theaterabend mit dramaturgisch hineininszenierten Elementen wie etwa Film, Zaubertrick, fiktiven Dialogen, Rollenwechseln mit Brille und Dialekt, zahlreichen Interaktionen mit dem Publikum.

René Benko zeichnet vor allem eines aus: Er ist schnell. Er weiß oft als Erster Bescheid, sobald eine Perle in einer Innenstadt am Markt ist. „Am meisten interessiert mich das Firmengeflecht aus Geschäftsführung, Aufsichtsräten und Beiratsmitgliedern, die sich bei der Signa aber nie als klassischer Beirat, sondern eigenen Angaben zufolge vielmehr als Impulsgeber und strategischer Beraterkreis verstanden haben“, sagt Calle Fuhr. Ob Gusenbauer, Haselsteiner oder Riess-Hahn: „Ich denke, ihre Besetzung folgt wohl auch einem politischen Kalkül, um in allen Koalitionskonstellationen manövrierfähig zu bleiben und immer als Erster zu erfahren, wann wieder einmal ein Filetstück in der Innenstadt frei wird.“ Und nicht nur das.

Benko kennt alle, und alle kennen Benko. „Benko beherrschte von Anfang an die Sprache von Seitenblicke und Boulevardmedien, und zwar fließend. Er ließ sich mit Promis ablichten, ob das nun Bundespräsidenten, Bürgermeister oder etwa Tina Turner war.“ Ein Schnappschuss mit der Rockröhre, auf der Volkstheater-Bühne ertönt einer ihrer größten Hits: „I call you when I need you, my heart’s on fire. When you come to me, give me everything I need. Give me a lifetime of promises and a world of dreams. You’re simply the best.“ „Das Beste für den einen“, meint Fuhr, „ist aber nicht immer das Beste für alle.“

Wo ich herkomme, im Rheinland, da gehst du nicht einkaufen: Da gehste Kaufhof. Oder da gehste Karstadt. Karstadt und Kaufhof wurden über die Jahrzehnte zum Herz einer typischen deutschen Innenstadt. „Mit der Übernahme von Karstadt und Galeria Kaufhof und der anschließenden Aufsplittung in eine Immobilien- und eine Betreibergesellschaft haben Benko und Co ein perfides Spiel inszeniert.“ Die selbsternannten Spielregeln der Signa werden auf der Bühne anschaulich erklärt, mit einer beliebten Immobilientochter namens Elisabeth und einer ungeliebten Betreibertochter namens Dörte. Bei der Generalprobe schüttelt das Publikum fassungslos den Kopf.

Benko wurde bei seiner Übernahme von Galeria als Retter der deutschen Innenstädte gefeiert. Aber das war nie sein Ziel. „Mit der Schließung vieler Galeria-Filialen“, erzählt Fuhr im Interview mit dem ΔTANDARD, „aber auch mit halbfertigen Rohbauten wie etwa dem Lamarr in Wien, dem Elbtower in Hamburg oder dem Carsch-Haus in Düsseldorf sehen wir nun, wie die Innenstädte nach und nach ausverkauft wurden und wie nun riesige Wunden in ihnen klaffen.“ Der Traum ist geplatzt, das Versprechen wurde gebrochen, viele Baustellen stehen still und warten auf Käufer.

Ich verstehe total, dass Leute gerade schadenfroh sind. Wenn sie denken: Der Benko, der hat’s verdient. „Aber das allein ist zu wenig“, sagt Calle Fuhr. „Außerdem dürfen wir nicht vergessen: Zu Schaden sind wir alle gekommen! Denn das, was Benko den Menschen und den Städten angetan hat, ist eine Form der Zerstörung – nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf die bauliche Substanz und auf die eigene urbane Identität.“

Den nächsten René Benko etwas unmöglicher machen. Mit seinem Stück möchte der Produzent verhindern, dass sich die Geschichte eines Tages mit anderen Firmen und anderen Protagonisten wiederholt. „Die Frage also ist: Welche politischen Konsequenzen können wir aus dieser Causa ziehen?“ Vor dem Black, neunte Szene, präsentiert der hellblau gekleidete Entertainer drei Strategien für die Zukunft. Ein Lehrstück an der Schnittstelle von Architektur, Politik und Immobilienwirtschaft.

„Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“, Premiere am 16. März im Volkstheater. Vorstellungen am 20., 24., 25. März sowie am 5., 15., 18. und 27. April. Weitere Termine sind in Planung.

2. März 2024 Der Standard

Teuflisch gut

Gestern imperiales Kurbad mit Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, heute eine mutig hineinimplantierte Musiktribüne in knalligem Rot. Zu Besuch in den Císařské Láznì in Karlsbad.

Kateřina Knìžíková betritt die Bühne, champagnerfarbenes Abendkleid mit glitzernden Steinchen von oben bis unten, und setzt zu den ersten Versen an: „Una donna a quindici anni, dèe saper ogni gran moda, dove il diavolo ha la coda, cosa è bene e mal cos’è.“ Schon ein Mädchen von fünfzehn Jahren, singt die Sopranistin, müsse die große Kunst verstehen, wo den Schwanz hat der Teufel, was gut sei und was schlecht.

Ihre Arie aus Mozarts Così fan tutte, so tun es angeblich alle, füllt den ganzen Raum, der Schall pflanzt sich fort bis hoch in die allerletzte Reihe. „Dèe in un momento, dar retta a cento, colle pupille, parlar con mille.“ In einem Moment, zu Hunderten wechselt sie die Blicke, zu Tausenden die Worte.

Gar so viele Männer und Frauen passen in den neuen Konzertsaal im tschechischen Karlsbad nicht hinein, aber immerhin an die 300, verteilt auf 13 Reihen, vollbestückt mit superbequemen, teufelsrot bespannten Klappsitzen. Das allein wäre noch lange kein Grund für Jubel in höchsten Tönen. Sehr wohl aber die Tatsache, dass das knallrote Stahlungetüm ausgerechnet in ein denkmalgeschütztes Gebäude aus dem Jahr 1895 hineingestellt wurde, errichtet von den Wiener Theaterarchitekten Fellner und Helmer, die dereinst auch das Wiener Volkstheater, das Landestheater Salzburg, die Komische Oper Berlin, das Nationaltheater Rijeka und das Opernhaus Odessa geplant hatten.

„Ich bin hier geboren und aufgewachsen und habe den imperialen Charme dieser Stadt immer schon geliebt“, sagt der Prager Architekt Petr Hájek. Die Kurstadt Karlsbad, Karlovy Vary auf Tschechisch, sei ein Freiluftmuseum galanter, prosperierender k. u. k. Zeiten, ein kompaktes Großstädtchen inmitten bewaldeter Landschaft, mit regem Kulturbetrieb und mondänen Kurbädern, die mal unten im Tal, mal etwas weiter oben auf den Hängen platziert sind. Und im Gegensatz zu österreichischen Kurstädten wie etwa Bad Ischl oder Bad Gastein, so scheint es, ist Karlsbad weder tot noch in der Vergangenheit steckengeblieben, sondern immer noch quicklebendig, mit wohltuend frischem Geiste zwischen all den alten Gemäuern.

Altes Kaiserbad

Dieser zeigt sich vor allem im alten Kaiserbad, in den sogenannten Císařské Láznì. Einst befanden sich hier, hufeisenförmig im Halbkreis angeordnet, Moorbäder mit tonnenschweren Stahlwannen, die von einer mobilen Krankonstruktion im Innenhof durch die Lüfte bewegt und durch fensterartige Öffnungen im Mauerwerk in die einzelnen Kurbadezimmer hineingeschoben und nach dem getätigten Bad wieder entnommen wurden, um im Hof aufs Neue mit Wasser und frischem Torf befüllt zu werden, alles per zentrale Steuerung hinter den Kulissen. Auf diese Weise konnten pro Tag bis zu 2000 Menschen versorgt werden.

Der Kurbetrieb ist längst eingestellt. Um die architektonische Perle aus ihrem Dornröschenschlaf zu reißen und endlich einer neuen Nutzung zuzuführen, entschied sich die Stadt in Zusammenarbeit mit der nationalen Denkmalbehörde, 2018 einen Wettbewerb auszuschreiben und im einst infrastrukturell genutzten Innenhof einen Konzertsaal für die Tschechischem Philharmoniker zu errichten. Doch nach zwei Jahren intensiver Entwicklungsarbeit steckte das Siegerprojekt fest. Die Komplexität des Gebäudes und seiner horrenden Anforderungen im Umgang mit Akustik, Grundwasser und Denkmalschutz brachten die Planungen zum Erliegen.

„Daraufhin wurde ich 2020 kontaktiert und gebeten, als eine Art Troubleshooter einzuspringen“, erzählt Hájek. Sein Erfolgsrezept: „Nicht alles ins Gebäude hineinquetschen mit Ach und Krach, sondern stattdessen auf die räumlichen Gegebenheiten reagieren und die Bauaufgabe auf das reduzieren, was der Raum und die schwierigen Parameter erlauben.“ Bühne und Tribüne wurden verkleinert und als eine Art selbsttragendes Stahlmöbel in den Hof hineingestellt, auf Kulissen und unmittelbar angrenzende Backstage-Räumlichkeiten wurde verzichtet. Die Haustechnik konnte im Gespräch mit den Bauherren auf eine kompakte Low-Tech-Sparvariante abgespeckt werden. Hájek: „Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Lösungen.“

Zerlegbare Konstruktion

Um die Bauarbeiten zu vereinfachen, wurde die ehemalige Glasüberdachung entfernt. Durch die so entstandene Öffnung konnten die vorgefertigten Stahlelemente, 746 Stück an der Zahl, per Kran in den Innenhof gehievt werden. Um die Konstruktion eines Tages auch wieder zerlegen zu können, musste die Montage der einzelnen Komponenten – eine Anforderung der Denkmalbehörde – mittels Schraubverbindungen erfolgen. 4592 Muttern und Schrauben halten das 16 Meter hohe Theaterimplantat, das die denkmalgeschützten Hofmauern an keiner einzigen Stelle berühren durfte, zusammen. Erst nach Fertigstellung des 94 Tonnen schweren Teufelswerks wurde das Dach wieder geschlossen.

„Für mich grenzt es an ein Wunder, dass wir das Projekt tatsächlich umsetzen konnten, ohne einen einzigen architektonischen Kompromiss, als roten Bausatz inmitten von Fellners und Helmers wunderschöner Neorenaissance-Architektur“, sagt Petr Hájek. „Was einst ein reiner Technikhof für den Kurbetrieb war, zu dem das Publikum keinen Zutritt hatte, ist nun ein Ort von ein bisschen gebastelter, ein bisschen improvisierter Hochkultur.“

Und was sagen die Künstlerinnen selbst? „In musikalischer Hinsicht ist jeder Konzertsaal ein Unikat und klingt auch entsprechend anders“, sagt Lenka Machová, erste Geige bei den Tschechischen Philharmonikern, kurz nach dem Konzert. „Dieser Saal ist halt besonders anders. Wir finden es großartig, hier zu spielen, wir sind ganz begeistert von den kräftigen Farben und der wilden Geometrie. Eine schöne Anregung für die Augen, die uns herausfordert, den Ohren eine mindestens genauso schöne Anregung zu bieten.“

Der neue Konzertsaal im 1895 errichteten Kaiserbad ist eine wertvolle Inspiration, die beweist, was im Rahmen des Denkmalschutzes alles möglich ist, wenn bloß alle Kräfte an einem gemeinsamen Strang ziehen. Così fan tutte, im besten aller Fälle. Wie meinte doch Mozart? „Par ch’abbian gusto di tal dottrina. Viva Despina!“ Sie scheinen, auf weitere Lehre, Geschmack bekommen zu haben. Es lebe Despina!

29. Februar 2024 Der Standard

Was Wien von Rom lernen kann

Am Mittwoch wurde der österreichische Beitrag für die Architekturbiennale 2025 in Venedig präsentiert. Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito vergleichen das Wohnen in zwei europäischen Hauptstädten.

Bikini, Badehose und Schwimmflügerln wird man auf der kommenden Architekturbiennale zwar nicht brauchen. Denn dafür wird der Pool im Innenhof des Österreich-Pavillons mit 50 Zentimeter Tiefe nicht groß genug sein. Doch dafür soll das Becken mit Meerwasser, Lagunenpflanzen und umliegendem Holzdeck für mikroklimatische Abkühlung und für eine kurze Verschnaufpause sorgen auf der reizüberfluteten Erkundungstour von einem Pavillon zum anderen. Ausgestattet mit Sesseln, Liegestühlen und Sonnenschirmen sollen hier während der Architekturbiennale 2025 in Venedig kuratierte Poolgespräche zum Thema Wohnen stattfinden.

Agency for Better Living nennt sich der Beitrag des Dreierteams Sabine Pollak, Architektin und Professorin für Raum- & Designstrategien an der Kunstuniversität Linz, Michael Obrist, Architekt und Professor für Wohnbau an der TU Wien, und Lorenzo Romito, Aktivist, Gründer des Stadtforschungslabors Stalker, Professor an der Nuova Accademia di Belle Arti (NABA) in Rom sowie Gastprofessor an der ETH Zürich.

Länderübergreifend

Das länderübergreifende Projekt versteht sich als Agentur, Ausstellung und Forschungslabor, um aus wohn- und gesellschaftspolitischen Ansätzen in Wien und Rom zu lernen.

„Wien ist eine Vorzeigestadt für Top-down-Wohnbau“, sagt Kuratorin Pollak. „Vieles, was in dieser Stadt in den letzten 100 Jahren entstanden ist, ist weltweit einzigartig, die ganze Welt schaut da hin. Doch nicht alles entwickelt sich zum Guten. Grundstücke werden rarer und teurer, die technischen Anforderungen steigen, architektonische Qualitäten werden gekürzt, es wird schwieriger, Gemeinschaft herzustellen.“

Im Gegensatz dazu präsentiert sich Rom, das im Umgang mit historischen Ruinen und innovativer Bodenressourcennutzung schon seit hunderten Jahren Erfahrung hat – als europäischer Hotspot für Bottom-up-Ansätze. Leerstände werden besetzt, Bürohäuser zu Wohnzwecken transformiert, immer öfter findet man aktivistische Wohnmodelle und selbstorganisierte Formen des Widerstands.

Projekte wie Corviale, Spin Time, Porto Fluviale und Metropoliz sind Resultate autonomer Strukturen, die Kurator Romito als „Magie der Zivilgesellschaft“ bezeichnet. Aktuell gebe es in den römischen Behörden Bestrebungen, die zum Teil illegal errichteten und genutzten Wohnräume zu legalisieren und als Best-Practice-Wohnprojekte nachhaltig zu verankern. „Die beiden Modelle könnten nicht unterschiedlicher sein“, sagt Kurator Obrist. „In Zeiten globaler Wohnungskrise, in der sich immer weniger Menschen ein gutes Leben in der Stadt leisten können, wollen wir uns die Frage stellen, wie Wien und Rom voneinander lernen können.“

Dabei soll der denkmalgeschützte, nach Plänen von Josef Hoffmann gebaute Österreich-Pavillon in den Giardini in eine Wohnung mit Foyer, Wohnzimmer, Home-Cinema, Küche, einem Ort für unterschiedliche Rezeptexperimente also, und einem begrünten Innenhof mit temporärem Salzwasser-Pool umgebaut werden. Die Interviewpartner der dort stattfindenden Poolgespräche nehmen an einer Lotterie teil und können Übernachtungen in einem der in der Ausstellung präsentierten Wohnprojekte in Wien oder Rom gewinnen. Rote Faden- und Perlenvorhänge, typisch für den europäischen Süden, sollen den Pavillon einhüllen und in seinem Inneren strukturieren.

Politische Verantwortung

Staatssekretärin Andrea Mayer bezeichnete das Konzept für die 19. Architektur-Biennale 2025 als „wichtigen Beitrag, um abseits ästhetischer Fragestellungen auch über die soziale, kulturelle und politische Verantwortung von Architektur zu diskutieren“. Das Budget beläuft sich auf 600.000 Euro. In Zeiten, in denen SPÖ und Wirtschaftskammer so ökologisch desaströse Wahlzuckerl-Ideen wie 100.000 Euro „Eigenheimbonus“ präsentieren, scheint das Geld wertvoll angelegt.

17. Februar 2024 Der Standard

Halle für alle Turn On 2024

Das Handelszentrum HZ16 in Salzburg ist ein Ort, von dem viele träumen. Ein rougher Hub mit Sport, Medizin, Produktion, Hightech-Start-ups und Biogarnelenzucht im Keller. Mehr davon beim Architekturfestival Turn On.

Vor wenigen Tagen erst hat hier eine Hochzeit stattgefunden. Kathi und Luki haben sich, wie der Willkommenstafel in romantisch geschwungenen Lettern zu entnehmen war, das Ja-Wort gegeben. Die Halle war voll mit Blumenschmuck, bunten Fauteuils und festlich drapierten Tischtüchern. „Hochzeiten stehen nicht unbedingt auf der Tagesordnung“, sagt Marco Sillaber, „doch dafür passiert es regelmäßig, dass sich Leute und Unternehmen für Feiern und Preisverleihungen bei uns einmieten, weil sie das außergewöhnliche Ambiente zu schätzen wissen. Eine Halle wie diese wird man in ganz Österreich kein zweites Mal finden.“

Ort des Geschehens ist das Handelszentrum 16, kurz HZ16, in Bergheim bei Salzburg. Einst hatte Universal Versand hier, lange vor Ebay, Amazon und Zalando, sein österreichisches Zentrallager. 2002 wurde der 43.000 Quadratmeter große Hallenkomplex im Zuge der Logistikumstellung aufgegeben, ab diesem Zeitpunkt stand das Areal weitestgehend leer. Der Salzburger Investor und Projektentwickler Marco Sillaber, der in seiner Heimatstadt bereits das Gusswerk (Österreichischer Bauherrenpreis 2008 und 2013) und die Panzerhalle in Maxglan (2015) zu neuem Leben erweckt hatte, konnte sich als Käufer durchsetzen und riss auch dieses, äußerlich nicht sonderlich schöne Ding aus dem Dornröschenschlaf.

„Ich wollte den Bestand erhalten und mit dem arbeiten, was da ist“, sagt der 62-Jährige auf der kilometerlangen Führung durchs HZ16, „auch wenn es nicht gerade das leichteste Unterfangen ist, einer lieblosen Logistikarchitektur aus den 1970er-Jahren einen gewissen Charme herauszukitzeln. Doch den Smartvoll Architekten ist genau das gelungen. Sie haben es geschafft, den Geist des Hauses zu erhalten und die hässlichen Stützen, Betonträger und Dachuntersichten in einen neuen, ästhetischen Kontext zu rücken.“ Kommenden Samstag, den 24. Februar 2024, wird Smartvoll das Projekt im Rahmen des jährlich stattfindenden Architekturfestivals Turn On der Öffentlichkeit vorstellen.

Industrielle Rotzigkeit

Während sich der Architekturstandard hierzulande immer mehr in Richtung technischer Perfektion, aalglatter Allerweltsschönheit und verwertungstechnisch getriebenen Wegsanierens von Patina, Geschichte und Gebrauchsspuren entwickelt, entfaltet das revitalisierte HZ16 eine faszinierende industrielle Rotzigkeit. Man kann sich kaum erwehren, jede Stahlstange, jedes Metallgitter, jedes galvanisierte Stück Geländer anzugreifen und nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen zu ertasten. Die einstige Nutzung des Hauses als Hochregallager für Konsumprodukte und Europaletten wird bis zur allerletzten Schraube durchzelebriert.

„Bei Projekten wie diesen ist weniger meist mehr“, sagt Christian Kircher, Partner bei Smartvoll Architekten. „Ja nicht zu viel machen! Es reicht, einfach nur den Beton, den Stahl und die Glasbausteine für sich sprechen lassen. Und nach Möglichkeit mit dem Raum, mit dem Budget, mit der inhaltlichen Logik des Projekts arbeiten – und nicht dagegen!“ Die gold-gelblich schimmernde Oberfläche des Geländers ist nichts anderes als eine industrielle Galvanisierung, wie man sie im Baumarkt bei Schrauben, Scharnieren und Möbelbeschlägen vorfindet. „Wir mussten einen Kilometer Geländer produzieren“, so Kircher. „Jede andere Oberflächenveredelung hätte den finanziellen Rahmen gesprengt.“ Die Gesamtgestehungskosten für das privatfinanzierte Projekt – inklusive Immobilienkauf und Sanierung – belaufen sich auf unter 1000 Euro pro Quadratmeter.

Dynamische Planungszyklen

Für Philipp Buxbaum, ebenfalls Smartvoll, zeigt die schrittweise Revitalisierung des HZ16 eine neue Planungskultur: „Lineare Planungsprozesse gehören der Vergangenheit an. Gerade bei so komplexen, vielschichtigen Bestandsprojekten wie diesem müssen Architekten, Bauherren, Behörden und auch Mietpioniere eine gewisse Fluidität und Flexibilität an den Tag legen. Als wir begonnen haben zu planen, stand die Nutzung noch nicht fest, und als die ersten Bagger angerollt sind, wussten wir noch immer nicht, wer sich hier eines Tages einmieten oder als Eigentümer beteiligen wird. Wenn wir die Bestandsstadt in den Griff kriegen wollen“, so Buxbaum, der die konstruktive, außergewöhnlich kollegiale Zusammenarbeit mit den Salzburger Behörden hervorheben möchte, „wird an solchen dynamischen Planungszyklen kein Weg vorbeiführen.“

Das Risiko hat sich ausgezahlt. Vor zwei Jahren wurde das HZ16 fertiggestellt. Heute beherbergt es Fachhandel, Tanz- und Sportstudios, digitale Hightech-Start-ups, Produzenten für Skier, Küchen und Fitnessgeräte, Büroniederlassungen im Bereich Auto, Mode und Kreativwirtschaft, und im Untergeschoß befindet sich sogar eine Salzburger Biogarnelenzucht, auf dem unvergesslichen Logo eine Garnele mit Mozartperücke auf dem Kopf. Der Nutzer für die letzte noch verbleibende Freifläche steht auch schon fest: Zwischen den galvanisierten Geländern wird in Kürze ein medizinisches Großlabor für Harn-, Stuhl-, Blut- und Gewebeproben einziehen. Alle reden immer von Nutzungsvielfalt. So sieht sie in gebauter und gelebter Praxis aus.

Die aktuellen Krisen sind zur Normalität geworden. Umso wichtiger sind neue Perspektiven für die Zukunft. Was sind die Fluchtpunkte, auf die sich unsere Gesellschaft hinentwickeln soll? Dieser Frage widmet sich Margit Ulamas Architekturfestival Turn On, das am Freitag und Samstag im Musiktheater Muth über die Bühne gehen wird.

Der Freitag steht traditionell im Zeichen des interdisziplinären Dialogs zwischen Architektur, Bauwirtschaft und Bauindustrie. Diesmal mit einem Einblick in die Internationale Bauausstellung IBA’27 in Stuttgart sowie in Wohn-, Kultur-, Freizeit- und Infrastrukturprojekte in Berlin, Wien, Graz, Salzburg, St. Pölten und Prinzersdorf. Mit einer Präsentation des neuen Krallerhofs von Hadi Teherani in Leogang und einem Beitrag zum Stadtentwicklungskonzept „ISEK: Das Klimaticket zur enkeltauglichen Ortskernentwicklung“.

Am Samstag werden wie immer neun Stunden lang Architekturprojekte im Nonstop-Modus präsentiert – u. a. mit dem HZ16, Peter Haimerls Wabenhaus in München, einem Hausumbau von Claudia Cavallar, dem neuen BWM-Hotelensemble in Bad Gastein, innovativen Wohnprojekten in Wien, Tirol und der Schweiz sowie mit einem Turn-On-Talk zum umsichtigen Umgang mit Bodenressourcen.

Freitag, 23. Februar, 10 bis 19 Uhr, Samstag, 24. Februar, 13 bis 22 Uhr. Theatersaal im Muth, Am Augartenspitz 1, 1020 Wien. Eintritt frei.

1. Februar 2024 Der Standard

Im Zeichen der Pyramide

Johann Bernhard Fischer von Erlach ist als Erbauer von Karlskirche, Hofbibliothek und Schloss Schönbrunn bekannt. Die erste Sonderausstellung im neuen Wien-Museum begibt sich nun auf barocke Spurensuche.

Eine Federzeichnung aus dem Jahr 1712 zeigt den Prospect von dem großen und herrlichen Tempel der Mosque des großen Sultan Ahmed zu Constantinopol, 24 mal 21 Klafter im Grundriss, wie die handschriftliche Notiz am unteren Bildrand verrät. Darüber erheben sich sechs Minarette 21 Klafter hoch in den Himmel. Urheber der ins Büttenpapier gekratzten Federzeichnung ist Johann Bernhard Fischer von Erlach, der das barocke Wien und Salzburg in einem Ausmaß prägte wie kein anderer seiner Zeit.

Diesem wissbegierigen, fernwehgeplagten Seelenanteil des bekannten Barockarchitekten, der nur zwei Jahre nach Erstellung dieser Zeichnung den Wettbewerb zum Bau der Wiener Karlskirche gewann, widmet das wiedereröffnete Wien-Museum nun seine erste Wechselausstellung im vierten Stock: Fischer von Erlach. Entwurf einer historischen Architektur.

„Man weiß bislang sehr wenig über die Privatperson Fischer von Erlach“, sagt Kurator Andreas Nierhaus, der die Ausstellung mit dem Wiener Bildhauer und Fotografen Werner Feiersinger gestaltete. „Aber dafür umso mehr über seine Weltoffenheit, mit der er neue, fremde, exotische Bautypologien in fernen Ländern studiert und sich in sie regelrecht hineinvertieft hat.“

Im Alter von 14 Jahren bekam Fischer von Erlach ein Stipendium, mit dem er nach Rom ging, wo er zeitgenössischen Architekten wie Bernini und Borromini über die Schulter blickte.

Aus dieser Zeit speist sich seine Vorliebe für das mitunter bizarre Wechselspiel aus konvexen und konkaven Formen, die sich in seinen späteren Bauten immer wieder finden. Auch die Cestius-Pyramide, errichtet im Jahr zwölf vor Christus im antiken Rom, hat es Fischer von Erlach angetan. Obwohl dies die einzige Pyramide ist, die er je zu Gesicht bekommen hat, lässt ihn die Form in seinen Zeichnungen, Entwürfen, Skulpturen nie mehr los.

Macht der Worte

Im Zentrum der Ausstellung steht jedoch Fischer von Erlachs titelgebendes Buch Entwurff einer historischen Architectur, an dem er rund 20 Jahre lang arbeitete und das er 1721 herausgab. Eines der wenigen weltweit noch erhaltenen Exemplare, acht Kilogramm schwer, ist als gebundenes Werk wie in losen Schautafeln im Wien-Museum ausgestellt. Und der reichlich illustrierte Vorgänger des Coffeetable-Books, der sich dereinst als Bestseller mit zweiter Auflage und diversen Raubkopien herausstellte, hat es in sich – mit all seinen Moscheen, Schreinen, Tempeln, persischen Pavillons und chinesischen Pagoden, vor allem aber mit der Macht seiner Worte.

„Wann auch die in Zeichnungen sich übende Gelegenheit gewinnen, den Geschmack der Landes-Arten, (welcher, wie in den Speisen, also auch so zu reden in Trachten, und im Bauen ungleich ist) gegen einander zu halten, und das Beste zu erwählen, anbey zu erkennen, daß im Bauen zwar etwas auf eine Regel-lose Gewohnheit ankomme“, ist im Vorwort zu lesen, „wo man einem jeden Volke sein Gutdunken so wenig abstreiten kan, als den Geschmack.“

Oder wie der Kurator es zeitgenössischer formuliert: „Fischer von Erlach war mehr als bloß Architekt, Bildhauer und Erschaffer von pausbäckigen Engeln im Dienste der Kirche, als der er oft dargestellt wird“, sagt Nierhaus. „Er war der Erste, der es geschafft hat, einen fast globalen Überblick über Architektur und Baukultur zu geben, und zwar offen und neutral, ohne Klischees, ohne Wertung, ohne irgendjemandem etwas abzustreiten.“

Obwohl er selbst lediglich Rom, Berlin und England besuchte, scheute er weder Kosten noch Mühen, um an Zeichnungen und Planungsmaterial zu gelangen. Manchmal passte er Expeditionen ab, wie beispielsweise jene Gruppe von schwedischen Gelehrten, die auf dem Weg aus Palmyra im heutigen Syrien, Halt in Wien machten, um von ihnen abzuzeichnen und zu lernen.

Neuentdeckung

Aus dieser Perspektive lassen sich die 25 heute noch erhaltenen Bauwerke Johann Bernhard Fischer von Erlachs – darunter auch die Wiener Karlskirche – neu betrachten.

Beispielsweise als globale Collage aus Sultan-Ahmed-Moschee, Forum Romanum, Trajanssäule und der im 16. Jahrhundert errichteten Kirche Santa Maria di Loreto. In Zeiten von postnationalsozialistischen Kanzleramtsanwärtern und tiefblauer Daham-statt-Islam-Politik lohnt die Neuentdeckung des Fischer von Erlach. Bis 28. April

20. Januar 2024 Der Standard

Ein Jodler in die Welt hinaus

Heute, Samstag, wird in Bad Ischl die Europäische Kulturhauptstadt 2024 eröffnet. Das Salzkammergut leidet an Overtourism, Abwanderung, Leerständen, strukturellen Schwächen und immer noch kaiserlichen Klischees. Doch wie ist es um die Zukunft der einstigen Salzkammer bestellt? Das Potenzial ist enorm.

In den letzten Tagen hat das Wetter wunderbare Arbeit geleistet. „Schön zugezuckert hast du’s“, sagen die einen, „perfektes Timing“, die anderen. „Ohne Schnee wär’s zwar auch gut gewesen, aber so ist’s noch viel, viel besser.“ Global Home heißt die hausgroße Skulptur des oberösterreichischen Künstlers Herbert Egger, sechs mal vier Meter im Grundriss, zusammengenagelt aus rund tausend Leisten, aus sägerauem, unbehandeltem Fichtenholz, 5000 Laufmeter in Summe.

„Es ist ein Haus für die Natur“, sagt Egger, eingepackt in Daunenjacke und Wollmütze wie alle hier an diesem sonnigen Sonntagvormittag, zwei Grad unter null. „Denn während der Mensch in dieses globale Gebäude keinen Zutritt hat, bietet es in den Zwischenräumen zugleich ein Zuhause für Fauna und Flora. Für Samen, die angeweht werden, für Insekten aller Art, für Vögel, die hier ihre Nistplätze einrichten werden.“

An diesem versteckten Platzerl in St. Konrad, unten am Kotbach, umgeben von einem Wäldchen, wo sich kaum ein Tourist hinverirrt, entfaltet das temporäre Kunstwerk einen gewissen surrealen Zauber. Das Publikum ist begeistert. Und sogar der Grundstückseigentümer, alles andere als ein Kunstkenner, wie er selbst meint, habe das Land gerne zur Verfügung gestellt, denn schließlich, sagt er, ganz ehrlich, was solle man da unten sonst machen?

„Ordentlich Reibung“

Doch das sehen nicht alle so. Am Stammtisch oben im Ort, erzählen die Leute bei der Vernissage, Kunstschaffende und Kulturinteressierte aus dem Salzkammergut, die einen mit Prosecco-Glas, die anderen mit Bierflasche in der Hand, da höre man auch ganz andere Dinge. Wozu das Ganze! Was für eine Verschwendung von Steuergeldern! Und überhaupt, am besten, man fackelt die Hütte so schnell wie möglich ab!

„Zeitgenössische Kunst in einer alten, traditionellen Region“, sagt Elisabeth Schweeger, künstlerische Geschäftsführerin der Europäischen Kulturhauptstadt 2024 in Bad Ischl und im Salzkammergut, „ja, das sorgt schon für ordentlich Reibung. Das Salzkammergut ist zwar eine der kulturell und wirtschaftlich wohlhabendsten Regionen der Alpen, ohne jeden Zweifel, aber es ist auch eine Region, die Gefahr läuft, sich auf den Traditionen auszuruhen und steckenzubleiben. Das zeigt sich an Dirndl und Lederhose, das zeigt sich am 18. August, wenn in Bad Ischl immer noch des Kaisers Geburtstag abgefeiert wird, das zeigt sich aber auch an der lokalen Chalet-Architektur, von der nur wenige wissen, dass sie eigentlich eine Importware aus der Schweiz ist.“

Genau diese Klischees zu überdenken und ein anderes, modernes, zukunftsfähiges Salzkammergut herauszukitzeln ist die Aufgabe der Europäischen Kulturhauptstadt 2024, die – 40 Jahre nach Gründung des Formats auf Initiative der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und des französischen Kulturministers Jack Lang – nun erstmals in einer ländlichen Alpenregion ausgetragen wird. Am Samstag, den 20. Jänner, wird das Kulturhauptstadtjahr feierlich eröffnet. „Ein Jodler in die Welt hinaus“, so lautet der Programmschwerpunkt des heutigen Tages.

Pausetaste und Inspiration

Während das Format in Kulturhauptstädten wie etwa Helsinki (2000), Graz (2003), Linz (2009), Riga (2014) und Timişoara (2023) eher künstlerische und stadtkulturelle Dienste leistet und im besten Falle als atmosphärisches Beschleunigungsmittel für große Architekturprojekte verstanden werden kann, übernimmt das Hauptstadtjahr in den 23 teilnehmenden Gemeinden des Salzkammerguts eine weitaus wichtigere Funktion: Es dient als Pausetaste, Selbstreflexion und Inspirationsquelle, wie mit den bestehenden Problemen der Region in Zukunft umgegangen werden kann – ob dies nun Overtourism, Abwanderung junger Generationen oder Umgang mit Leerständen und Identitätslöchern ist.

In einem fiktiven, bislang nicht realisierten Projekt pinselt Idil Sentürk, Studentin an der TU Wien, in weißen Lettern auf die Hallstätter Dachlandschaft: „there are people living under these roofs, don’t you believe?“, und Daniel Jordan, ebenfalls Teilnehmer der Denkwerkstatt 2024, lässt das pittoreske Städtchen, das in Guangdong, China, ohnehin schon in einer spiegelverkehrten Kopie existiert, unter dem Titel Recht auf Hallstatt gleich hinter einem blickdichten Vorgang verschwinden.

Erst vor wenigen Tagen, am Mittwoch, haben Simone Barlian, Sabine Pollak, die raumarbeiterinnen sowie Studierende der Kunstuniversität Linz unter dem Titel Plateau Blo ein Saunafloß in den Traunsee gelassen. In der in Gmunden vor Anker gegangenen Schwitzhütte, so der Plan, will man in der kalten Jahreszeit Bürgermeistergespräche zu relevanten Themen veranstalten.

„Nackt sind alle Menschen gleich, die Sauna ist so gesehen ein sehr demokratischer Ort“, sagt Künstlerin Barlian. „Wir nutzen diesen Ort sozialer Wärme daher, um mit den politisch und immobilienwirtschaftlich Verantwortlichen über einen fairen, demokratischen Umgang mit Stadt, Land und See zu diskutieren.“ Hitzige Gespräche sind vorprogrammiert. So etwa auch im Herbst, wenn von 19. bis 22. September nach einem Konzept von Sabine Kienzer und Marie-Thérèse Harnoncourt in Hallstatt das dreitägige Baukultur-Symposium Interventa 2024 über die Bühne gehen wird.

Innovative Rezepte

Das Salzkammergut zählt zu den demografisch ältesten Regionen Österreichs. In einigen Gemeinden beträgt das Durchschnittsalter 48,4 Jahre (Österreich gesamt 43,2 Jahre). Allein in Bad Ischl hat sich der Anteil der über 60-Jährigen laut Statistik Austria in den letzten 20 Jahren von knapp 25 Prozent auf ein Drittel dramatisch erhöht. Umso schöner, dass nun die Jungen kommen. So wie beispielsweise Christoph Held, 39 Jahre alt, besser bekannt als Krauli, Fernsehkoch mit Dreadlocks, Küchenchef am Siriuskogl in Bad Ischl. Ab sofort behaust er das seit Jahren leerstehende Bahnhofsbeisl am ÖBB-Bahnhof Bad Ischl und verwöhnt seine Gäste im sogenannten Wirtshauslabor mit regionaler Küche und innovativen Rezepten.

Zu verdanken ist die Bewerbung Bad Ischls und seiner umliegenden Region, by the way, ebenfalls den ganz Jungen. Bereits 2014 startete Elisabeth Leitner, Kulturberaterin und Obfrau des Vereins Landluft, damals Assistentin an der TU Wien, einen Denkprozess mit rund hundert Studierenden aus ganz Österreich. Eines Tages wurden diese in Bad Ischl vorstellig und schafften es, gemeinsam mit der Gemeinde ein Konzept für die Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt auszuarbeiten. Der Rest ist Geschichte.

Die wichtigste Frage, die es 2024 zu beantworten gilt: „Wie schaffen wir es, die Region zu verjüngen, die Strukturen zu optimieren und die Baukultur weiterzuentwickeln“, so Geschäftsführerin Elisabeth Schweeger, „und zwar ohne Verrat an der Tradition?“ Zwölf Monate Zeit.

13. Januar 2024 Der Standard

Der Atem des Architekten

In den letzten Jahren hat sich das Werk des indischen Architekten Bijoy Jain, Gründer des Studio Mumbai, ziemlich verändert. Sein radikaler Wandel, der nun in der Fondation Cartier in Paris dokumentiert ist, gibt uns zu denken.

Es riecht nach Holz, nach Schilf, nach feuchtem Lehm, nach staubigem, frisch geschliffenem Stein wie in einem Steinbruch, vor allem aber steigt in der ersten Sekunde schon, kaum hat sich die Türe geöffnet, ein bissig saurer Duft in die Nase auf, als hätte der Bauer mit dem Gülletraktor eben erst die Felder gedüngt.

„Ach, das! Das ist nichts, das hat sich ja schon alles verflüchtigt“, sagt eine Aufseherin. „Sie hätten beim Ausstellungsaufbau dabei sein sollen!“ Und ja, wenig später wird sich herausgestellt haben, dass Bijoy Jain, Exponent und Kurator seiner eigenen Ausstellung in Personalunion, ein größeres Material-Œuvre verwendet hat, als man in mitteleuropäischen Gefilden gewöhnt ist.

„Kuhdung ist da, er ist allgegenwärtig, und er ist zu tausenden Tonnen verfügbar“, sagt Jain im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Warum also sollten wir darauf nicht zurückgreifen?“ In Indien, meint der 59-Jährige, der 2005 sein eigenes, mittlerweile weltberühmtes Büro Studio Mumbai gegründet hat und mit seinem Team seitdem so schöne Wohn- und Kulturbauten geplant hat, dass es einem den Atem verschlägt, habe sich Kuhdung nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Architektur als wertvolles Nutzmaterial herausgestellt. Meist werden damit – mit einer Mischung aus Kuhdung und Strohhäcksel, um genau zu sein – Erdböden und Lehmwände versiegelt.

Rümpfende Nasen

Und genau das habe er auch hier gemacht, sagt er, in der gläsernen, luftig leichten Fondation Cartier in Paris, 1994 nach Plänen von Jean Nouvel errichtet, Boulevard Raspail, 14. Arrondissement. Auf dem hellen Terrazzo im Parterre, wo sonst minimalistische, am Kunstmarkt hoch gehandelte Bilder, Skulpturen, Installationen zu sehen sind, liegt nun, in Kübeln aus der Provinz herbeigekarrt und in einer zwei Millimeter dicken Schicht aufgetragen, ein Stück landwirtschaftlicher Realität. Bei der Pressekonferenz, zu der die Fondation Cartier im Dezember eingeladen hat, stieß – rümpfende Nasen im wahrsten Sinne – Kunstschickeria auf Stoffwechselendstation, ein köstliches Bild.

„Ich werde häufig gefragt, warum ich mit diesen simplen, primitiven Materialien arbeite“, sagt Jain. „Allein die Frage ist schon falsch formuliert. Erstens sind diese Stoffe weder simpel noch primitiv, sondern von hochintelligenter Beschaffenheit, wir haben lediglich verlernt, die Potenziale zu nutzen. Und zweitens sind dies keine Materialien, sondern Medien, um meiner Arbeit physische Manifestation zu verleihen.“ Das eigentliche Material seiner Arbeit, sagt er, seien Licht, Luft, Liebe, Sonne, Wasser, Leben, Schwerkraft und der eigene, unentwegte, niemals pausierende Atem. Daher auch der immaterielle, auffällig spirituelle Titel der Ausstellung: Breath of an Architect.
Lehm, Holz und Stein

Waren auf der Architektur-Biennale 2016 in Venedig, als Bijoy Jain erstmals einem breiteren europäischen Publikum präsentiert wurde, noch Baustoffe, Werkzeuge, Arbeitsmodelle und konkrete, realisierte Projekte zu sehen, so formiert sich die aktuelle Ausstellung in der Fondation Cartier vor allem aus Fragmenten aus Lehm, Holz und Stein sowie aus teils behauenen, teils collagierten, teils aufwendig geflochtenen Skulpturen. Zu sehen ist beispielsweise eine ganze Armada an steinernen Tieren, zu Dutzenden durch den Saal marschierend, angesiedelt zwischen Hinduismus und alttestamentarischer Arche Noah, die nach dem bildhauerischen Prozess in ein milchig weißes Kaolinbad getaucht wurden. Die Tierchen weisen wunderschöne Physiognomien auf, keine Frage, man ist ganz verzückt.

Ob es sich bei den ausgestellten Exponaten um Kunst oder um Architektur handle? „Diese Frage ist banal und langweilt mich ungemein“, sagt ein sichtlich entnervter Bijoy Jain. „Es geht um die Schönheit des Lebens. Es ist alles miteinander verbunden, die Dinge entstammen alle ein und derselben Quelle, ob Kunst oder Architektur, ob drinnen oder draußen, ob du oder ich. Ich möchte aufzeigen, wer wir sind und woher wir kommen. Letztendlich sind wir alle auf den Atem zurückzuführen. Atem ist das, was uns verbindet. Atem ist überall.“

Je fortgeschrittener das Gespräch, desto größer die Missverständnisse zwischen Interviewer und Interviewtem. Noch spiritueller als in der Fondation Cartier und in der bilateralen Annäherung präsentiert sich Jain im knapp 100-minütigen Dokumentarfilm The Sense of Tuning, den die beiden Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine anlässlich der Ausstellung gedreht und in dem sie den Architekten einen Tag durch Mumbai begleitet haben – nicht nur bei seiner Arbeit, sondern auch beim Meditieren, beim Ausführen der Hunde, beim Philosophieren über religiöse Rituale.

„Ich will Architektur für die Sinne machen“, sagt er in der 55. Minute. „Und zwar nicht nur für die fünf Sinne, die wir schon kennen, sondern auch für den sechsten Sinn, der in Zukunft eine noch viel wichtigere Rolle spielen wird als heute – für die Intuition. Denn neben dem Schauen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken ist dies genau das, wie wir uns den Raum erarbeiten – in intuitiven Gedanken. Erst diese Intuition ermöglicht Präsenz.“ Hilfe!

Fassungslosigkeit

Ausstellung und Film bieten einen sehr intimen, sehr künstlerischen, sehr berührenden Einblick in das Leben eines Architekten, der in den letzten Jahren, seit seiner internationalen Erstentdeckung auf der Biennale in Venedig, eine sichtlich große Reise unternommen hat – von einem sensiblen, bauenden, das Handwerk liebenden Architekten zu einem atmenden, von alltäglichen Zwängen befreiten Künstler, fast schon Guru, der sich jedem Konkretisierungsversuch geschickt zu entziehen weiß.

Letztendlich liegt es an uns selbst, wie wir diese buchstäbliche Fassungslosigkeit Bijoy Jains interpretieren. Möglichkeiten gibt es viele. Eine davon ist, seine Position als planetaren Hilfeschrei zu verstehen und zu erkennen, wie wir unsere Baukultur, wie wir unsere Ressourcen, wie wir unseren eigenen Daseinsraum mit einer immer globaleren, immer mehr um sich wütenden Bauindustrie zugrunde richten.

„Es geht um das Bauen im Einklang mit der Natur und den Ressourcen, die uns die Erde zur Verfügung stellt, und nicht um das Ausbeuten“, sagt Bijoy Jain am Ende. „Wir haben verlernt zu atmen, und nun nehmen wir auch der Erde ihren Atem weg. I think it’s time to rest.“

Die Reise nach Paris erfolgte auf Einladung der Fondation Cartier. Die Ausstellung „Breath of an Architect“ ist noch bis 21. April 2024 zu sehen. Empfehlung Buchpublikation: „Le souffle de l’architecte“, Dokumentarfilm „The Sense of Tuning“ von Bêka Lemoine.

8. Januar 2024 deutsche bauzeitung

Konzertsaal in Karlsbad

Gestern imperiales Kurbad mit schlammigen Moorbädern, geplant von den Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer, heute radikale Musiktribüne in kräftigem Signalrot, hineinimplantiert vom tschechischen Architekten Petr Hájek. Zu Besuch in den Císařské Lázně in Karlsbad.

Kateřina Kněžíková betritt die Bühne, champagnerfarbenes Abendkleid mit glitzernden Steinchen, ein knallrotes Reflektieren am ganzen Körper. Und setzt zu den ersten Versen an: »Una donna a quindici anni, dèe saper ogni gran moda, dove il diavolo ha la coda, cosa è bene e mal cos’è.« Schon ein Mädchen von fünfzehn Jahren, singt die Sopranistin, müsse die große Kunst verstehen, wo der Teufel hat den Schwanz, was gut sei und was schlecht. Ihre Arie aus Mozarts »Così fan tutte«, so tun es angeblich alle, füllt den ganzen Raum, der Schall pflanzt sich fort bis hoch in die allerletzte Reihe. »Dèe in un momento, dar retta a cento, colle pupille, parlar con mille.« In einem Moment, zu Hunderten wechselt sie die Blicke, zu Tausenden die Worte.

Gar so viele Männer und Frauen passen in den neuen Konzertsaal nicht hinein, aber immerhin an die 300, verteilt auf insgesamt 13 Reihen, voll bestückt mit superbequemen, teufelsrot bespannten Klappsitzen, die sich bei Bedarf mitsamt Tribüne mit wenigen Handgriffen umklappen und nach hinten schieben lassen und den Saal stattdessen mit einer ebenen Kongressfläche beschenken. In welchem Zustand auch immer, das kräftige Signalrot, RAL 3001, füllt den Innenhof des ehemaligen Kaiserbads, Císařské Lázně, errichtet 1895 von den Wiener Theaterarchitekten Fellner & Helmer, und verleiht der längst stillgelegten Badeanstalt im südlichsten Talschlusszipfel von Karlsbad auf diese Weise ein immerhin theatralisches Leben nach dem Tod.

Ein Haus wird wachgeküsst

»Ich bin selbst in Karlsbad geboren und aufgewachsen und habe den Charme dieser Stadt immer schon geliebt«, sagt der Prager Architekt Petr Hájek. »Doch ich kann mich erinnern: Schon in meiner Kindheit war das Kaiserbad leer und verwaist, der Kurbetrieb bereits eingestellt. Nach vielen Jahrzehnten gab es nun die einmalige Chance, das Haus wachzuküssen und einer neuen Funktion zuzuführen.« Die Pläne zum Einbau einer Konzertbühne reichen schon viele Jahre zurück, 2018 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, doch das Projekt steckte nach zwei Jahren fest, weil die ausschweifenden Wünsche der Auftraggeber mit den baulichen, technischen Möglichkeiten und den Anforderungen der Denkmalbehörde nicht in Einklang zu bringen waren. Die Planungen wurden gestoppt.

»Daraufhin wurde ich 2020 kontaktiert und gebeten, als eine Art Troubleshooter einzuspringen und einen alternativen Entwurf auszuarbeiten«, erzählt Hájek, der schon einmal zum Architect of the Year gekürt wurde, mit einem irgendwie beelzebübischen, genussvollen Grinsen im Gesicht. Sein Erfolgsrezept: »Nicht alles ins Gebäude hineinquetschen, was man sich im Idealfall erträumt, denn damit kann man nur scheitern, sondern stattdessen auf die räumlichen Gegebenheiten reagieren und die Bauaufgabe auf das reduzieren, was der Raum und die schwierigen Parameter erlauben. Gerade in so einer fragilen, einzigartigen Situation muss man sehr sensibel vorgehen.«

Bühne und Tribüne wurden daraufhin verkleinert und als eine Art selbsttragendes Stahlmöbel in den Hof hineingestellt, die technischen und materiellen Schnittstellen wurden damit auf ein Minimum reduziert, auf Kulissen und unmittelbar angrenzende Backstage-Räumlichkeiten wurde gänzlich verzichtet, und sogar die Haustechnik konnte im Gespräch mit den Bauherren auf eine kompakte Lowtech-Sparvariante abgespeckt werden. Vor und nach dem Konzert sowie in den Pausen wird die Lüftung auf 100 Prozent hochgefahren, während der Vorstellungen hingegen fährt die Anlage auf viertel oder halbe Kraft herab, bei Tonaufzeichnungen wird sie komplett auf Standby gestellt. Aufgrund der enormen Raumhöhe von rund 20 m ist genug Frischluft für alle vorhanden. Hájek: »Ungewöhnliche Aufgaben erfordern ungewöhnliche Lösungen.«

18:53 Uhr. In wenigen Minuten beginnt das Konzert. Gleich wird Kateřina Kněžíková die Tschechischen Philharmoniker mit ihrer Sopranstimme begleiten, gefolgt von Haydn und Beethovens 5. Sinfonie in c-Moll. Während die Gäste den Saal betreten und ihre Sitzreihen auf den ebenfalls knallrot lackierten Stufen erklimmen, stehen unter der Tribüne einstweilen die Musikerinnen und Musiker, stimmen ihre Instrumente mangels Backstage-Bereich vor den Augen (und Ohren) des einströmenden Publikums ein, räuspern sich, zupfen an den Saiten, speicheln ihre hölzernen Mundstücke ein. Eine Kakophonie auf Tuchfühlung, frei von jeglichen Barrieren, mal abgesehen vom Talent der darstellenden Kunst, so simpel und basisdemokratisch hat sich die räumliche Begebung in klassischer E-Musik noch nie angefühlt.

19:00 Uhr. Wo eben noch die Besucherinnen und Besucher nach oben spaziert sind, marschieren nun die Orchestermitglieder der Tschechische Philharmonie die Treppen hoch, gewappnet mit Violinen und Bratschen, mit Klarinetten, Querflöten und ausladend gerollten Hörnern. Applaus. Wenige Momente später betritt Dirigent Tomáš Netopil die Bühne. Und schon bei den ersten Zwischenabtritten, die mangels Backstage-Bereich in diesem Gebäude lediglich angedeutet werden können, wird man als Zuschauer – wenn neben dem Stiegenabgang bald ein schwarz gekleideter Herr auftauchen wird, mit einem weißen Handtuch, keck über den Unterarm geworfen, um dem Dirigenten die Möglichkeit zu bieten, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen – unweigerlich schmunzeln müssen. Ungewöhnliche Aufgaben, hat der Architekt gesagt, erfordern ungewöhnliche Lösungen, jawohl.

Mit 4.592 Schrauben verbunden

Die Exotik liegt dem Bauwerk schon seit seiner Fertigstellung anno 1895 bis ins kleinste Detail inne. Denn ursprünglich wurde das Kaiserbad für gesundheitlich wohltuende Moorbäder genutzt. Um den Angestellten die Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes zu erleichtern und das schwere Schleppen des Schlamms zu vermeiden, diente der Innenhof als reiner Service-Hof, mit einem Stahlkran in der Mitte, der die mit Moor gefüllten Wannen durch Fensteröffnungen direkt in die Badezellen hineinschob, um sie nach dem Baden der Gäste wieder zu entnehmen und im UG des Hofs mit frischem Torf und Wasser aufs Neue zu befüllen.

»Damals clever, heute clever«, sagt Petr Hájek ganz lapidar. Um die Bauarbeiten zu vereinfachen, wurde das ehemalige verglaste Stahldach entfernt. Durch die so entstandene Öffnung konnten die geschweißten, vorgefertigten Stahlelemente, 746 Stück an der Zahl, per Kran in den Innenhof gehievt werden.

Um die Konstruktion eines Tages auch wieder zerlegen zu können, musste die Montage der einzelnen Komponenten – eine Anforderung der Denkmalbehörde – ausschließlich mittels Schraubverbindungen erfolgen. 4 592 Schrauben halten das 16 m hohe Theater-Implantat, das die denkmalgeschützten Hofmauern an keiner einzigen Stelle berühren durfte, zusammen. Erst nach Fertigstellung des roten Teufelswerks wurde das Dach wieder geschlossen – mit einem stählernen Tragwerk samt Trapezblech und Dämmung, in den Zwischenräumen des Fachwerks werden die verhältnismäßig spärlich dimensionierten Lüftungsleitungen geführt.

Aus akustischen Gründen wurde die gesamte Stahlkonstruktion mit ebenfalls signalrot lackiertem Streckmetall verkleidet. Im Überkopfbereich über dem Orchester kamen CNC-gefräste Sperrholzplatten zum Einsatz. Als Vorlage für die unregelmäßig verspielte Oberfläche mit ihrem reizvollen Licht- und Schattenspiel diente die topografische 3D-Landschaft rund um Karlsbad, irgendwie charmant. Die 300 gepolsterten Klappsitze – ein Entwurf Jean Nouvels für die Philharmonie in Paris, den Petr Hájek als Lizenz für dieses Projekt in Absprache mit dem Atelier Nouvel übernommen hat – tun ihr Übriges.

Für klassische Sinfonien, Violinkonzerte und Mozart-Arien eignet sich der Klang ohrenscheinlich ganz wunderbar, für Kammermusik und andere, atmosphärisch etwas dumpfere Musik wird man noch weitere Maßnahmen ergreifen müssen. Geplant sei, so Hájek, die hufeisenförmige Ummauerung des Innenhofs mitsamt ehemaligen Badezimmerfenstern mit einem schwarzen, raumhohen Vorgang auszustatten, den man bei Bedarf ganz oder zumindest teilweise wird schließen können. Dann wird sich der Saal mit seiner mobilen Kinoleinwand, die man hinter dem Orchester hervorzaubern kann, nicht zuletzt auch als Location für das Karlovy Vary International Film Festival noch besser eignen. Die Nachrüstung wird dem Projekt guttun.

Beethovens Fünfte ist gleich zu Ende. Die Violinen sägen sich eifrig in die letzten Schlussakkorde ein. Die Theaterbühne in Fellners & Helmers Kaiserbad, so viel ist nach knapp zwei Stunden Moll-Kunstgenuss sicher, ist ein radikaler, ungewöhnlicher, aber durch und durch schlüssiger und geglückter Bau, der dem Publikum angenehmen und mitunter begeisterten Gesprächsstoff, Klangfarbe Dur, liefert. Applaus.

23. Dezember 2023 Der Standard

Magnolien für Herrn Kennedy

In Wien-Penzing wurde kürzlich das Wohnprojekt Kennedy Garden übergeben. Die enorme Bebauungsdichte und die unglückliche Akustik werfen viele Fragen auf: Haben wir Stadtverdichtung wirklich schon zu Ende gedacht?

Im fünften Stock steht ein Mann auf dem Balkon und telefoniert. Nicht besonders laut und schon gar nicht überbordend in seinem stimmlichen Volumen, und dennoch versteht man jedes einzelne Wort. „Ja, nein, geht leider nicht, war aber ausgemacht, wann kann die Lieferung erfolgen?“ Ein paar Kojen weiter, zwei Etagen tiefer, sitzen ein paar Freunde an der frischen Luft, Prost, und unterhalten sich über den edlen Tropfen im Glas, eine Mischung aus Säure, Abgang, Wohlgefallen. Schräg vis-à-vis klirrendes Kindergeschrei, nach wenigen Sekunden wird die Terrassentür geschlossen.

Fast ist man verleitet, nach den Lautsprechern zu suchen, so unerhört gut pflanzt sich der Schall in diesem 30 mal 30 Meter großen, zehnstöckig umzingelten, mit harten Oberflächen verglasten und zubetonierten Innenhof fort. Ein akustisches Schaustück des Alltags, ein riesiges Amphitheater des Wohnens, in dem sich die Loggien um die freie Mitte gruppieren wie die Logen im Burgtheater, in der Staatsoper um Bühne und Parkett. Fragt sich nur: Wer ist hier der Schauspieler und wer das Publikum?

„Den durch häusliche Räume zum Ausdruck gebrachten Empfindungen muss nichts ungewöhnlich Liebreizendes oder Anheimelndes anhaften“, schreibt Alain de Botton in seinem 2006 erschienenen Buch Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause sein . „Zwischen den Vorstellungen von Heim und heimelig besteht keine notwendige Verbindung. Was wir Zuhause nennen, ist nur ein Ort, dem es gelingt, uns dauerhaft wichtige Wahrheiten näherzubringen, die von der weiten Welt ignoriert werden.“

Hohe Bebauungsdichte

Kennedy Garden heißt dieses Projekt, das der Wiener Wohnbauträger Buwog mitten in die historische Penzinger Vorstadtbebauung hineinstellte. Einst befand sich hier, nur wenige Schritte von der Kennedybrücke entfernt, ein großer Siemens-Bürokasten. 2013 beschloss die Buwog, das rund zwei Hektar große Areal zu kaufen und umzuwidmen. Wo einst gearbeitet wurde, wird nun mittel- bis hochpreisig gewohnt. 512 Wohnungen umfasst das Mammutprojekt unter dem euphemistischen, marketingtechnisch gut gewählten Titel „Kennedy Garden“.

Die einzelnen Wohnhäuser, nicht weniger blumig, hören auf Namen wie etwa Calla, Orchidea, Lavandula oder – wie im bildlich dokumentierten Falle – Magnolia mit insgesamt 206 freifinanzierten Eigentumswohnungen. Bis auf ganz wenige Restposten, erfährt man auf Anfrage bei der Buwog, die sich am Immobilienmarkt seit vielen Jahren mit dem Slogan „Glücklich wohnen“ positioniert, sind bereits alle Wohnungen verkauft. „Schöne Häuser“, schreibt de Botton, „scheitern nicht nur als Garanten des Glücks, sie müssen sich auch vorwerfen lassen, dass es ihnen durchaus nicht immer gelingt, den Charakter ihrer Bewohner zu verbessern.“

Doch warum ist das Grundstück – vor allem im Bereich des Bauteils Magnolia – in einer solchen Wucht vollgepfercht, die sogar die Bebauungs- und Bevölkerungsdichte einzelner Straßenblocks in Neubau, Josefstadt und Margareten übertrifft?

„In Bezug auf die Dichte ist das Projekt grenzwertig“, sagt Herwig Kleinhapl, Partner im Grazer Büro Love Architecture and Urbanism, das aus einem geladenen Architekturwettbewerb 2017 als Sieger hervorgegangen ist. „Die Bebauungsfläche und Baufluchtlinien hat die Stadt Wien in einem Bebauungsplan definiert. Hätten wir uns den Vorgaben widersetzt, wären wir wahrscheinlich disqualifiziert worden. Unsere Aufgabe war es daher, mit den strikten Vorgaben bestmöglich umzugehen.“

Bestmögliche Privatsphäre

Und ja, die Architektur reagiert auf die vorgegebene Dichte, indem sie alle Stückel der räumlichen Geometrie spielt: Die Loggien und Achsraster der einzelnen Wohnungen sind leicht verdreht und orientieren sich zur offenen Flanke des Innenhofs, die Vor- und Rücksprünge schaffen ein Maximum an Abwechslung und kleinteiliger Verspieltheit, die massiven Querschotten sorgen für bestmögliche Privatsphäre. Der Kritik tut dies keinen Abbruch, auf dem visuellen und akustischen Präsentierteller bleibt man trotzdem.

Und was sagt die Buwog selbst zum Unglück des Autors dieser Zeilen, zur Skepsis an der immobilienwirtschaftlichen Jetztzeit-Praxis? „Wir befinden uns hier in der Tat in einer hohen Bebauungsdichte, dennoch gebe ich zu bedenken: Architektur und Dichte sind ein sehr subjektives Thema“, meint Andreas Holler, Geschäftsführer der Buwog. „Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass Bebauungsdichte an der einen Stelle, Entsiegelung und Begrünung an anderer Stelle und vor allem Baukosten und Finanzierungsaspekte miteinander kommunizierende Gefäße sind.“

Neue Wohndebatte

Dank des Bauteils Magnolia, so Holler, sei es gelungen, im südlichen Teil des Areals einen großen Park mit Spielplätzen anzulegen und im gesamten Projekt generell faire, leistbare Kaufpreise zu gewährleisten. „Und was die Akustik betrifft: Jedes Projekt bringt neue Learnings und Erkenntnisse mit, so auch im Kennedy Garden. Um die von Ihnen angesprochene Schallproblematik zu verbessern, planen wir nun, die Geländesprünge und Stützmauern zusätzlich zu begrünen.“

Nachträgliche Stadtverdichtung ist gut und wichtig. Wir werden das Wachstum Wiens und anderer europäischer Großstädte nicht allein mit Bahnhofsüberbauungen und Satellitenstädten à la Aspern in den Griff kriegen. Zugleich aber beweist Kennedy Garden, dass wir noch einige sozialräumliche und stadtplanerisch-gesellschaftliche Hausaufgaben zu erledigen haben – oder aber unseren bislang gewohnten, mitteleuropäischen Wohnkomfort in puncto Privatsphäre gehörig überdenken müssen. Bevölkerungswachstum und Allüren auf Basis partikularer Interessen sind in Zukunft nicht länger vereinbar. Ein Weihnachtswunsch: Es braucht eine neue Wohndebatte.

„Im psychologischen wie im physischen Sinne brauchen wir ein Zuhause als Kompensation für unsere Verletzlichkeit“, schreibt Alain de Botton, ein letztes Mal Glück und Architektur . „Doch dann, wenn wir endlich allein sind und aus dem Salonfenster in den Garten und in die zunehmende Dunkelheit schauen, können wir langsam wieder Kontakt mit dem wahren Selbst aufnehmen, das in der Kulisse nur auf das Ende unserer Show gewartet hat.“

9. Dezember 2023 Der Standard

Aufmarsch der Badeenten

Letzte Woche hat das Hotel Badeschloss seinen Betrieb aufgenommen. Der erste nennenswerte Neubau in Bad Gastein seit langem. Aber nicht der letzte! Eine Geschichte über lustige Hotelzimmer und drohende Bettenfluten.

Wir waren zwei Tagesreisen vom Badeschloss entfernt, als durch ein verbotenes, verbotenes, verbotenes, ruckartiges Zurückwenden, durch eine Drehung aus der Schulter der gesamte, bereits zurückgelegte Weg wieder vor uns lag“, singt der deutsche Musiker Friedrich Liechtenstein in seinem Chanson Das Badeschloss. Und als hätte er es bereits damals geahnt, 2014, noch lange, bevor sich irgendein Impuls abzeichnete, bevor der erste Bagger anrollte und der Baukran die gelb-pink-königsblau gekachelte Saunalandschaft im 13. Stock fertigbetonierte: „Once upon a time, memories of them, looks like promises of Cadillacs and glam. Wir liegen Rücken an Rücken, und jeder hält sein gelbes Yo-Yo fest, wir sind made for the future.“

Wider den morbiden Charme

Seit letzter Woche ist das Zukunftsversprechen nun manifest, standfest im Ortszentrum verankert, nur wenige Meter vom Gasteiner Wasserfall entfernt, der mit 80 Dezibel die Felswand herunterkracht und die Fassade des historischen Badeschlosses mit einer eisigen Gischt umspült. Nach rund dreijähriger Bauzeit wurde das Hotel Badeschloss, das jahrzehntelang vor sich hingammelte, mit seinem zum Teil abgebrannten Dachstuhl und längst vermoosten Wänden, am 1. Dezember feierlich wiedereröffnet – und ist nach vielen, vielen Jahren der erste nennenswerte Neubau in ganz Bad Gastein.

„Bad Gastein war im 18. Jahrhundert ein Pionier des alpinen Tourismus“, sagt Lisa Loferer, Geschäftsführerin des lokalen Kur- und Tourismusverbands. „In den letzten Jahrzehnten jedoch haben viele Hoteliers verabsäumt zu investieren. Zuletzt war Bad Gastein vor allem für seinen morbiden Charme bekannt. Doch plötzlich“, meint Loferer, „wir konnten es kaum glauben, stand nach langer Zeit wieder ein Kran im Ort, ein Meilenstein für uns alle, ein Zeichen für Neubeginn.“

Bad Gastein – das sogenannte, vielzitierte Manhattan der Alpen, mit kaisergelben Villen und dramatischen Türmchen, mit Grandhotels, die auf der steilen Böschung zu gigantischen Herbergen heranwachsen. Was also läge näher, meint Erich Bernard, Partner bei BWM Architects and Designers, als sich dieser Typologien anzunehmen und die Stadt mit einem neuen, zeitgemäßen Hochhaus weiterzubauen? Mit 13 Geschoßen und 35 Meter Höhe birgt es 82 Zimmer, eine zweigeschoßige Spa-Landschaft und einen beheizten Dach-Pool mit Blick ins Gasteinertal.

Außen präsentiert sich das neuneckige Prisma als doppelschalige Betonkonstruktion mit unregelmäßig versetzten französischen Fenstern, rau, rough, brutalistisch, je nach Wetterlage scheint sich die graue Fassade vor der Felsenkulisse in ein paar gesprenkelte Pixel aufzulösen.

Innen hingegen ließ sich BWM von der namensgebenden Prämisse des 1794 errichteten Hauses inspirieren und verwandelte das Ding in ein neues, ziemlich freches Bobo-Badeschloss – mit knalligen Farben, gefliesten Schwimmstreifen und gelben Perlonbändern, die mit Chip und Kästchennummer üblicherweise unsere Handgelenke zieren und in den Zimmern nun als Schlaufe zum Öffnen der Laden und Schränke dienen.

„Es war eine wunderschöne Aufgabe, die Geschichte in die Gegenwart zu übertragen“, sagt Bernard. „Im Neubau haben wir uns mit dem Motto des Hotels ausgetobt, es ist ein Haus für Badefreunde und detailverliebte Hedonisten, die hier in die Ästhetik eines Siebzigerjahre-Hallenbades abtauchen wollen. Den Altbau hingegen haben wir behutsam saniert und aufpoliert.“ Hier befinden sich nun Lobby, Bar, Rezeption, Restaurant mit Showküche sowie 20 historische Zimmer, eines davon sogar mit zwei freistehenden Badewannen mitten im Schlafzimmer. Selbstquietschend, Badeenten überall.

Jede Menge Patina

Das Badeschloss ist nicht die einzige Neuigkeit in Bad Gastein. Genau vis-à-vis hat bereits vor wenigen Monaten das Straubinger Grand Hotel seinen Betrieb aufgenommen – mit fünf Sternen, 46 Zimmern und jeder Menge Patina und abgeblätterten Wänden, die hier auf luxuriöseste Weise ästhetisch zelebriert werden. Obwohl sich das Haus vollkommen anders am Markt positioniert (die Maybachs und Jaguars sind bereits geparkt), werkt hinter den Kulissen das exakt gleiche Team: Architektur von BWM, betrieben wird das Haus von der Berliner Travel Charme Hotel GmbH & Co. KG, im Grundbuch steht die Hirmer Verwaltungs GmbH mit Sitz in München.

Interessantes Detail: Mehr als 20 Jahre waren die beiden Liegenschaften in Besitz des Wiener Investors und „Garagenkönigs“ Philippe Duval, dem auch das Haus Austria und das denkmalgeschützte Kongresshaus gehören und der sich weigert, auch nur einen Cent in die Erhaltung seiner Immobilien zu investieren. Aufgrund von Gefahr in Verzug ist das Land Salzburg als eine Art Zwischenhändler eingesprungen und hat die beiden Häuser nach Abschluss der dringlichsten Sofortmaßnahmen zum Nullsummenspiel weiterverkauft. Duval selbst ist auf Anfrage des ΔTANDARD nicht zu erreichen.

„Die beiden Hotels sind ein schöner Impuls“, sagt Eva Hody, Landeskonservatorin Salzburg im Österreichischen Bundesdenkmalamt. „Straubinger respektiert die alte Bausubstanz, und das Badeschloss, obwohl neu, fügt sich in seiner Hochhaustypologie sowie in seiner Struktur, Farbigkeit und Materialität sehr gut in die dahinterliegende Felslandschaft. Bad Gastein zeichnet sich von jeher durch eine extreme Bebauung in Hanglage aus, mit talseitig bis zu acht- und neungeschoßigen Fassaden. Ein Turm wie dieser ist ein durchaus möglicher Weg.“

Epoche der Baukräne

Des einen Segen, der anderen Fluch: Die Revitalisierung von Straubinger und Badeschloss hat eine Handvoll internationaler Hotelketten und Projektentwickler auf den Plan gerufen. 15 Jahre nachdem Lokalmatadore wie etwa Ike Ikrath, Evelyn Ikrath und Olaf Krohne bislang sensibel auf den Ort reagiert und in den leerstehenden Immobilien nachhaltige Hotelkonzepte implementiert haben, scheint nun eine Epoche der Baukräne zu starten. Die aktuell 8500 Hotelbetten sollen auf 10.000 bis 12.000 Betten aufgestockt werden.

„Über ungelegte Eier möchte ich nicht sprechen“, sagt Gerhard Steinbauer (ÖVP), Bürgermeister von Bad Gastein. „Aber ja, Fakt ist: Einige Projekte befinden sich bereits in Entwicklung, wir sind mit den Betrieben in intensiven Gesprächen. Und wir werden uns darauf konzentrieren, Altsubstanz zu sanieren und alte, bereits gewidmete Grundstücke zu bebauen, auf denen früher schon mal ein Hotel stand. Bis zu maximal 3500 Betten sind möglich.“

Die Renaissance von Bad Gastein ist eine große Chance. „Promises of Cadillacs and glam, wir sind made for the future.“ Zugleich ist jetzt der dringliche Zeitpunkt, diese Renaissance aktiv zu planen und nicht allein fremden, ausschließlich ökonomisch fokussierten Investoren und Spekulanten zu überlassen. Es braucht dringend ein baukulturelles Leitbild, besser noch, einen unabhängigen städtebaulichen Wettbewerb. Andernfalls läuft Bad Gastein Gefahr, seinen einzigartigen Charme einzubüßen.

Die Übernachtung im Straubinger Grand Hotel erfolgte auf Einladung von Travel Charme.

2. Dezember 2023 Der Standard

Unsere Wohnung ist das weiße Papier in unserem Leben

Roland Winkler und Klaudia Ruck leiten ein gemeinsames Architekturbüro in Klagenfurt. Sie mögen sich sehr, sagen die beiden, aber zwischen Bett und Büro braucht es auch einmal eine geografische Auszeit

Das Wichtigste ist das Wohnzimmer. Der Raum ist hell, weiß, irgendwie unbelastet. Nachdem wir ja beide in der Architektur tätig sind und uns den ganzen Tag mit Raum, Funktion, Ästhetik, Gestaltung und viel Krimskrams beschäftigen, können wir uns hier entspannen und zur Ruhe kommen. Manche sagen, dass es bei uns immer so aufgeräumt ist. Die Wahrheit ist: Wir räumen nicht wirklich auf, wir sind auch nicht besonders diszipliniert, zumindest nicht in der eigenen Wahrnehmung, es schaut einfach so aus, weil wir es – nach einem langen, intensiven Tag – gar nicht anders aushalten würden.

Hinter dem Weißen, Minimalistischen verbirgt sich aber auch ein ganz anderer Grund: Eigentlich ist hier alles sehr simpel, sehr Lowtech und auch sehr billig gebaut, denn als wir vor einem Vierteljahrhundert eingezogen sind, hatten wir fast kein Geld. Die Decke mit den genagelten Dachträgern war schon hier, wir haben sie lediglich weiß lackiert. Die Fenster zum Innenhof sind übrig gebliebene, reklamierte Bauteile der Tischlerei, die hier beheimatet war. Wir haben den Restposten übernommen und die Größe des Innenhofs an die Fenster angepasst. Sogar das Bad ist komplett recycelt. Gemeinsam mit Kollegen hatten wir eine Ausstellung gemacht, nach dem Abbau wusste niemand, wohin mit den Ausstellungstafeln, und so haben wir statt einer Verfliesung das Badezimmer damit ausgekleidet. Wir sind richtige Restlverwerter! Heute würde man Kreislaufwirtschaft dazu sagen.

Ein bisschen erinnert uns die Wohnung an unser Studium. Als wir in Graz Architektur studiert haben, hatten wir einen Schreibtisch im Zeichensaal der TU. Noch lange vor CAD-Zeiten haben wir unsere Pläne ja händisch gezeichnet – mit Lineal und Tuschestift auf Transparentpapier. Und nach jedem größeren Projekt, wenn der Tisch schon schmutzig und vollgekritzelt war, haben wir die Platte mit weißem Papier neu bespannt. Das war wie ein seelisches, psychohygienisches Aufräumen! So ähnlich ist auch unsere Wohnung: Sie ist das weiße, saubere, aufgespannte Papier in unserem Leben.

Wir wohnen hier im Osten von Klagenfurt. Im Grunde genommen ist das ein klassischer Industriebau aus der Vorkriegszeit. Früher befand sich hier eine Tischlerei, später war im Erdgeschoß der Klagenfurter Modelleisenbahnverein eingemietet – mit der größten Modelleisenbahn Kärntens, bitte schön! Heute nutzt ein befreundeter Künstler den Raum als Atelier. Im ersten Stock haben wir unser Büro eingerichtet, als die Kinder kamen, haben wir den Bereich daneben zur Wohnung ausgebaut. Die beiden Fenster hinter uns sind eine Notlösung, denn die Nachbarin wollte nicht, dass wir ihr auf die Terrasse schauen. Und so haben wir diese Lamellen aus Holzbrettern gebaut. Mit einem simplen Seilzug kann man sie auch ganz zumachen.

Der Bullerjan in der Mitte des zwölf Meter langen Wohnzimmers eignet sich nicht nur zum Heizen, sondern ist auch eine Art Grenze zwischen uns beiden. Im Büro picken wir den ganzen Tag aneinander, und im Bett dann auch in der Nacht. Dazwischen brauchen wir im Wohnen etwas Distanz, eine geografische Auszeit voneinander, weil wir uns sonst nicht aushalten würden. Dem einen gehört die Couchlandschaft, der anderen der Esstisch. Das eine eignet sich zum Lümmeln, Musikhören, Fernsehen, das andere zum Lesen und Patience-Karten-Legen. Die täglich zelebrierte Trennung funktioniert wunderbar, wir mögen uns noch immer!

Auf dem Grundstück nebenan, das sich nach dem Abbruch einer ehemaligen Lederfabrik die Natur zurückerobert hat, wird in den kommenden Jahren ein gemeinnütziger Wohnbau errichtet. Das Haus wird uns ziemlich nah auf die Pelle rücken, unsere Aussicht aus dem Fenster wird auf drei Meter reduziert, wir müssen uns was einfallen lassen. Aber wir sind guter Dinge. Wir lieben es, mit Widrigkeiten umzugehen. Aus der Not entstehenden die besten Tugenden.

18. November 2023 Der Standard

Eine Werkstatt namens Westbalkan

Sarajevo ist zwar wunderschön, hat aber auch einen Haufen infrastruktureller Probleme. Der Reparaturbedarf ist enorm. Architekten, Städtebauer und sogar Kulturschaffende scheinen den Westbalkan nun neu zu entdecken.

Nach ein paar Minuten kommt der Kellner mit den Metalltellern. Ein halbes Fladenbrot, gefüllt mit zehn Ćevapčići, eine von oben wild hineingerammte Gabel, daneben ein Gupf Rahm und ein Berg aus fein gehackten Zwiebeln. Die Baščaršija, eine Art Jerusalem im Kleinen, eine Collage aus Kreuzen, Monden und Sternen, ist das Ćevapčići-Epizentrum der Welt. Hier liegt, Grillofen an Grillofen, eine Ćevabdžinica neben der anderen, die Željo, die Softić, die Mrkva, die Petica und die Hodžić, allesamt historische Familienbetriebe. Jede einzelne Familie hält ihr Rezept seit Generationen schon streng geheim.

Doch leider ist Sarajevo nicht nur eine der schönsten, sinnlich intensivsten Städte Europas, sondern zugleich auch einer der größten urbanistischen Patienten. Unter der Last der eigenen, so reichhaltigen Geschichte kam es im Laufe der Zeit zu eklatanten Brüchen – hin- und hergerissen unter den Slawen, Osmanen und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, blockfreie Teilrepublik des Vielvölkerstaats Jugoslawien, ein Hotspot von Ethnien, Kulturen und Religionen, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1984 sowie, wenig später, Tatort des drei Jahre lang andauernden Bosnischen Krieges, der der Stadt und ihren Menschen große Wunden zugefügt hat.

„Es ist viel passiert, und jede einzelne Epoche hat die Stadt auf ihre Weise weitergebaut und weiterentwickelt“, sagt die bosnische Architektin und Stadtplanerin Nermina Zagora, ihr Büro befindet sich in der 1966 errichteten Terrassensiedlung Ciglane, abgetreppt in den Hang hineingebaut, mit eigener Standseilbahn und Blick auf die ganze Innenstadt. „Die Folge ist, dass wir es heute mit einer städtischen Infrastruktur zu tun haben, die stark fragmentiert ist und die nie ein konsistentes Konzept hatte. Wir haben so viele Umbrüche und Veränderungen erlebt, wir sind irgendwie „lost in translation“.“

Der Verkehrsmasterplan stammt noch aus den 1970er-Jahren, als die Klimakrise noch in weiter Ferne lag. Das öffentliche Verkehrssystem wiederum baut auf einer einzigen Straßenbahnlinie auf, die sich wie eine eiserne Schlinge um die Bašèaršija legt, den Rest übernehmen Busse und neu angekaufte, knallgelbe Trolleybusse. Doch die größte Herausforderung ist die Erschließung der Hillside-Settlements, der sogenannten Mahalas, die in Form von einst informell errichteten Hütten, Häusern und Villen an den Nord- und Südhängen der Stadt den Berg hinaufwachsen.

Hoher Motorisierungsgrad

„Die Mahalas verleihen der Stadt ihr unverwechselbares Gesicht, sind aber auch ein großes infrastrukturelles Problem“, sagt Zagora, die letztes Jahr in Zusammenarbeit mit Dina Šamić das Buch Urban Rooms of Sarajevo herausgebracht hat. „Für eine hochwertige Verkehrsverbindung ist die Topografie zu steil, die Straßenstruktur zu verwinkelt, und die Seilbahnkonzepte, die in Anlehnung an südamerikanische Öffi-Modelle angedacht wurden, sind allesamt an den hochkomplexen Eigentumsverhältnissen gescheitert. Die Folge ist: Die meisten fahren mit dem Auto.“

Der hohe Motorisierungsgrad sowie die katastrophale Wärmeversorgung – an die 40.000 Haushalte heizen laut einer Schätzung der Umweltorganisation Eko-Akcija mit Holz, Kohle und Haushaltsmüll, manchmal sogar mit alten Autoreifen – führt dazu, dass die Feinstaubbelastung in den Wintermonaten über dem Zehnfachen des EU-Grenzwerts liegt. Aufgrund der Lage im Talkessel ist die Luftverschmutzung dann größer als in Peking, Mumbai oder Neu-Delhi. „Je nach Wetterlage“, sagt Zagora, „liegt der Rauch oft tagelang über der Stadt. Wir brauchen dringend eine Lösung.“

Die Stadt als Burek

Das weltweit tätige Netzwerk Urban Think Tank (UTT) arbeitet genau daran. Die beiden Architekten und Stadtforscher Hubert Klumpner und Michael Walczak, die an der ETH Zürich Architektur und Urban Design unterrichten, nahmen die größten Defizite Sarajevos unter die Lupe und luden Büros aus aller Welt ein, sich an der Lösungsfindung in Form von Visionen, Konzepten und Best-Practice-Beispielen zu beteiligen. Das Resultat ist eine Ausstellung unter dem Titel 100 Ideas for the Western Balkan. Designing Urban Imagineries , die im Rahmen der Architektur-Olympiade kürzlich im Europäischen Haus der Kultur in Sarajevo zu sehen war.

„Zum einen ist Sarajevo eine Stadt mit riesigen infrastrukturellen Problemen“, sagt Hubert Klumpner, „zum anderen hat man sich hier im Kaleidoskop der Geschichte immer schon weit mehr getraut als in vielen anderen Städten. Sarajevo war und ist ein urbanistisches Experimentierfeld. Auf diesem baukulturellen Erbe können wir aufbauen.“ Die Frage ist nur: Wie? Wie kriegt man den enormen Reparaturbedarf, den mehr als 40-jährigen Entwicklungs- und Investitionsrückstau in den Griff?

„Die wichtigsten Schritte sind der Ausbau des Verkehrs und des Fernwärmenetzes, die Renaturierung der Miljacka, die durch die Stadt fließt, sowie die Aktivierung von unverbauten Nord-Süd-Achsen, die im mittlerweile dicht besiedelten Talkessel von Sarajevo als wertvolle Frischluftschneisen genutzt werden könnten“, sagt Klumpner.

Ein Projekt in der Ausstellung zeigt, wie der Fluss gereinigt, das Ufer umgebaut und die titelgebende Copacabana nach Sarajevo gebracht werden könnte. Ein anderes Projekt beschäftigt sich damit, das bislang linear strukturierte Sarajevo zu einem Ring rund um den Berg Žuč auszubauen – zu einer Art „Burek“ (O-Ton Walczak) – und der Stadt auf diese Weise eine neue Mobilitäts- und Wachstumsachse anzubieten.

Aber auch überraschende Fragen tauchen auf: Wie kann man von der Olympiade 1984 profitieren? Wann kommt endlich Renzo Pianos neues Ars-Aevi-Museum für zeitgenössische Kunst? Und was tun mit all den Maroni, die rund um Sarajevo wachsen, bislang aber kaum genutzt werden? Die vom Österreichischen Außenministerium mitfinanzierte Ausstellung 100 Ideas for the Western Balkan gibt mögliche Antworten und versteht sich als lebendige Wanderausstellung, die nun über den Westbalkan touren und sich auf ihrer Reise kontinuierlich verändern wird. Nächster Halt ist die albanische Hauptstadt Tirana (ab 25. März), danach geht’s weiter nach Belgrad, Podgorica, Skopje und Priština.
Wiederentdeckung

In der Zwischenzeit wird die Wiederentdeckung des Westbalkans auch in Wien zelebriert: Die Kunsthalle Wien widmet sich in ihrer Ausstellung No Feeling Is Final. The Skopje Solidarity Collection dem künstlerischen und baukulturellen Erbe der nordmazedonischen Hauptstadt und geht der Frage nach, wie das heutige Skopje als Collage aus Kenzo Tange, Sozialbrutalismus und neobarocker Zuckerbäckerbehübschung gehegt, gepflegt und gerettet werden kann. Oder, wie Hubert Klumpner sagt: „Wir müssen unseren Blick ändern und endlich lernen, den Westbalkan neu zu lesen.“

Die Reise nach Sarajevo erfolgte auf Einladung der Sektion Internationale Kulturangelegenheiten des BMEIA. Buchempfehlung: „Architectural Guide Sarajevo“, kürzlich erschienen bei DOM Publishers.

6. November 2023 deutsche bauzeitung

Geschosswohungsbau »Rosalie« in Wien

Häuser mit Balkon sind im geförderten Wiener Wohnbau längst Standard, doch das von Gangoly & Kristiner Architekten und O&O Baukunst ist ein hellgraues, minimalistisches Schmuckkästchen: Mit viel Esprit, Disziplin und technischer Raffinesse ist es gelungen, die heterogenen Vorgaben aus Baurecht, Brandschutz und Tragwerksplanung in ein schönes, stimmiges Balkonkleid zu packen.

»Ich habe keine Ahnung, warum wir zwei Balkone haben«, sagt Arife Güner. »Einen betritt man vom Wohnzimmer aus, den anderen übers Kinderzimmer. Und schon gar nicht verstehe ich, warum die so eigenartig über Eck gehen, mit einem abgemauerten Loch dazwischen, obwohl auf der einen Seite gar kein Fenster in der Wand ist. Aber man muss ja nicht alles verstehen. Die Architekten werden sich schon was gedacht haben dabei.« Die 29-jährige Studierendenheimleiterin wohnt mit ihrem Mann Ibrahim und ihren beiden Söhnen Yiğit und Mert in einer 85-Quadratmeter-Wohnung im siebten Stock. Der flexible Grundriss, die Aussicht bis zum Wienerwald und, ja, natürlich auch die beiden Balkone, die bereits mit Tisch, Stühlen und Hängematte bestückt sind, seien für die Wahl der Wohnung mit ausschlaggebend gewesen, sagt Arife.

Tatsächlich ist das Wohnhaus in der Leyserstraße 4a, das auf den hübschen Namen Rosalie hört, eines der aktuell schönsten – und auch baurechtlich und bautechnisch komplexesten – Best-Practice-Beispiele für Balkonien in Wien. Auf Basis einer vielparametrigen Matrix aus Bauordnung, Grundstückbestimmungen, Loggien- und Balkonregelung, Respektabstand zum Baumbestand, Zufahrtsmöglichkeit für die Feuerwehr, Optionen zum Anleitern im Brandfall, Berechnung des Brandüberschlags und nicht zuletzt einer millimetergenauen Komposition zwischen Ortbeton- und Fertigteil-Elementen entstand Rosalies raffiniertes Fassadenkleid.

Dem Park gegenüber zurückgenommen

»Wir befinden uns hier im Westen Wiens, auf dem Areal der ehemaligen Theodor-Körner-Kaserne«, sagt Dominik Troppan, Projektleiter und Partner im österreichischen Architekturbüro Gangoly & Kristiner. »Eines der größten Assets dieses Grundstücks ist der reichhaltige Bestand an alten, ausgewachsenen Bäumen. Sie bieten nicht nur eine unverwechselbare, schützenswerte Atmosphäre, sondern sind auch ein wichtiger mikroklimatischer und biodiverser Regulator. Ihnen gehört die Bühne.«

Und der Anspruch an die Hauptrolle ist mehr als ernst gemeint: Auf Basis eines städtebaulichen Wettbewerbs 2016 und des siegreichen Masterplans von driendl*architects wurde die Bebauung mit knapp 1 000 geförderten und frei finanzierten Wohnungen an die Ränder des 4,1 ha großen Areals gedrängt – in Form von kompakten, bis zu 12-geschossigen Baukörpern. Auf diese Weise konnte der Park mit seinen bis zu 20 m hohen Platanen zum überwiegenden Teil erhalten bleiben. Nachdem die Baustelle fertiggestellt und die Kräne wieder abgebaut waren, hat die Fauna mit Vögeln und Fledermäusen ihren Weg wieder zurückgefunden. Ab und zu, sagen die hier wohnenden Leute, seien auch schon Habichte gesichtet worden.

»All das«, meint Troppan, »hat in unseren Entwurf mit hineingespielt. Daher haben wir uns entschieden, das Haus in seiner Außenerscheinung farblich zurückzunehmen.« Während im Eingangsbereich und in den Treppenhäusern ein pastelliges Beigerot (RAL 3012) und ein kräftiges Opalgrün (RAL 6026) dominieren, präsentiert sich die Fassade mit ihrer dreidimensionalen Balkonmatrix in nacktem Sichtbeton mit Weißzement-Zuschlag. Lediglich die mal glatten, mal sandgestrahlten Oberflächen und die um 3 cm vor- und rückspringenden Betonfertigteile verleihen dem vermeintlich einheitlichen Hellgrau eine plastische, lebendige Schattierung.

Ablesbarkeit durch Komplexität

Doch wie sieht die Komposition im Detail aus? »Um den Aufbau der Balkone zu verstehen, muss man beim Primärtragwerk anfangen«, erklärt Troppan, der das Projekt in Zusammenarbeit mit dem Büro O&O Baukunst (Markus Penell) und dem gemeinnützigen Bauträger WBV-GPA (Wohnbauvereinigung für Privatangestellte) im Rahmen eines förderbaren Kostendeckels realisierte. Bei den Geschossdecken handelt es sich um Halbfertigteildecken mit 5 cm starken Fertigteilen und 15 cm Ortbetonschicht. Die Gang- und Wohnungstrennwände bestehen aus Hohlwänden als verlorene Schalung mit Ortbetonfüllung, bei den Außenwänden wiederum handelt es sich je nach statischer Anforderung und Einbindungsmöglichkeit der tragenden Wärmedämmelemente teils um Ortbeton, teils um Fertigteilelemente. Durch den geringen Ortbetoneinsatz konnte die Bauzeit um einige Monate reduziert werden.

Schließlich die Balkone: Sowohl bei den Balkonplatten als auch bei den Brüstungen und den vertikalen, 45 cm breiten Pfeilern handelt es sich um komplett vorgefertigte Elemente, die eine scheinbare Ruhe und Einheitlichkeit ausstrahlen, bei genauerer Betrachtung jedoch einen technischen und baujuristischen Wahnsinn offenbaren, der es erforderlich machte, die Fassade in der Ausführungsplanung Stück für Stück zu detaillieren. Mit einer Toleranz von 2 cm zuzüglich 5 mm breiter Fase stoßen die Elemente aneinander. An manchen Stellen haben die Architekten mit einer 3 cm breiten Scheinfuge zugunsten einer klar ablesbaren Komposition ein wenig geschummelt.

»Der große Vorteil der Fertigteilbauweise offenbart sich in den Details«, sagt Projektleiter Troppan. »Denn mit einer Bauteilstärke von nur 11 cm schaffen wir Betonbrüstungen in Rekordschlankheit.« Hinzu kommt, dass es die Norm und die Richtlinien bei Fertigbauweise aufgrund der hohen Fertigungsqualität erlauben, bei Vorsprüngen, Balkonüberdachungen und horizontalen Parapetabschlüssen auf eine Verblechung sowie auf die Abdichtungen zu verzichten, die bei Ortbetonbauweise notwendig gewesen wären. Dies kommt v. a. dem poetischen Attikaabschluss über dem zehnten Stockwerk zugute: Ohne Blech und ohne jeden Schnickschnack ragen die dicken Kreissegmente über die Fassade und schenken dem Haus ein subtiles Krönchen. Ein wenig erinnert die Formalität an eine Tortenunterlage oder an Omas gehäkeltes Spitzendeckchen. So viel Süß, bei all der Strenge, das Schmunzeln ist nicht zu unterdrücken.

Einverleibte Stockwerksenklave

»Das ist ein wirklich schönes Wohnen hier, und am meisten gefällt mir«, sagt Stephan Gruber, »dass einem dieses Haus bei allem Kostendruck, dem der geförderte Wohnbau natürlich unterliegt, dennoch mit Schönheit und Respekt begegnet.« Gruber sitzt mit seiner Familie und seinen Nachbarn und Nachbarinnen auf der Dachterrasse im sechsten Stock, auf dem etwas niedrigeren Bauteil, der dem hohen Balkonturm wie ein kleines, kompaktes Stadthaus vorgelagert ist. Was für eine Aussicht, am Horizont die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof.

Obwohl die Dachterrasse mit ihren beigeroten, RAL-3012-lackierten Laternen allen Bewohner:innen des Hauses gleichermaßen zur Verfügung steht, kümmern sich in erster Linie die Leute der sechsten Etage darum. Die 22 Menschen nämlich, vom Baby- bis ins Pensionsalter, verteilt auf neun Wohnungen, hatten eine eigene Baugruppe gegründet und konnten in enger Absprache mit dem Bauträger die Etage nach eigenen Ermessen planen und umgestalten. Die sogenannte Baugruppe Vorstadthaus Breitensee ist Wiens einzige Baugruppe, die nicht ein ganzes Wohnhaus für sich beansprucht, sondern als Stockwerksenklave einem geförderten Wohnhaus regelrecht einverleibt wurde.

»Wir haben in der Vergangenheit bereits einige Erfahrungen mit Baugruppen machen können«, sagt Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA. »Ich halte diese Form selbstbestimmten und mitgestaltenden Wohnens im Rahmen des sozialen Wohnbaus für sehr wichtig. Eine integrierte Baugruppe jedoch, wie diese hier, hat eine besonders hohe soziale Vorbildwirkung, denn so kann die Energie der wenigen 22 Menschen aufs ganze Haus ausstrahlen.« Rechtlich fügt sich die Baugruppe mit einzelnen Mietverträgen ins übrige Haus. Die einzige Besonderheit ist ein Rahmenvertrag, in dem die Pflege von Dachterrasse, Kinderspielraum und gemeinschaftlichen Einrichtungen festgehalten wurde.

Insgesamt umfasst das Gebäude 115 Wohnungen mit Mittelgang-Erschließung, wobei jeweils ein Fenster bei der Liftgruppe und eines an einem Ende des Korridors für natürliche Belichtung in den halböffentlichen Bereichen sorgt. Im Geschäftslokal im EG, in dem ursprünglich ein Nahversorger geplant war, hat sich eine Augenklinik eingemietet. Nebenan gibt es einen Fahrrad- und Kinderwagen-Abstellraum sowie einen Kinderspielraum, von dem man in anderen Wohnhäusern nur träumen kann – hier gibt es Holzpuppenhäuser, Matratzenhöhle und sogar eine Kletterwand. Über eine riesige Glasscheibe gibt es eine Sichtverbindung in die angrenzende Waschküche. Damit ist die Rosalie – außen wie innen – ohne jeden Zweifel einer der aktuell sympathischsten Sozialwohnbauten Wiens.

30. September 2023 Der Standard

Mit dem Rollator zum Regenbogen

Schwul, lesbisch und bi. Trans und inter: Das queere Wohnen und Pflegen im hohen Alter ist oft ein Tabu. Nicht so im neuen Lebensort Vielfalt in Berlin. Ein Besuch vor Ort.

Ich habe in meinem Leben echt nichts anbrennen lassen, habe auf der ganzen Welt herumgemacht und Spaß gehabt“, sagt Peter-Lutz Dreißig. Früher, erzählt er, hatte er eine Werbeagentur, hat sich mit Katalogproduktion beschäftigt, ein Dasein zwischen Hochglanz und Deadlines, doch das ist lange her. „Mein Mann ist vor vier Jahren verstorben, wir waren 36 Jahre lang ein Paar, es war eine schöne Zeit. Und jetzt, na ja, jetzt fängt eine andere schöne Zeit an. Erstens bin ich nicht mehr der Adonis, der ich vielleicht einmal war, und zweitens kommt das Leben auch mal zur Ruhe.“

Intergenerationen-Wohnhaus

Peter-Lutz ist 78. Vor ein paar Wochen hat er seine 120 Quadratmeter große Eigentumswohnung aufgegeben und ist hierher gezogen, in den sogenannten Lebensort Vielfalt am Berliner Südkreuz, nur wenige Schritte vom riesigen Bahnknoten entfernt. Bedingt durch die günstige Verkehrssituation mit ICE, Regio und S-Bahn wurde hier in den letzten Jahren ein ganzer Stadtteil namens Schöneberger Linse aus dem Erdboden gestampft. Entstanden ist ein Quartier mit Wohnen, Gewerbe und einigen Energiekonzernen, die hier ihre Headquarter-Zelte aufgeschlagen haben.

Lebensort Vielfalt ist ein Wohnprojekt für schwule Männer, lesbische Frauen, Transmenschen, Intersexuelle und viele andere, die sich der LGBTIQA-Community zugehörig fühlen und die Angst davor haben, im hohen Alter zu vereinsamen. „Weißt du, ich stamme aus einer Generation, die ihre Sexualität und Identität lange Zeit verdrängt hat und die sich erst spät geoutet hat“, sagt Peter-Lutz, fünfte Etage, Blick in den Hof. „Wir haben viel Hass und Diskriminierung erlebt, wir haben uns unsere Sichtbarkeit und gesellschaftliche Integrität erst erkämpfen müssen. Viele von uns haben Nachholbedarf. Jetzt bin ich hier, um meine neuen Nachbarinnen und Nachbarn an der Hand zu nehmen – und uns noch ein paar feine Jahre zu gönnen.“

Alter, Pflege, Homosexualität. Ein sensibles Thema. Oft ein Tabu. Die Schwulenberatung Berlin, eine Pionierin auf diesem Gebiet, hat sich dieser Aufgabe schon vor vielen Jahren angenommen und hat 2012 in der Niebuhrstraße, Berlin-Charlottenburg, das europaweit erste Alten- und Pflegeheim für Lesben und Schwule eröffnet. Fünf Jahre später folgte am Berliner Ostkreuz ein LGBTIQA-Haus mit Wohngemeinschaften. Und nun ist am Südkreuz das bislang größte Projekt mit insgesamt 69 Wohnungen und einem zweistöckigen Sozialberatungszentrum entstanden. Am Freitag, dem 6. Oktober, wird das Haus feierlich eröffnet.

„Seit unserem ersten Altenwohnprojekt vor elf Jahren haben wir viel dazugelernt“, sagt Geschäftsführer Marcel de Groot. „Wir wissen heute, dass die Altersgruppe nicht zu homogen sein darf. Erstens ist das in sozialer und kommunikativer Hinsicht ein Nachteil, zweitens sind wir als Verein komplett überfordert, wenn plötzlich das halbe Haus pflegebedürftig wird. Daher haben wir uns entschieden, dieses Projekt als Intergenerationen-Wohnhaus zu konzipieren. Es geht um gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Alltag. Dazu braucht es Jung und Alt.“

Neben vielen Senioren und Seniorinnen im Alter von 70, 80, 90 Jahren sind hier auch einige 30- und 40-Jährige eingezogen: Ärztinnen, Sozialarbeiter, Studierende. Mit einem Konzeptpapier und Motivationsschreiben konnten sich die jungen Leute für eine geförderte oder freifinanzierte Lebensort-Wohnung bewerben. Eine Weltpremiere der Inklusion und gesellschaftlichen, intergenerativen Integration befindet sich im Erdgeschoß: Im Kindergarten „Rosarote Tiger und Gelbgrüne Panther“, ebenfalls betrieben von der Schwulenberatung Berlin, gibt es Platz für 90 Kids.

„Rund ein Drittel unserer Kinder stammen aus Regenbogenfamilien im Haus oder auch aus dem Kiez“, sagt die Kindergartenleiterin Silke Leifheit. „Die restlichen 70 Prozent kommen aus ganz normalen Familien, was auch immer das sein soll, weil sich die Eltern für ihre Kinder eine offene, lebensbunte, im Herzen tolerante Umgebung wünschen.“ Hier lernen die Kinder nicht nur Nonbinärität, Männer mit Nagellack und den Umgang mit Personalpronomen wie they/them kennen, sondern auch, dass das erfolgreiche und dringend benötigte pädagogische Konzept längst nicht allen gefällt. Immer wieder verirren sich ein paar AfD-Sympathisanten mit gar nicht so bunten Fahnen hierher, um vor dem Kindergarten gegen den Lauf der Welt zu demonstrieren.

Pinke Buchstaben

„Damit werden wir schon fertig“, sagt Marcel de Groot. „Ich bin davon überzeugt, dass jedes Lebenskonzept auf dieser Welt, um zu erstarken und selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft zu werden, ein Symbol, eine bauliche Manifestation benötigt, und die ist uns hier wunderbar gelungen. Und nachdem wir als Verein hier nicht nur eingemietet sind, sondern das Grundstück mithilfe von Spenden, Krediten und Erbschaften gekauft und das Wohnhaus eigenständig errichtet haben, können wir die soziale, kulturelle, pädagogische Nutzung nachhaltig sicherstellen.“ Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt 25 Millionen Euro, davon machen die Nettobaukosten rund 17 Millionen Euro aus.

Der Lebensort Vielfalt, entstanden nach Plänen von Roedig Schop Architekten, die den Masterplan für die Schöneberger Linse erstellt und mit der Schwulenberatung Berlin schon öfter zusammengearbeitet haben, ist Resultat eines sogenannten Konzeptverfahrens, ausgeschrieben vom Land Berlin, bei dem unterschiedliche Sozialträger gegeneinander antreten mussten. Fraglich, ob ein konkurrierender Prozess zwischen unterschiedlichen Vereinen und LGBTIQA-Plattformen dafür der richtige Weg ist. Im Laufe der Jahre sind viele Tränen geflossen. Doch das Resultat entschädigt. In pinken Buchstaben leuchtet die Botschaft dieses Hauses über dem Eingang: Lebensort Vielfalt. Bald wird die Regenbohnenfahne gehisst.

Durch die Welt knutschen

Es ist ein vielfältiger Lebensort für Hardy Selzer (76), der in der Pandemie gemerkt hat, wie sehr er auf soziale Kontakte angewiesen ist, obwohl er früher immer streitsüchtig war. Für Gregory Peercy (59), der in einer Kleinstadt in Kentucky aufgewachsen ist und sich selbst nach einem psychischen Breakdown als „maybe a little bit crazy“ bezeichnet. Für Monika Mayerhofer-Kammann (75), die mit ihrer Ehefrau Elke, einer ehemaligen DDR-Hochleistungssportlerin, im Leben nicht immer mit offenen Armen empfangen wurde, nun aber das Gefühl hat, endlich angekommen zu sein.

Oder für Karl-Heinz Skupin (80), der sich in seiner Jugend durch die Welt geknutscht hat und der mit seinem Mann Hans-Georg in eine 60-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock gezogen ist. „In diesem Alter nochmal umziehen! Doch jetzt haben wir einen Ort, wo wir zwei alte Dackel vor dem Haus auf der Bank sitzen werden und nochmal das Leben Revue passieren lassen können. Selbst wenn wir uns eines Tages im Rollator durch die Gegend schieben müssen: Das ist jetzt unser Zuhause.“

Ähnliche Wohnprojekte wurden kürzlich in Köln, Lyon und Stockholm realisiert, in Planung sind Rom, Marseille und Barcelona. Möge die Idee mit dem Rollator in die Welt ausgerollt werden.

16. September 2023 Der Standard

Kaczyńskis neue Camouflage

Zwei neue Museen in Warschau, das eine wunderschön, das andere von gigantischem Ausmaß, beweisen: Rechtsradikale Propaganda-Architektur ist Instagram-tauglich geworden.

Es ist, als würde sich der Beton samtig, streichelweich anfühlen. Als wäre das Haus in eine dicke Fischgrät-Strickdecke gehüllt. Als fühlte man sich warm und geborgen. „Genau das war unser Ziel“, sagt Krzysztof Budzisz, Partner im Warschauer Architekturbüro WXCA. „Vor vielen Jahren schon hatten wir die Idee, die Fassade als monolithisches Relief in diesem sinnlichen Ornament abzugießen. Es war ein langer Weg dahin, mit vielen Modellen und vielen, vielen unterschiedlichen Betonrezepturen, die wir ausprobiert haben. Doch die Arbeit hat sich gelohnt. Jetzt stehen wir da, vor der wahrscheinlich schönsten Fassade, die uns je gelungen ist.“

Entwickelt wurde das Projekt in Zusammenarbeit mit dem englischen Ingenieurspezialisten Buro Happold. Für die knapp acht Meter hohen Fassaden, die nicht als Fertigteile produziert, sondern direkt vor Ort im klassischen Schalungsbau gegossen wurden, musste eine eigene Silikonmatrize entwickelt werden. Mit Erfolg, das Ergebnis ist auf den Millimeter genau abgebunden, die Grate im warmen, ziegelroten Beton mit einer Kante wie vom Bildhauer. Schon jetzt, wenige Wochen nach Fertigstellung, wurde der Bau von Baufirmen und Betondelegationen aus aller Welt besucht.

Doch Achtung, in seinem materiellen – und noch mehr in seinem immateriellen – Inneren lauern große Überraschungen. Kaum hat man das Museum betreten, galoppieren historische Ritter durch die Hallen, mit Lederstiefeln und Kettenhemd bekleidet, nebenan eine ganze Batterie an Rüstungen und Speeren, überall polnische Fahnen und Flaggen von der Decke hängend, und dann schließlich, ein dramatischer Hintergrund wie im Schützengraben, ein sowjetischer Panzer, Modell T-34 mit 76-Millimeter-Rohrkanone, Baujahr 1943.

Polnische Geschichte

Das Museum der polnischen Armee, in Auftrag gegeben vom polnischen Verteidigungsministerium, Resultat eines internationalen Architekturwettbewerbs 2009, ist ohne jeden Zweifel eines der schönsten zeitgenössischen Bauten in ganz Warschau. Und plötzlich versteht man, dass es sich beim Zickzackmuster der Fassade, die man eben noch begeistert gestreichelt hat, um eine Anspielung auf Abzeichen und militärische Uniformapplikationen handeln muss.

Das Armeemuseum ist das erste, bereits eröffnete Kulturprojekt auf der Warschauer Zitadelle, die in den 1830er-Jahren von der Armee des Russischen Reiches errichtet und die längste Zeit vom polnischen Heer genutzt wurde. Bis vor wenigen Wochen war das 32 Hektar große Areal militärisches Sperrgebiet, nun steht es der Öffentlichkeit als grüne und kulturelle Oase zur Verfügung. So der offizielle Wortlaut dieser derzeit größten Museumsbaustelle Europas.

„Die Zitadelle war immer ein unbeliebter, negativ konnotierter Ort in Warschau“, sagt Budzisz. „Der Rückzug des Militärs und der Rückbau der Kasernengebäude bieten nun die Chance, den Park mit seinem riesigen Baumbestand als Naherholungsgebiet und Kulturquartier zu nutzen. Schließlich ist dies ein geschichtsträchtiger, historisch wertvoller Ort. Unser Traum ist, dass die Zitadelle bald wieder als ein Stück Stadt wahrgenommen wird.“

Die Chancen stehen gut, denn das 300 Millionen Złoty teure Projekt (rund 65 Millionen Euro) steht nicht allein da. Am 29. September wird das neue Museum der polnischen Geschichte eröffnet, ein gigantischer Bau aus weißem Marmor, 200 Meter lang, 60 Meter breit, 24 Meter hoch, Baukosten 650 Millionen Złoty (140 Millionen Euro), ebenfalls von WXCA geplant, mit Bühne, Konzertsaal, Amphitheater, Bibliothek, Werkstätten, Restaurant und Dachterrasse mitsamt Mirrorpool, in dem sich die Warschauer Skyline spiegelt.

Weltweite Aufmerksamkeit

Doch noch besser stehen die Chancen, dass die nationalistische, rechtspopulistische Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit), die das Land seit 2015 regiert, das 2009 gestartete Architekturprojekt dazu verwendet, sich ein Denkmal zu setzen und in der Bevölkerung zu suggerieren, eine moderne, weltoffene Partei zu sein, die in der Lage ist, Projekte zu realisieren, die weltweit für Furore sorgen. Es gibt kaum ein internationales Onlineportal im Bereich Architektur und Design, das in den letzten Wochen nicht darüber berichtet hätte. Mit tollen Fotos von leeren Räumen. Die Panzer, Waffen und Camouflage-Exponate sind darauf freilich nicht zu sehen.

Ebenfalls nicht kommuniziert wird die Tatsache, dass das bereits fertiggestellte Museum der polnischen Geschichte noch keine Dauerausstellung hat, dass die 7000 Quadratmeter große Halle im ersten Stock Rohbau ist und überhaupt erst noch befüllt werden muss, dass die Mitarbeiter und Mitglieder der Wissenschaftsbeiräte der beiden Museen ein Naheverhältnis zur PiS haben oder sogar mal ein politisches Amt innehatten, dass die Architekten den Platz zwischen den Museen begrünen wollten, was von der PiS allerdings verhindert wurde, weil sie ihn in Zukunft für politische Paraden nutzen will, dass das Armeemuseum demnächst einen Zwillingsbau erhält, in dem es dann nicht nur Panzer und Kampfflugzeuge geben wird, sondern auch Café, Kino und – jawoll – einen Schießstand zur freizeitlichen Beschäftigung.

„Die Museen, die unter der PiS-Regierung in den letzten Jahren gebaut oder personell neu besetzt wurden, sind nichts anderes als Lügen- und Inquisitionsmaschinen“, sagt der polnische, in Wien lebende Schriftsteller Radek Knapp, Autor des mittlerweile aktualisierten Buches Gebrauchsanweisung für Polen . „Je leerer und sinnentleerter die Politik, desto größer sind die von ihr geschaffenen Gebäude. Dass sie leerstehen, spielt keine Rolle.“

Scheinliberale Lebenssprache

Noch schärfer formuliert es der Warschauer Architekt, Kulturtheoretiker und Universitätsprofessor Jakub Szczęsny: „Manche dieser Institutionen sind bis in die Führungsebene hoch von Rechtsradikalen durchseucht, deren einziges Interesse es ist, die Geschichte und die Realität zu manipulieren und ihre Häuser als Propagandawerkzeug für Jarosław Kaczyńskis Vision eines heroischen, völkisch reinen Polens zu nutzen. Sie beherrschen das skrupellose Spiel genauso gut wie Orbán, Putin und Trump.“

Bei der Parlamentswahl in Polen 2019 erzielte die PiS mit 43,6 Prozent das beste Wahlergebnis, das eine Partei im demokratischen Polen je erreichte. „Und so, wie man die rechtskonservativen Wähler auf der Straße nicht mehr erkennt, weil sie mittlerweile eine moderne, scheinliberale Lebenssprache beherrschen, sind auch die baulichen Machtsymbole einer ultrarechtskonservativen, fast schon nationalsozialistischen Regierung nicht mehr als solche zu erkennen. Die Architektur des Bösen ist instagrammable geworden.“

2. September 2023 Der Standard

Per Propeller durch die Stadtgalaxis

An Passagierdrohnen wird bereits seit geraumer Zeit gearbeitet. Doch wo und wie werden die Flugobjekte in unseren Städten starten und landen? In diese Forschungs- und Entwicklungslücke hat sich nun der Berliner Flughafenplaner AMD.Sigma hineingesetzt.

Passenger W. Czaja, your e-flight from Dubai Jumeirah E-Hub to Abu Dhabi Marina Vertiport is ready for boarding. Please proceed to gate number X12. Airtaxi take-off in ten minutes.“ Mit dem Handgepäck geht es zum kleinen Cityairbus, drei Propeller an jedem Flügel, zwei weitere auf der Heckflosse, unübersehbar das charakteristische Branding von Emirates Next, Gesamtkapazität vier Personen, die Türen schließen, kurz darauf wird die Drohne zum Abflugpunkt gezogen, die Motoren starten, ein lautes Surren, in einer vertikalen Linie steigt das Ding in Sekundenschnelle nach oben.

Geht es nach dem Berliner Architektur- und Consulting-Büro AMD.Sigma Airport Management und Development GmbH, könnte diese Vision bereits innerhalb dieses Jahrzehnts Realität werden. „Und damit“, meint Olaf Bünck, Senior Manager, zuständig für strategische Flughafen- und Vertiport-Entwicklung im Unternehmen, „wird sich die urbane und interurbane Mobilität massiv verändern. Sie wird schneller und multimodaler – und trägt zu einer grünen, CO₂-reduzierten Mobilität bei.“
Vertiports

AMD.Sigma, eine Tochter der Flughafenbetreibergesellschaft Munich Airport International (MAI), ist darauf spezialisiert, Flughäfen zu planen, von der Entwicklung von Master- und Businessplänen bis hin zu Beratungsleistungen im Bereich Umbau, Ausbau, Sanierung, Übersiedlung, Baugenehmigung, Prozessentwicklung, Projektmanagement und strategische Neuausrichtung. Im Portfolio finden sich München, Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Sofia, Istanbul, Abu Dhabi, Kuwait, Bangkok, Newark und Rio de Janeiro. Zu den aktuellen Consulting-Kunden zählen aber auch kleinere Flughäfen wie etwa Salzburg und Klagenfurt.

Als erstes Büro dieser Art weltweit beschäftigt sich AMD.Sigma nun auch mit Drohnenflugverkehr, Drohnenflughäfen und den damit verbundenen Auswirkungen auf Stadt, Architektur und Verkehrsplanung. Der Fokus richtet sich dabei vor allem auf die Standortfindung, Entwurfsplanung und Infrastrukturentwicklung von Drohnenflughäfen, sogenannten Vertiports. Im Fachjargon werden die elektrisch betriebenen Drohnen daher auch eVTOLs genannt. Die etwas sperrige Abkürzung steht für Electric Vertical Take-off and Landing Aircraft.

Hinter den Kulissen ist das Thema weitaus fortgeschrittener, als vielen bewusst ist. Das OECD International Transport Forum (ITF) arbeitet schon seit Jahren an rechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für Drohnen zur Beförderung von Menschen, ein entsprechendes Paper wurde bereits von mehr als 50 Ländern aus aller Welt ratifiziert. Die European Union Aviation Safety Agency (EASA) hat vor einigen Monaten ein Manual für die Vertiportplanung und Einflugschneisen herausgegeben. Und in Zürich – einer der Pioniere der frühen Entwicklungsphase – fliegen zwar noch keine Menschen, in medizinischer respektive transplantiver Mission sehr wohl aber schon deren Organe und Blutkonserven durch die Lüfte.

„Weltweit gibt es rund 600 Tech-Unternehmen, die sich mit der Entwicklung und Optimierung von Drohnenkonzepten befassen“, sagt Bünck. „Es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis die ersten eVTOLs zertifiziert und für den zivilen Luftverkehr zugelassen werden. Gleichzeitig aber gibt es bislang nur wenige Überlegungen, wie diese neue Verkehrstechnologie in bestehende Städte integriert werden kann. Und genau hier setzen wir an. Wir entwickeln Architektur- und Refurbishment-Modelle für Vertiports im urbanen und suburbanen Raum.“

Nicht wie im Sci-Fi-Film

Die weitverbreitete Annahme, dass Passagierdrohnen von bestehenden Großflughäfen wegfliegen und – wie in Science-Fiction-Filmen immer wieder dargestellt – auf irgendeinem Hochhaus landen werden, muss der Drohnenexperte relativieren. Auch das Andocken an einen klassischen Großflughafen ist komplexer, als man annehmen möchte. „Höhenwinde, Luftverwirbelungen und infrastrukturelle Anforderungen wie etwa elektrische Ladeeinrichtungen sind alles andere als trivial“, so Bünck. „Das alles sind große technische Herausforderungen. Kein unüberwindbares Hindernis zwar, aber eine komplexe Planungsaufgabe.“

Für viel wahrscheinlicher hält Bünck die Errichtung von Vertiports auf städtischen Freiflächen mit einer Mindestfläche von rund 10.000 Quadratmetern. Der Großteil des Areals entfällt auf Infrastrukturflächen wie etwa Lande- und Parkflächen für die Fluggeräte, PV-Anlage, Trafostation und Wartungsflächen sowie auf den sich trichterförmig nach oben öffnenden Luftraum für Start- und Landemanöver. Als Alternative könnte man auch bestehende Hochgaragen zu Mobility-Hubs ausbauen und – analog zum heute schon üblichen Park-and-Ride-Konzept – als Park-and-Fly-Anlagen nutzen. Pläne und Konzepte wie diese liegen im Büro von AMD.Sigma zuhauf auf dem Tisch.

Aktuell arbeiten die Berliner Architekten an einem Forschungsprojekt unter dem Titel InterRegional eAirport . Ziel dieser Studie ist es, eine enorme, in vielen Ländern Europas schlummernde Ressource zu nutzen. „Allein in Deutschland gibt es eine Vielzahl an kleinen Regionalflughäfen“, sagt Geschäftsführer Adam Symalla, „und viele davon sind defizitär oder stehen kurz vor dem wirtschaftlichen Aus. Diese bestehenden Infrastrukturen könnten allein schon aufgrund ihrer Größe durch Solarparks ergänzt und mit Vertiports kombiniert werden.“ Auf diese Weise, so Symalla, könnte man neben dem primären internationalen Flugnetz ein sekundäres, dezentrales, interurbanes Flugdrohnennetz aufbauen.

Stadtplanung hinkt hinterher

Die Entwicklung wird kommen. EU-Politik, Gesetzgebung, Flugindustrie und vor allem eine ganze Batterie an global agierenden Unternehmen, die sich mit hocheffizienten Ladetechnologien beschäftigen, sind in ihrer Arbeit weit fortgeschritten. „Bloß Architektur und Stadtplanung hinken noch hinterher“, meint Symalla. „Und das ist bedauerlich, denn wenn wir uns dieser künftigen Planungsaufgabe nicht annehmen und gute, intelligente Lösungen im Einklang mit der europäischen, historisch gewachsenen Stadt erarbeiten, dann geben wir das Zepter aus der Hand – und die Industrie wird diese Aufgabe im Alleingang lösen. Wollen wir das wirklich zulassen?“

Im Büro AMD.Sigma wird die nächste Powerpoint-Slide eingeblendet. Streng vertraulich, das Projekt ist noch unter Verschluss. „Das Thema ist zu reizvoll und im Sinne einer nachhaltigen Urban Mobility auch viel zu wichtig.“ Wann wird man mit eVTOLs von der Berliner City an die Ostsee fliegen können? „Früher, als Sie glauben!“

5. August 2023 Der Standard

Kann das Schiff da rauf?

„Kann die Wand da weg?“ Diese Frage stellt sich aktuell eine Münchner Ausstellung, die auf lustige und niederschwellige Weise einen Blick hinter die konstruktiven Kulissen der Architektur wirft.

Gleich neben der Münchner Großmarkthalle, nur wenige Winkelsekunden von der Isar entfernt, man traut seinen Augen kaum, ist auf der ehemaligen Eisenbahnbrücke ein Schiff vor Anker gegangen. „Und so ein Projekt“, sagt Thomas Beck, seines Zeichens Tragwerksplaner, im täglichen Sprachgebrauch den meisten eher als Statiker bekannt, „hat man nicht alle Tage. Für uns war die Berechnung und tragwerksplanerische Konzeption eine ziemliche Challenge, bei der wir sehr kreativ sein mussten, denn die Rahmenbedingungen waren mehr als verschärft.“

Was ist passiert? Einst war die MS Utting, Baujahr 1949, ein beliebtes Ausflugsschiff auf dem bayrischen Ammersee. Aufgrund technischer Mängel musste das 36 Meter lange Boot 2016 aus dem Verkehr gezogen und durch einen zeitgemäßen Nachfolger ersetzt werden. Daniel Hahn, ein wilder Hund in der Münchner Gastroszene, hatte die Idee, das ausgemusterte Ding zu kaufen, über der Lagerhausstraße zu parken und ihm neues Leben einzuhauchen – als Bar, Restaurant und Event-Location.

„Als wir das Projekt in Angriff genommen haben, war gerade Februar, das Schiff lag teilweise in gefrorenem Wasser“, erzählt Beck, Partner bei A.K.A. Ingenieuren. „Hinzu kommt, dass es fast keine Planunterlagen gab, mal abgesehen von einem alten, mäßig aussagekräftigen Spantenriss. Anhand der Wasserlinie, der Geometrie des Rumpfes und der Größe des Aufbaus waren wir gezwungen, das Schiffsgewicht zu schätzen. Die größte Erschwernis war, dass wir vom Auswassern im Ammersee bis zur Montage in München-Sendling ein Zeitfenster von einem Tag hatten. Es gab keinerlei Möglichkeit, einen Geometrieabgleich zu machen. Das ist echt verschärft!“

Mithilfe von Bockgestellen und unterschiedlich dimensionierten Holzkeilen, die in der Lage waren, Planabweichungen aufzunehmen, ist es gelungen, ein flexibles Tragwerkskonzept zu erstellen und das Schiff auf der stillgelegten Eisenbahnbrücke passgenau abzustellen. Sobald die beiden Krane ihre Arbeit erledigt hatten, konnte der Rumpf untermauert und mit einem massiven Fundament gestützt werden. Seit fünf Jahren ist das ehemalige Schiff, das mittlerweile auf den Namen Alte Utting hört, in Betrieb.

Diesen und vielen anderen Geschichten aus der Welt der Tragwerksplanung widmet die Architekturgalerie München im Bunker aktuell eine Ausstellung. Unter dem genialen, aus dem Alltag gegriffenen Titel Kann die Wand da weg? werden Projekte und Schlüsselmomente aus Thomas Becks beruflichem Leben geschildert. „Und ja“, sagt er, „die Frage, ob die Wand da, die Stütze da oder die Decke da wegkönne, die hört man als Tragwerksplaner, sobald man mit Bauherren in der Bestandssanierung zu tun hat, ziemlich regelmäßig.“

Für Nicola Borgmann, Direktorin der Architekturgalerie, ist es nicht das erste Mal, dass sie sich dem Thema widmet. Schon einmal, 2016, offenbarte sie in einer Ausstellung über die waghalsigen Hochhäuser und gigantischen, hauchdünnen Pencil-Skyscrapers des global tätigen, in New York ansässigen Ingenieurbüros SOM Skidmore, Owings & Merrill einen Blick hinter die konstruktiven Kulissen der Architektur.

„Architektur und Tragwerk sind untrennbar miteinander verbunden“, meint Borgmann, „und doch versteckt sich das eine Metier oft hinter dem anderen. Abgesehen von ein paar Architekturikonen wie etwa Centre Pompidou in Paris, Lloyd’s Building in London oder Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin ist eine sichtbare, nachvollziehbare Konstruktion meist nicht erwünscht. Schade.“ Das bestätigt auch Beck. „Manchmal werden wir Tragwerksplaner einfach nur als Rechenknechte eingesetzt. Dann machen wir halt unseren Job und rechnen aus, was die Architekten sich wünschen, das ist schon okay. Aber die Großartigkeit unserer Arbeit startet dort, wo man grübeln, sich austoben und in enger Zusammenarbeit mit Bauherren und Architektinnen eine co-kreative Lösung schaffen kann.“ So wie die letzte Fahrt der MS Utting, die neben vielen anderen Projekten in München dokumentiert ist.

„Kann die Wand da weg?“ Bis 29. 9. in der Architekturgalerie München.

„Rechenknechte sind wir schon lange nicht mehr! Mittlerweile, habe ich das Gefühl, ist unsere Expertise in Fachkreisen anerkannt und wird auch sehr geschätzt. Natürlich ist nicht jedes einzelne Projekt, an dem man arbeitet, eine Neuerfindung des Rades, aber manche schon. Es gibt nichts Schöneres, als gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten und ein Gebäude wachsen und entstehen zu sehen.“
Klaus Bollinger, Bollinger & Grohmann

„Ich empfinde meinen Job nach vielen, vielen Berufsjahren immer noch als herausfordernd. Jeden Tag gibt es neue Fragen und neue Aufgabenstellungen. Die Normen und Bauordnungen ändern sich ständig, und dann erst die neuen Software-Releases! Ich mag diese Abwechslung und die Zusammenarbeit mit spannenden, interessanten Bauherren und Architektinnen. Mir wird nie fad.“
Gretl Salzer, Wien

„Für die Landesausstellung Steiermark in Herberstein haben wir kürzlich einen neuartigen kraftschlüssigen Verbindungsknoten aus Holz entwickelt. Das war handwerkliches Engineering vom Feinsten! Ich mag diese Momente, wenn einem der Knopf aufgeht. Und selbst, wenn man was ganz Neues, noch nie Dagewesenes macht, ist man als Ingenieur immer auf der sicheren Seite, denn wir können alles immer auch berechnen.“
Peter Bauer, Werkraum, Vizepräsident, Kammer der ZiviltechnikerInnen Wien, Niederösterreich, Burgenland

„Für die Formel 1 und den MotoGP haben wir vor einigen Jahren eine mobile Red-Bull-Energy-Station entwickelt. Ein hochkomplexer Bausatz, der so konzipiert werden musste, dass man ihn innerhalb von wenigen Stunden auf- und wieder abbauen kann. Wenn man dann in Monaco steht und dabei zuschaut, wie ein dreigeschoßiges Holzhaus auf einem Lastenfloß in den Hafen geschippert wird … das ist schon wow!“
Kurt Pock, KPZT, Klagenfurt

„Eigentlich wollte ich in Bulgarien Architektur studieren, aber dann ist es doch Bauingenieurwesen geworden. Das Gute daran: Ich betrachte Tragwerksplanung aus der Sicht der Architektin und kombiniere technisches Fachwissen mit einem ästhetischen Gespür. So entstehen wunderbare, manchmal ziemlich komplizierte Juwelen.“
Neli Rachkova- Anastassova, Wien

22. Juli 2023 Der Standard

Hinterholz 101

Ein altes, baufälliges Gründerzeithaus am Stadtrand von Leipzig. Was tun? Das außergewöhnliche Architekturbüro Summacumfemmer hat sich des Patienten angenommen und ihn nicht saniert, nicht renoviert – sondern einfach nur repariert. Ein Besuch.

Der Putz abgeschlagen, die gesamte Fassade einfach nur mit Romanzement geschlämmt. Für ein hochwertiges Stiegenhaus kein Geld, stattdessen ein simples Bauprovisorium, aus handelsüblichen Schichtholzplatten zusammengebastelt. Fenster vom Fensterproduzenten, ebenfalls Fehlanzeige, zu teuer, zu aufwendig im Einbau, viel zu lange Lieferzeiten, es geht auch anders, einfache Zwei-Scheiben-Fixverglasungen zum Beispiel, mit Gummidichtungen und Klammern an die Mauerlaibung geschraubt, das tut’s fürs Erste auch.

„Wenn wir ein altes, in die Jahre gekommenes Haus in Schuss bringen“, sagt Florian Summa, 41 Jahre alt, „dann sprechen wir in der Regel von Sanierung, Renovierung, Restaurierung oder sogar Rekonstruktion. Aber diese kostspieligen Erneuerungen sind nicht die einzige Möglichkeit! Wir wollen beweisen, dass es auch anders geht, dass man ein altes, gründerzeitliches Haus auch reparieren kann, so wie man einen Schuh oder eine zerrissene Jeansjacke repariert.“

Mindset-radikal

Ort der baulich manifest gewordenen Beweisantretung ist die Dieskaustraße 101 in Leipzig, fernab der Innenstadt, elf Tramstationen stadtauswärts, im von Textilfabriken und schweren Industriearealen geprägten Stadtteil Kleinzschocher. Obwohl das 1888 errichtete Haus die letzten 30 Jahre lang leerstand, mit Taubenkolonien im Dachboden, teils eingestürzten Holzbalkendecken und längst zerstörtem Stiegenhaus, obwohl die Fassade mit blauen, engmaschigen Baugerüsten eingehüllt war, Gefahr in Verzug aufgrund von herabfallenden Bauteilen, war es um den Architekten und seine Partnerin Anne Femmer, die den Bastlerhit – die Bauruine – 2014 auf immoscout24.de gefunden hatten, von der allerersten Sekunde an geschehen.

„Wir hatten schon einige Jahre Auslandserfahrung hinter uns, hatten bereits in Wien, Zürich, Gent, London und Tokio gearbeitet, und uns schien die Zeit reif, uns eine eigene Existenz aufzubauen. Wo, wenn nicht in Leipzig! Eine spannende, dynamische Stadt, deren Geschichte noch nicht fertiggeschrieben ist, die noch viel Input, Inspiration und Initialzündungen benötigt, in der wir als Architekten, Architektinnen zur künftigen Entwicklung einen essenziellen Beitrag leisten können. Und dieses baufällige Haus, was für eine schöne Herausforderung!“

Der Kaufvertrag wurde unterzeichnet, das sächsische Hinterholz 8 nahm seinen Lauf, und das frisch gegründete Büro Summacumfemmer übte sich von da an nicht nur in der Schreibtischplanung von Architektur, sondern auch in der staubigen, baustelligen Realisierung selbiger – mit Maurerkelle, Kreissäge und kilometerweise ausgerollten Kabeltrommeln im ganzen Haus. Heute zählt Summacumfemmer, das auf der diesjährigen Architektur-Biennale in Venedig den deutschen Pavillon mitkuratiert hat, zu den jüngsten, fröhlichsten, ohne jeden Zweifel Mindset-radikalsten Architekturbüros Deutschlands.

„Unser Ziel war, aus dem Nichtfunktionieren wieder ein Funktionieren zu machen“, sagt Florian Summa, öffnet die Tür ins Stiegenhaus, eine simple Stalltür aus verzinktem Stahl, beplankt mit Polycarbonat-Stegplatten zur minimalen Wärmedämmung, gefunden um einen Pappenstiel bei einem bayerischen Stallproduzenten. Das alte Holzportal hingegen, verzogen und undicht, wurde um ein paar Meter versetzt und dient nun als Eingangstür ins erdgeschoßige Büro. Überall weiß gekalkte Ziegelwände, Lichtschalter vom Elektriker ums Eck, aufputzgeführte Stromkabel, im Durchbruch zwischen den beiden großen Arbeitsräumen steht ein Bullerjan, daneben ein Holzstapel für die winterlichen Monate.

Tausende Stunden Arbeitszeit

„Im ersten Stock wohnen wir mit unseren beiden Töchtern“, sagt Florian Summa, die Schichtholzskulptur emporklimmend, „im zweiten Stock gibt es zwei Wohnbereiche für unser Au-pair-Mädchen sowie für einen lieben Freund, der immer wieder in Leipzig pennt, und im dritten Stock und im Dachgeschoß ist noch Baustelle, da kann man sich ein Bild davon machen, was wir in den letzten Jahren schon alles repariert haben.“

Ein Fußboden aus Holzdielen und OSB-Platten, schlammgrün lackiert, eine silberne Unterspannbahn, damit die an der Decke angetackerte Wärmedämmung nicht auf den Kopf rieselt, zur Unterstützung in der Küche eine Gerüststange, die zugleich als Handtuchhalter dient, an der Wand eine gebrauchte, zufällig gefundene Küchenzeile von Bulthaup. Die Reparatur des Gründerzeithauses in der Dieskaustraße 101 ist noch lange nicht fertig. Zu den bereits investierten tausenden Stunden Arbeitszeit, schätzt Florian Summa, werden noch viele weitere Tausende hinzukommen. Doch wozu das ganze Unterfangen? „Als In-situ-Reallabor und Experiment am eigenen Leib. Denn wenn wir von Kreislaufwirtschaft und Ressourcenmanagement sprechen, dann können wir mit unseren Hausreparaturen nicht so umgehen, als würden wir jedes Mal aufs Neue einen perfekten, neuwertigen Neubau auf die grüne Wiese stellen, dann müssen wir endlich umdenken, die Bauordnung und die Normen adaptieren“ – und ganz generell die Planungskultur in der Architektur und Immobilienentwicklung gründlich überdenken.

„Wenn ich mich an ein altes Haus herantaste, dann will ich nicht zwei Jahre im Voraus bis zur letzten Türklinke alles vorausgedacht haben. Wo bleibt da noch Platz für Zufall und Spontaneität, für die Geschichten, die das Haus mir zu erzählen hat?“ Ist die Leipziger Hausreparatur der Schlüssel zur Zukunft? Nein, liebe Bauherren und Hausbesitzerinnen, aber ein wertvoller Gedankenöffner.

8. Juli 2023 Der Standard

Adieu, Hanni! Tschüss, Tlapa!

Mit den um sich wütenden Investoren und Immobilienentwicklern wird die Stadt sukzessive ihrer Identität beraubt. Der Wiener Künstler Andreas Fogarasi dokumentiert das Verschwinden auf so sinnliche wie nüchterne Weise. Zu sehen im Kunsthaus Muerz.

Unterstreicht Ihren Typ! Zeitlos elegant und dennoch sportiv! Und die Problemstellen um die Taille herum, die werden wunderbar kaschiert! Der Tlapa in der Favoritenstraße, das Modehaus mit dem mexikanischen Sprachfehler in der Phonetik, war das Klamotteneldorado unserer Kindheit. Egal, ob Erstkommunion, Konfirmation oder die dritte Hochzeit von Oma Klara, hier durften wir Arbeiterbezirkskinder mitsamt Mischpoche einmal im Jahr einen auf Kärntner Straße machen und wurden mit Sonntagspanier für die kommenden Anlässe eingedeckt.

Im Jänner 2016 musste das Modehaus Tlapa nach hohen Schulden und Verlusten seine Pforten schließen. Drei Jahre lang stand das Haus mit seiner eigenwilligen, aber aus kindlicher Perspektive stets interessanten Leichtmetallfassade und seiner orange folierten, rauchglasverspiegelten Glaspyramide am Eck leer. 2019 rollten die Abbruchbagger heran und machten den 1873 errichteten und sukzessive erweiterten Gebäudekomplex, der in den späten 1960er-Jahren vom Wiener Architekten Kurt Stiel seine eierschalenfarbene Elementfassade verpasst bekommen hatte, dem Erdboden gleich.

„Diese Art von vorgehängter Fassade, mit der man Bauten aus unterschiedlichen Epochen effizient kaschieren und zu einer gestalterischen Einheit zusammenfassen kann“, sagt Andreas Fogarasi, „hat man in der BRD und DDR damals in fast jeder Großstadt gesehen“, ob das nun Horten, Merkur, Schocken, Konsument oder die Centrum-Warenhäuser waren. Die sogenannte Horten-Kachel von Egon Eiermann hat Geschichte geschrieben. „Doch hier in Wien ist diese Architekturtypologie ein absolutes Unikum.“

3,1 Quadratmeter Tlapa-Fassade hängen nun im Kunsthaus Muerz an der Wand, ein Tableau aus zwölf Elementen, die Halbkreise mit 39 Zentimetern Durchmesser leicht aufgerollt, neun Zentimeter ragt das Blech vor und offenbart auf diese Weise einen klaffenden Sichelmond, der dem Gebäude in der Favoritenstraße einst sein charakteristisches Relief verlieh. Gemeinsam mit einem Fassadenmuster des Nachfolgebaus, ein gelochtes Wellblech, 112 mal 137 Zentimeter groß, bildet das Tlapa-Paneel nun eine Art Bündel, zusammengeschnürt mit einem Umreifungsband aus Stahl, strammgezogen mit einer Zange, festgeklammert, fertig.

Zeiten zusammenschnüren

Schon seit 2019 widmet sich Fogarasi, seines Zeichens ausgebildeter Architekt, heute bildender Künstler an der Schnittstelle zwischen Bild, Skulptur und Raum, den allmählich aus dem Stadtbild verschwindenden Architekturen, ob das nun vermeintlich schöne Gründerzeithäuser oder vermeintlich weniger schöne Bauten der Nachkriegsmoderne sind, die abgerissen, zu Tode saniert oder bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. In seinen Paketen , wie er die zusammengeschnürten, verräumlichten Baustoffcollagen nennt, vereint er die Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft.

„Unabhängig davon, ob es sich um historisch wertvolle oder gar denkmalgeschützte Bauten handelt oder nicht“, meint Fogarasi, „verliert die Stadt mit jeder weiteren Zerstörung ein Stück ihrer Identität. Ich möchte diesen Verlust dokumentieren, und ich möchte die alten mit den neuen Baustoffen, die zwar eine örtliche, aber niemals eine zeitliche Übereinstimmung haben, zusammenfügen und für immer aneinanderfesseln.“ Er sieht seine Pakete , die in den meisten Fällen auf einen ganz konkreten Ort referenzieren, nicht nur als Materialrettung, sondern vor allem als Dokument einer sinnlichen, atmosphärischen Stadtchronik.

Anstelle des Modehauses Tlapa entsteht nun ein Neubau mit Retail, Büros und 126 Serviced Apartments, ein Projekt des Immobilienentwicklers Vermehrt AG in Zusammenarbeit mit Pegasus Capital Partners, Sitz in Erlangen, ein Entwurf von Drawcon Architects, Brno, geplante Fertigstellung Anfang 2024, das Objekt schon seit zwei Jahren fast vollständig vermietet. Gestern Familienunternehmen, heute Finanzprodukt in einem internationalen Portfolio, gestern Handarbeit, heute Massenware-Bauprodukte von der Stange. „Die Komplexität eines Ortes, auf das Maximum reduziert“, wie Fogarasi sagt, nüchtern und emotionslos. Von der Wertigkeit der Baustoffe könne sich jeder selbst ein Bild machen.

Einstürzende Altbauen

Die Emotionen kommen erst in der Menge. Begonnen hat seine Serie Nine Buildings, Stripped vor vier Jahren mit in der Tat neun Materialcollagen, die zunächst in der Kunsthalle Wien, später auch in der Galerie Kargl zu sehen waren. In der Zwischenzeit umfasst die Serie bereits an die 40 Pakete , zum überwiegenden Teil aus Wiener Alt- und Neubauten erbettelt, erworben, ergaunert, aber etwa auch aus dem Palast der Republik und dem später nachfolgenden Humboldt-Forum in Berlin, aus dem Hotel Intercontinental Praha, das nach dem Refurbishment nächstes Jahr als Golden Prague Hotel wiederauferstehen wird, sowie von diversen Abbruchhäusern in der nordostrumänischen Stadt Iași.

Gestrippt wurden beispielsweise ein Gründerzeithäuser im 15. Bezirk, das Bürogebäude Schoeller-Bleckmann am Franz-Josefs-Kai, die Sozialversicherungsanstalt auf der Wiedner Hauptstraße, ein Schrebergartenhäuschen in Favoriten sowie die Bildhauerateliers im Wiener Prater. Ganz klein und unscheinbar, Nummer zwei an der Wand im Kunsthaus Muerz, fast wäre man daran vorbeigelaufen, wenn die glasierte Keramikkachel im Scheinwerferlicht nicht so schokoladig geschimmert hätte, ein Paket zur Villa Hanni, abgerissen in der ersten Corona-Lockdown-Woche 2020.

Errichtet wurde das Haus in der Dr.-Heinrich-Maier-Straße 35 in Währing, in direkter Nachbarschaft zum Pötzleinsdorfer Schlosspark, 1910 vom Otto-Wagner-Schüler Karl Adalbert Fischl. Im ersten Stock war die secessionistische, Semmeringpayerbachrax-anmutende Villa mit eisenoxidglasierten Keramikkacheln verkleidet. Das lange Zeit unbewohnte Haus scheint mutwillig den Kräften von Natur, Witterung und Vandalismus überlassen worden zu sein, alles Geschichte. An seiner Stelle steht nun ein vollwärmegeschütztes Haus aus Stahlbeton und Hohlblockziegeln.

In Fogarasis Ausstellung im Kunsthaus Muerz wird eine alte Kachel, nonverbale Liebeserklärung an Handwerk und hochwertige Produktqualität, mit einem neuen Putzmuster zusammengebunden. Das Umreifungsband aus Stahl hat sich schon jetzt in die chemisch verputzte Styroporplatte eingeschnürt. Die Baukunst ist zum Sondermüll geworden.

Ausstellungshinweis: „Last Minutes“ im Kunsthaus Muerz in Mürzzuschlag, mit Werken von Andreas Fogarasi und Markéta Othová. Zu sehen bis 3. September. Weitere „Stripped“-Arbeiten sind in der Ausstellung „1978“ im Quartz Studio in Turin zu sehen, bis 22. Juli.

24. Juni 2023 Der Standard

Hereinspaziert!

Der Wiener Prater war immer schon ein Ort geheimnisvoller Kuriositäten. Heute ist er ein Hort kurioser Geheimniskrämerei. Zwei Projekte werfen viele, viele Fragen auf.

Da steht sie also, 72 Meter lang, 42 Meter breit, 13 Meter hoch, vor wenigen Tagen wurde das umstrittene Projekt offiziell übergeben. Von den einen (Stadt Wien, Bezirksvorstehung, SPÖ) wurde die sogenannte Sport-&-Fun-Halle in der Venediger Au sehnlichst erwartet und in großen Worten herbeigelobt. Die anderen hingegen (Bürgerinitiative, Volksanwaltschaft, Grüne) kritisierten das intransparente Verfahren und die vermeintlich so illegale Vorgehensweise, dass einem jeder Fun vergeht. Was ist hier passiert?

„Nachdem klar war, dass die alte Sporthalle neben dem Ferry-Dusika-Stadion abgerissen wird, um Platz für den neuen Fernbusbahnhof zu machen“, sagt Architekt Michael Schluder, während er die Tür in die soeben fertiggestellte Sporthalle aufsperrt, „hatte die Stadt Wien die Verpflichtung, rasch eine Ersatzhalle zu errichten. Es gab eine Standortanalyse, und wir wurden eingeladen, eine Machbarkeitsstudie zu erstellen und ein Anbot vorzulegen. Basierend darauf haben wir einen Entwurf und eine mit der Auftraggeberin und den Behörden abgestimmte Einreichung nach § 71 der Wiener Bauordnung erstellt.“

Und jetzt wird’s kompliziert. Denn der Flächenwidmungsplan für das besagte Grundstück in der Venediger Au, in der von 1895 bis 1901 singende Gondolieri die Besucher auf eine venezianische Kanalreise entführt hatten, sieht für die Parzelle zwar eine sogenannte „Esp Erholungsfläche Sport“ vor, die die Errichtung sportnaher Bauten ermöglicht – allerdings mit einem nicht unwesentlichen Passus namens „BB1 Besondere Bestimmungen“, die im Wiener Gemeinderat im Mai 2003 beschlossen wurden: „Auf der mit BB1 bezeichneten und als Grünland (…) gewidmeten Grundfläche dürfen keine Gebäude errichtet werden.“

Zumindest temporär

Stadt Wien und Architekt haben darauf mit besagtem § 71 reagiert. Dieser ermöglicht, selbst auf einem Grundstück mit noch nicht projektkonformer Flächenwidmung und Bebauungsbestimmung ein zumindest temporäres Bauwerk zu errichten. In diesem Fall ist die Sport-&-Fun-Halle für die Dauer von fünf Jahren bewilligt, in dieser Zeit kann die Stadt Wien das Grundstück entsprechend nachwidmen. „Bei Projekten mit engem Zeitplan“, sagt Andreas Machold, Geschäftsführer der WIP Wiener Infrastruktur Projekt GmbH, auf Anfrage des ΔTANDARD, „ist das ein durchaus übliches Vorgehen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen werden an das dann bereits bestehende Gebäude nachträglich angepasst.“

Die Stimmung in der zwölf Millionen Euro teuren Halle ist sehr angenehm. Ein Holzleichtbau mit Leimbinderstützen, luftig leichtem Holzfachwerk und duftenden Wänden aus Brettsperrholz. Darüber ein Lichtband aus Polycarbonat-Stegplatten, die ein mattes, diffuses Licht ins Innere bringen. Sportflächen für Streetsoccer, Street-Basketball, Inline-Hockey, Badminton und sogar Beachvolleyball. Am Ende eine betonierte Galerie mit korallenrot eingefärbten Böden, Treppen und Metallgeländern. Roland Rainers Stadthallenbad lässt grüßen. Eine sportliche Referenz. „Die Architekten haben die Bauaufgabe adäquat gelöst, ein hübsches Projekt, wenngleich eine monofunktionale Kiste auf der grünen Wiese im Sinne der Stadtverdichtung und Nutzungsmischung der absolut falsche Ansatz ist“, sagt der Leopoldstädter Bezirksvorsteher-Stellvertreter Bernhard Seitz (Grüne). „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieses Bauwerk illegal errichtet wurde. Die Stadt Wien als Auftraggeberin und bewilligende Baubehörde in institutioneller Union hat sich hier selbst ein Okay gegeben.“

Fragen bitte nur schriftlich

Noch schärfer formuliert es Lorenz E. Riegler, Allright Rechtsanwälte, der im Auftrag der Grünen im September 2022 ein Gutachten erstellte. „Jeder andere Bauwerber, der in seiner Einreichplanung nur ein Prozent von der Wiener Bauordnung abweicht, wird wieder heimgeschickt. Hier ist man zu 100 Prozent abgewichen und hat dennoch einen positiven Baubescheid bekommen, der von der Stadt Wien und der Baupolizei jedoch unter Verschluss gehalten wird. Auch mir wurde die Einsicht in den Akt verweigert. Dieses Projekt ist eine schwere Wunde im Rechtsstaat, die man nur schwer wieder verarzten kann.“

Sämtliche Projektbeteiligte beziehen sich in ihren Stellungnahmen darauf, dass so ein Prozedere bei öffentlichen Bauvorhaben „ein ganz normaler, üblicher Vorgang“ sei, dass die Halle „streng baurechtlich betrachtet legal“ errichtet worden sei. Fragt sich nur: Warum spricht dann niemand mit den Anrainern und Skeptikerinnen darüber? Warum fährt die Stadt Wien eine Kommunikationskampagne des Schweigens? Und warum bekommt eine Tageszeitung bei der Stadt Wien, bei der Bezirksvorstehung und den involvierten Magistratsabteilungen keine telefonische Auskunft? Fragen zu diesem Projekt, heißt es, bitte nur schriftlich.

800 Meter Luftlinie von der Sport-&-Fun-Halle entfernt steht angrenzend zum Freudplatz eine weitere Kuriosität, die sich derzeit im Rohbau befindet – das Panorama Vienna, ein 34 Meter hoher Betonzylinder, also genau ein Meter unter dem Schwellenwert zur Wiener Hochhausregelung. Das Projekt der Berliner Unternehmerin Ilona Cardoso Vicente wird ein 3500 Quadratmeter großes 360-Grad-Rundgemälde beheimaten, das im Jahresrhythmus kuratiert und ausgetauscht werden soll. Auf der Website bezieht man sich auf die Wiener Weltausstellung anno 1873, die heuer ihr 150. Jubiläum feiert.

Der Innenraum ist gewaltig, die Nachhallzeit im Gespräch mit der Bauherrin beträgt beeindruckende sieben, acht Sekunden, das wird schon eine Wucht werden. Etwas befremdlicher hingegen mutet das Rendering an, das die Vida Panorama GmbH vor einigen Jahren im Umlauf gebracht hat und das ein wenig an ein Gasspeicherbecken in der OMV-Raffinerie Schwechat erinnert. Die MA 19 (Architektur und Stadtgestaltung) spricht in ihrer Stellungnahme von einem „skulpturalen Gebäudekomplex“ und einem „stadtgestalterischen Bindeglied“. Hmmm.

Kein Innovationsschub

Der Wiener Stadthistoriker Peter Payer sieht das anders: „Die Bauten im historischen Prater und vor allem auf der Weltausstellung 1873 haben sich stets durch eine hohe Innovationskraft ausgezeichnet, die Attraktionen waren ein Versuchslabor mit einem oft lustvollen, sinnlichen, illusorischen, jedenfalls hohen baulichen Anspruch. Auf dem Rendering macht das Gebäude einen nüchternen, abweisenden Eindruck. Ein Innovationsschub teilt sich hier nicht wirklich mit.“

Bauherrin Vicente und ihr Architekturbüro WGA entgegnen, der Stand sei längst überholt, es werde an einer modernen Energiefassade mit PV-Modulen und teilweiser Begrünung gearbeitet. „Wir sind auf dem Designweg unterwegs. Bitte beurteilen Sie uns erst, wenn das Projekt abgeschlossen und das Federkleid montiert ist.“ Mehr wird derzeit nicht verraten. Die Stadt Wien beansprucht für sich, eine lebenswerte Stadt mit innovativer Stadtplanung, transparenten Prozessen und einem regen Austausch mit ihrer Zivilbevölkerung zu sein. Selbstbild und Fremdbild müssen dringend in Einklang gebracht werden. Bis dahin gilt: Hereinspaziert ins Kuriositätenkabinett!

3. Juni 2023 Der Standard

Dieser Ort war mein Alterlaa

Harry Glücks Wohnpark Alterlaa macht auch heute noch viele Menschen glücklich. Die Regisseurin Bianca Gleissinger, selbst Kind dieses Hauses, geht in ihrem Film „27 Storeys“ der Frage nach, woran das liegt.

Tschuldigung! Wir drehen einen Film. „Dort wo die Blumen blühn, dort wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause“, singt Freddy Quinn aus der Konserve, 33. Minute, während Edi und Gitti in ihrem Freddy-Quinn-Museum gerade ein paar Freddy-Quinn-Pappaufsteller durch die Tür bugsieren. „Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland, wie lang bin ich noch allein?“

Wow! Wie viele sind denn das? Eine CD-Sammlung mit mehr als 300 CDs, hunderte VHS-Videobänder mit dem österreichischen Schlagersänger in allen erdenklichen Rollen und Bühnenauftritten, dazu tausende Plakate und Schellacks, mit denen das kleine Museum im Block A, Stiege 8, Etage 2, ausgekleidet und bis unter den Plafond komplett zutapeziert ist. „So schön, schön war die Zeit, so schön, schön war die Zeit…“

Edi und Gitti suchen noch jemanden, der die Nachfolge fürs Museum übernimmt, wenn sie einmal in Rente gehen. Ihre Kinder waren mit mir in der Schule und hörten damals am liebsten die Nu-Metal-Band Limp Bizkit. Freddy Quinn. Stationen einer Karriere 1949–2006. Und mittendrin die Filmregisseurin Bianca Gleissinger, die sich immer wieder ins Bild hineinschleicht, die Szenen mit ihrer frechen, „goscherten“ (Kleine Zeitung) , irgendwie immer noch pinken Stimme aus dem Off kommentiert und sich mit ihrer Soziodokumentation auf die Spuren ihrer eigenen Kindheit begibt, auf die Suche nach Fragen und Antworten ihres damals so ungetrübt rosaroten Lebens. Licht aus, Tür zu, und Schnitt.

Architekt Harry Glück hatte 1960 einen revolutionären Traum – den Wohnpark Alterlaa. Denn er forderte das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl. Drei Wohnblocks, 250.000 Quadratmeter, 27 Stockwerke, Swimmingpools und Tennisplätze. „Ich bin hier aufgewachsen“, sagt Gleissinger, Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB), die mit ihrem Film 27 Storeys – Alterlaa Forever ihr Abschlussprojekt und zugleich ihr 82-minütiges Filmdebüt vorlegt, im Gespräch mit dem ΔTANDARD. „Für mich war das Wohnen in Alterlaa mit all seinen Annehmlichkeiten damals ganz normal. Erst später habe ich begriffen, was für ein besonderer Ort das hier ist.“

Ein riesiger Pool nahm hart arbeitenden Vätern den Druck des wirtschaftlichen Aufstiegs. Die Hausfrau konnte nun auch am Leben teilnehmen, da die Küche erstmals an den Wohnraum angebunden war. Wohnen wie die Reichen für alle war das Motto. Oder wie Kritiker das damals formulierten: Pools für die Proleten! „Ob hier wirklich so viele Proleten wohnen? Natürlich! Wenn man 3200 Wohnungen für 9000 Menschen baut“, sagt Gleissinger, „dann ist in gewisser Weise alles wahr und unwahr zugleich, denn wo viele Menschen wohnen, da hat das Leben auch viele verschiedene Farben.“

Proleten wie wir! Wir hatten dank Alterlaa alles, was es für ein glückliches Leben brauchte. Wir waren Harry Glücks Glücksutopie. Und als wir ausziehen mussten, habe ich mich weinend an die Dunstabzugshaube geklammert. Bis heute zählt Harry Glücks Wohnpark Alterlaa – der nicht nur für seine Swimmingpools auf dem Dach berühmt ist, sondern auch für seine vielen Vereine und exotischen Clubräume wie etwa Bridge-Salon, Schießhalle, und Modellbauwerkstatt – zu den beliebtesten Wohnbauten Österreichs. Die Fluktuation ist extrem gering, die Wohnzufriedenheit mit 98 Prozent unschlagbar hoch, der Wohnbau immer wieder Motiv für Studien und Forschungsarbeiten.

Das Alterlaa der Gegenwart ist ein Paradies für analoge Menschen. Doch dieser Film dreht sich nicht nur um das Objekt, wie es schon so oft untersucht und dokumentiert wurde, sondern vor allem um die hierin lebenden Subjekte. Zu Wort kommen Urgesteine, die hier seit dem allerersten Tag eingemietet sind, Fertigstellung 1976, aber auch Jugendliche und neu Zugezogene, die mit Alterlaa in ein neues Leben durchstarten wollen. Kinder fahren mit dem Scooter durchs Bild, Teenager verabreden sich über die hausinterne Sprechanlage auf ein Bier, in den Küchen werden Schnitzel geklopft. Und dann, in der 76. Minute, wird Hanna nachdenklich.

Das Alterlaa der Gegenwart ist das größte Altenheim Österreichs, sagen Kritikerinnen. „Alterlaa ist für mich ein schönes beginnendes Ende meines Lebens, ich fühle mich sehr wohl hier“, sagt die kürzlich pensionierte Hanna, während sie ihre Reiseführer ausmistet, weil sie wahrscheinlich nie wieder nach Florida reisen wird. „Hier kannst du alt werden. Bis der Tod Alterlaa und mich scheidet.“ Auch das passiert. Peter, einer der Protagonisten im Film, verstirbt während der Dreharbeiten. Seine Wohnung wird geräumt, ausgemalt, für die nächsten Mieterinnen instand gesetzt.

Mein Alterlaa war kein Ort, es war eine Zeit, die ich nicht loslassen wollte. Eine Zeit, in der ich noch gar keine Vorstellung davon hatte, dass alle Dinge vergänglich sind. „Natürlich ist 27 Storeys auch ein Film über Alterlaa“, sagt die 33-jährige Regisseurin, „denn Harry Glück hatte die große Gabe, die damalige Zeit mit einem sehr wachen Auge zu lesen und in eine ansprechende, sozial adäquate Architekturform zu übersetzen. Aber es ist auch ein Film über Kindheit, über kindliches Glück, über erfüllte und geplatzte Kindheitsträume.“

Ich wollte Prinzessin werden, aber ich wollte auch Kriegerin sein, hier in unserem Wohnzimmer. Im Gymnasium wollte ich Britney Spears sein, und mit 19 wollte ich Playmate werden. In meinem Zimmer war alles pink, pink, pink. Vielleicht muss das Mädchen mit den pinken Wänden nur eines tun – eine Dunstabzugshaube loslassen. „Dieser Film ist aber auch ein Werkzeug, um von alten sozialen Utopien loszulassen, denn die Zeiten von der Stadt in der Stadt – von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Einkaufen unter einem Dach – sind vorbei. Das interessiert heute niemanden mehr.“

Wir hatten 10.000 Nachbarn und Nachbarinnen, darunter weltberühmte Stars und Fußball-Legenden. Wer in Alterlaa gewohnt hat, der war wer! Alle anderen fanden das komisch. Und wir fanden alle anderen komisch. Bei aller Sentimentalität, Menschlichkeit und Freddy-Quinn-Skurrilität schafft es der Film, nicht nur in die Geschichte zurückzublicken und die Gegenwart darzustellen, sondern auch die Frage zu stellen, wie wir es schaffen, unsere Wohnutopien zu transformieren und innovative Lebensmodelle für die Zukunft zu entwickeln. Ein dringlicher Auftrag an alle Politiker, Bauträger und Architektinnen: Über welche zeitgenössischen Wohnprojekte wird man in 50 Jahren einen Film drehen wollen?

„27 Storeys – Alterlaa Forever“, ab sofort im Kino.

20. Mai 2023 Der Standard

Im Labor der vergessenen Ideen

Soeben wurde die 18. Architekturbiennale in Venedig eröffnet. Unter dem Titel „The Laboratory of the Future“ üben einige Länder heuer massiv Kritik am Veranstalter. Manche stellen das Format überhaupt infrage.

Ein Liter Gemüsesaft Wetland, eine Tüte Kartoffelchips Extreme Natur e, einmal Hustenzuckerln Amnesia, ein Vollwaschmittel Villa Frankenstein, und dann noch eine Packung Chicken-Wings Making Heimat . Mit den Lebenbismitteln im Einkaufskorb geht es ab zur Kassa, der Kassier ist voll nett, zahlen muss man hier nämlich nix, dafür aber bekommt man zur Dokumentation des getätigten Einkaufs einen Originalbeleg überreicht. Das Faksimile bleibt in der Kassa, denn am Ende der 18. Architekturbiennale – nach insgesamt 190 Tagen Laufzeit – soll ausgewertet werden, welche Produkte vom Publikum am häufigsten geshoppt wurden.

„Wir sind natürlich kein echter Supermarkt“, sagt Ernests Cerbulis. „Aber wir sind ein echt super Wissensmarkt, denn die insgesamt 506 Produkte, die wir im Sortiment haben, wurden eigens für Venedig konzipiert und von ausgesuchten Experten und Spezialistinnen in Handarbeit produziert. Mehr Qualität geht nicht.“ Entwickelt wurden die hier lagernden Wissens- und Lebensmittel von sämtlichen partizipierenden Länderpavillons und Kuratorenteams der letzten zehn Architekturbiennalen, also der Jahre 2002 bis 2021. Es ist alles vertreten, von Made in Germany bis Made in Elfenbeinküste.

Wissen konsumieren

„Die Architekturbiennale ist eine Shoppingmall voller Ideen, Konzepte und außergewöhnlicher Urheberschaften, die sich mit den Problemen und Herausforderungen unseres Zusammenlebens beschäftigen“, sagt Cerbulis, einer der Kuratoren des lettischen Länderpavillons mit dem Titel TCL. Die Abkürzung steht für Trade Center Latvia, die diskontartige Anmutung über der Kassa, die an Lidl und Hofer erinnert, könnte kaum besser sein. „Bloß stellt sich die Frage: Was passiert mit all dem akkumulierten, kollektiven Wissen nach der Biennale?“

Die Antwort ist: Es verschwindet in der Kulturschublade und gerät in Vergessenheit. Lettland macht die Archivboxen wieder auf, reibt uns (und dem Präsidium der Biennale) unter die Nase, was eh schon alles erdacht und erfunden wurde, und lädt uns dazu ein, die am dringendsten benötigten Produkte in den Korb zu legen, sie miteinander zu kombinieren und das ganze Wissen endlich zu konsumieren. „Es steht viel Arbeit an. Es braucht nur noch die richtigen Entscheidungen in den Kassen der öffentlichen Hand.“

Lettland ist nicht der einzige Beitrag, der die Architekturbiennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstand stellt. Auch Österreich, Deutschland, die Schweiz und die Niederlande stellen infrage, ob die Biennale tatsächlich so sinnvoll und kulturell nachhaltig ist, wie sie es für sich selbst beansprucht, ob das Modell der Länderkonkurrenz überhaupt noch zeitgemäß ist und ob die monofunktionale Nutzung der Pavillons nicht ein bisschen eindimensional ist. Und all diese Länder mussten sich an den Behörden und Biennale-Verantwortlichen zum Teil die Zähne ausbeißen.

Biennale dekonstruieren

Ob das wohl das war, was sich Lesley Lokko, Gesamtkommissärin der 18. Architekturbiennale, erhoffte, als sie das diesjährige Motto The Laboratory of the Future ausrief und die Teilnehmenden dazu ermutigte, sich als „Agents of Change“ einzubringen?

Dabei hat Lokko, schottische Architektin und Lehrende mit ghanaischen Wurzeln, eine längst überfällige Evolution eingeleitet: Sie hat Afrika und die afrikanische Diaspora gepusht und die kulturgeistigen Leistungen dieses gigantischen Kontinents endlich sichtbar gemacht, sie hat den teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern in der gesamten Ausstellung mit Porträtfotos ein physisches Gesicht gegeben, und sie hat angeregt, das Format der Ausstellung nicht bloß als „Momentaufnahme mit einem Narrativ“ zu verstehen, sondern als Prozess.

Ihr einziges Pech ist, dass manche Länder den Prozess sehr wörtlich genommen haben und nun die Biennale dekonstruieren – sowohl materiell als auch immateriell. Die Schweiz verbindet ihren Bruno-Giacometti-Pavillon mit dem venezolanischen Gegenstück von Carlo Scarpa, indem sie die trennenden Mauerelemente entfernt. Die Holländer haben Löcher in die Dachkonstruktion geschnitten und sammeln nun das Regenwasser ihres Pavillons, um mit der flüssigen Metapher auf die Fehlerstellen in unserem globalen Kapitalsystem (Cashflow, Liquidität, in Geld schwimmen) hinzuweisen.

Und das österreichische Kuratorenteam – bestehend aus dem Architekturkollektiv AKT und dem Wiener Architekten Hermann Czech – hat sich eineinhalb Jahre lang darum bemüht, einen Teil des Österreich-Pavillons für die Dauer der Biennale der lokalen Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Vergeblich.

„Wir wollten den Pavillon durch eine Öffnung in der Giardini-Mauer vom Stadtteil Sant’Elena aus zugänglich machen“, sagt Fabian Antosch von AKT. „Seit ihrem Beginn 1980 hat sich die Architekturbiennale massiv ausgebreitet und die hier lebenden Menschen mehr und mehr zurückgedrängt.“ Inzwischen umfasst die Biennale im Arsenale und in den Giardini – die auch außerhalb der Biennale-Saison öffentlich nicht zugänglich sind – 13 Hektar Land sowie eine Vielzahl an Kirchen, Palazzi, Wohnhäusern, Hotels, Bibliotheken und leerstehenden Geschäftslokalen. Biennale, Baubehörde und Denkmalamt haben die von AKT und Czech vorgeschlagene Öffnung abgelehnt (DERΔTANDARD berichtete).

Teil des Problems

Ein substanzielles Rütteln an der architektonischen Nabelschau ist auch der diesjährige Beitrag Deutschlands. Unter dem Titel Wegen Umbau geöffnet wird der Pavillon coram publico umgebaut, repariert und „instandbesetzt“, wie dies das Kuratorenteam rund um Anh-Linh Ngo formuliert. „Seit vielen Jahren sehen wir auf den Biennalen, was wir gegen die Klimakrise und die fortschreitende Ökologiekatastrophe tun sollten“, sagt Ngo, „lassen dabei aber außer Acht, dass wir Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind. Wir machen bei diesem Zirkus mit.“

Von der letzten Kunstbiennale 2022 wurden Tonnen von Baumaterialien eingesammelt, die sonst auf der Müllhalde gelandet wären. Mit dem angehamsterten Baustofflager repariert der Pavillon nun sich selbst: Der NS-Bau bekommt eine Werkstatt, eine Ökotoilette und eine barrierefreie Rampe.

„Wir bauen den Pavillon nach unseren gesellschaftlichen Vorstellungen um“, so Ngo. „Und wenn dieser Teil abgeschlossen ist, werden wir mit den Studierenden, die ab kommender Woche hier arbeiten werden, auch diverse bauliche Schäden und Abnützungserscheinungen in der umliegenden Stadt beheben.“

Damit ist nun die größte aller Baustellen eröffnet: Das Fundament der Architekturbiennale bröckelt, die Säulen der sozialen, ökologischen und gesellschaftspolitischen Relevanz wurden heuer ordentlich ins Wanken gebracht, es braucht dringend eine Sanierung. The Laboratory of the Future, so scheint es, ist zu einem Museum of the Past geworden.

19. Mai 2023 Der Standard

Zirkus, Zynismus, Zukunftslabor?

Die 18. Architekturbiennale in Venedig ist eröffnet. „The Laboratory of the Future“ lautet das heurige Gesamtmotto. Eine Handvoll Länderpavillons – allen voran Österreich – reagiert darauf auf subversive, intelligente Weise.

Eigentlich war alles anders geplant. Es hätte der Österreich-Pavillon in den Giardini zum Teil an die venezianische Bevölkerung abgegeben werden sollen. 350 Quadratmeter für die Menschen, die hier wohnen und arbeiten, für die alten Leute und Schulkids, als Treffpunkt und Veranstaltungsort, zum Kartenspielen und Fußballschauen. Dies sollte mit einem Durchbruch in der Mauer des österreichischen Pavillons und mit einer Wiederöffnung eines ehemaligen Durchgangs in der Giardini-Mauer ermöglicht werden, damit die Leute ein- und ausgehen können. Als Plan B hätte es eine über die Mauer führende Brückenkonstruktion gegeben.

Doch es kam anders. Aus dem „Eigentlich“ wurde ein theoretisches, offenbar nicht realisierbares Gedankenkonstrukt, das am Starrsinn der Behörden und der Angst und Egomanie der Biennale-Direktion scheiterte. Die Baustelle ist eröffnet, der Brückenpfeiler steht, die Treppe aus normalen Gerüstelementen ist errichtet – doch dann die große Überraschung, die Absperrung, das Ende. Damit mutiert der Titel Partecipazione / Beteiligung zum bürokratischen Zynismus.

Schon an den ersten beiden Preview-Tagen für die Presse sorgte der Pavillon für regen Besuch und noch regeres Kopfschütteln. „Wir haben alles Mögliche unternommen, hatten intensiven Kontakt mit der Baubehörde, mit der Denkmalbehörde und mit den Verantwortlichen der Biennale“, sagt Lena Kohlmayr vom 17-köpfigen Architekturkollektiv AKT, das für den österreichischen Beitrag in Kooperation mit dem Wiener Architekten Hermann Czech verantwortlich zeichnet. „Doch die Gespräche waren mühsam, zum Teil kamen negative Bescheide, und zum Teil lässt man uns seit Monaten zappeln. Wir machen diese Ablehnung sichtbar.“

Kunst- und Kulturminister Werner Kogler (Grüne), der nach Venedig angereist war, bezeichnete das Projekt in seiner Eröffnungsrede als Gegenmodell zum sonst üblichen „Friss-oder-stirb-Missverständnis“, das in der Politik, Stadtplanung und Immobilienwirtschaft oft zu beobachten sei. „Dieses Projekt“, sagte Kogler, „zeigt auf, wie wir zusammenleben und Raum teilen können. Und es beweist, dass es auch auf der anderen Seite der Mauer Menschen, städtisches Leben sowie Potenziale und Herausforderungen gibt.“
Jährliche Heuschrecken

Und Letztere sind in Venedig in der Tat massiv. Sie umfassen Kunst-Gentrification, spekulative Raumpolitik, Airbnb-Aushöhlung und Horden an Galeristen und Kulturbobos (den Autor dieser Zeilen miteingeschlossen), die zur alljährlichen Kunst- oder Architekturbiennale wie Heuschrecken über die Lagunenstadt herfallen und die überaus sensiblen sozialen Rituale und gesellschaftlichen Infrastrukturen zerstören. Und die Raumnahme der Fremden wird immer größer.

Die erste Biennale 1895 umfasste einen einzigen Palazzo dell’Esposizione, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Giardini und Teile des Stadtviertels Sant’Elena einverleibt, in den 1990ern breitete sich die Biennale auf das Arsenale und auf immer mehr Kirchen und Palazzi in der Stadt aus. Heute infiltriert die Biennale viele Hotels, Wohnbauten, Bibliotheken, Erdgeschoßlokale und leerstehende Gewerbebetriebe.

Jane da Mosto und Carolyn Smith von der Initiative We are here Venice haben sich ausgerechnet, dass neben den 13 Hektar Land der Giardini und des Arsenale auf dem schwarzen Brett der Biennale weitere 49 (!) Hektar Ausstellungsfläche in der Stadt gelistet sind, viele davon am Canal Grande gelegen. Sechs Hektar wurden bei der letztjährigen Kunstbiennale in Besitz genommen.
Treffpunkt verloren

„Das ist eindeutig zu viel“, sagt Remi Wacogne, Sprecher der lokalen Bürgerinitiative OCIO: „Die Biennale ist für Venedig ohne jeden Zweifel ein wichtiger Wirtschafts- und Tourismusfaktor. Aber den Venezianern gehen dadurch wichtige soziale, konsumfreie Treffpunkte verloren. Immer mehr Stadt gehört der Biennale. Und auch die Giardini sind – wenn nicht gerade Biennale ist – zugesperrt und öffentlich nicht zugänglich. Als politisches Zeichen ist das verheerend.“

Ob das wohl das war, was sich Lesley Lokko, Gesamtkommissärin der 18. Architekturbiennale, erhoffte, als sie das diesjährige Motto The Laboratory of the Future ausrief? Österreich ist mit seiner subversiven Kritik übrigens nicht das einzige Land, das die Existenzberechtigung der Biennale in ihrer heutigen Form auf den Prüfstein stellt. Auch die Schweiz und die Niederlande positionieren sich heuer als Stachel im Fleisch. Noch unverfrorener machen das Deutschland und Lettland, indem sie die Biennale und ihre weder sozial noch ökologisch nachhaltigen Machenschaften komplett dekonstruieren und sich hinter all den repräsentativen, medienwirksamen Fassaden die Frage stellen, was nach so vielen Architekturbiennalen mit dem ganzen kollektiven Wissen passiert. Zahlt sich der ganze Zirkus überhaupt noch aus?

6. Mai 2023 Der Standard

Die Welt hinter der rosaroten Brille

Eine (zum Glück analoge) Ausstellung widmet sich den Reizen und Potenzialen virtueller Räume und KI-generierter Architekturbilder. Wollen wir da wirklich hin? Ja und nein.

Neunzig Millionen Bienenstöcke, 3357 Algenfarmen und 932 Zettabytes an Daten. Geht es nach dem australischen Architekten und Filmemacher Liam Young, so könnte man die zehn Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 die Erde bevölkern werden, in einer einzigen Stadt zusammenpferchen. Diese Stadtutopie, kurz Planet City, würde lediglich 0,2 Prozent der Erdoberfläche einnehmen – vergleichbar mit der Größe von Texas, Ägypten oder Skandinavien, mit dem Vorteil, dass sich in Zukunft 99,98 Prozent des Planeten wieder regenerieren könnten.

Der gleichnamige Film Planet City, 15 Minuten geballter Utopie, zeigt riesige Wohntürme, zerklüftete Felskanten mit drangepickten Häuschen, romantische Abenddämmerungen, pinke Gemüsefelder, so weit das Auge reicht, und gigantische Batterien von Solarfarmen, die die neue Hyperpolis umgeben und mit Energie versorgen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Blicken in die Zukunft ist dieser nicht nur dystopisch. 2555 Feste und Feiertage, hat sich Young ausgerechnet, würden in Planet City aufgrund der kulturellen Dichte nahtlos ineinander übergehen.

„Planet City ist ein Mikrokosmos, der auf dem globalen Konsens beruht, dass wir uns auf kleiner Fläche zurückziehen und die Erde wieder sich selbst überlassen“, sagt Young, den die BBC als „the man designing our futures“ bezeichnet. „Ob ich möchte, dass diese Stadt auch wirklich gebaut wird? Natürlich nicht! Planet City ist eine Provokation. Es ist die Einladung, dass wir uns eines Tages an einem pinken Algensee verlieben. Dass wir uns in unterschiedliche Zukünfte hineindenken und hineinprojizieren. Dass wir das, was wir hier lernen, auch auf die gebaute, bereits existierende Stadt übertragen.“

Sehnsuchtsorte und Dreamscapes

Planet City hat nun erstmals den Weg in ein österreichisches Museum gefunden, und zwar in die Ausstellung /imagine: Eine Reise in die neue Virtualität, die kommenden Dienstag im Museum für angewandte Kunst (Mak) in Wien eröffnet wird. /imagine: ist eine zum Glück reale, analoge, ganz und gar handfeste Ausstellung über die neuen virtuellen Welten, die wir permanent kreieren, über ihre künstlich geschaffenen Räume, über ihre kulturellen und ökologischen Potenziale – aber auch über die sozialen, politischen und kapitalistischen Abgründe, die in der neuen Technologie lauern.

„Im Corona-Lockdown sind viele Sehnsuchtsorte entstanden, sogenannte Dreamscapes, die in den sozialen Netzwerken viral gegangen sind“, sagen die beiden Kuratorinnen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Es ist aufregend, diese Bilder zu konsumieren und sich dem Hype hinzugeben, der nicht mehr einigen wenigen Fachleuten vorbehalten ist wie noch vor ein paar Jahren, sondern dank niederschwelliger Programme wie etwa Dall-E, Midjourney und Stable Diffusion nun auch für die breite Masse zugänglich ist.“

Die Aufgabe der Kulturtechnik sei es, nicht nur auf der Welle mitzuschwimmen, sondern die neuen virtuellen Möglichkeiten zu hinterfragen und zu analysieren. „Wer sind die Protagonistinnen und Künstler? Woher kommt der Wunsch nach diesen fiktiven Orten überhaupt? Und wohin kann die Reise gehen?“ Der typografisch etwas sperrige Titel /imagine: wird eingefleischten Fans bekannt vorkommen, handelt es sich dabei doch um eine Art Reiseantritt, um den Tastaturbefehl, den man im KI-Programm Midjourney eingeben muss, um computergenerierte Images, sogenannte CGIs, zu erstellen.

Charlotte Taylor und Anthony Authié vom Pariser ZYVA Studio haben das schon öfter gemacht. Als Reaktion auf Covid- und Klimakrise bedienen sich die beiden bekannter Architekturikonen des 20. Jahrhunderts und setzen diese in eine neue, post-anthropozentrische, geografisch leicht verfremdete Welt. Nicht in Los Angeles, sondern plötzlich an einer pinkfröhlichen Steilküste in der Nähe von Marseille balanciert, einsam und menschenleer, John Lautners berühmtes Chemosphere House aus dem Jahr 1960.

Immer öfter dient der virtuelle Raum auch als grenzenlose Visitenkarte für Abenteuer und Kundenakquise. Das Salzburger Architekturbüro Studio Precht kommt genau so an seine Aufträge: Statt an offenen, unbezahlten Wettbewerben teilzunehmen, investiert es lieber in virtuelle Entwürfe, die dermaßen schön, g’scheit und sympathisch sind, dass sich sämtliche Blogs, Newsletter und Zeitschriften darum reißen – und manchmal eine reale Anfrage eines realen Bauherrn eintrudelt. So wie zum Beispiel beim Baumhaus Bert, das auf diese Weise von der Pixelwelt auf den Pogusch kam, wo es für 400 Euro pro Nacht an Restaurantgäste des Steirerecks vermietet wird.

Erste Euphoriephase

Andrés Reisingers Hortensia Chair blickt auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte zurück: Vor fünf Jahren präsentierte der argentinische Designer einen fiktiven, 3D-gerenderten Fauteuil auf Instagram und bekam daraufhin eine solche Flut an Kaufanfragen, dass das gute Stück – in Kooperation mit der Textildesignerin Júlia Esqué und dem dänischen Möbelhersteller MOOOI – erst in eine limitierte Kleinserie und schließlich in Serienproduktion gegangen ist. Um 6500 Euro kann man in den rund 30.000 zusammengenähten Polyester-Blütenblättern Platz nehmen, et voilà!

„Wir stecken derzeit in der Euphoriephase, was die Möglichkeiten der virtuellen 3D- und KI-Produktion betrifft“, sagen Marlies Wirth und Bika Rebek. „Zugleich aber tauchen bereits die ersten Ängste und Zweifel auf: Wie können wir Datenmissbrauch unterbinden? Was tun, wenn wir in Bild- und Filmwelten bald nicht mehr wissen, was echt und was unecht ist? Und wie können wir uns in Zukunft gegen Fake News und Digital Colonialism der White-Collar-Gesellschaft zur Wehr setzen?“

Gleichzeitig bietet die Welt hinter dem Befehl /imagine: große Chancen. In der Baubranche können Prozesse optimiert, Müll und Verschnitt reduziert, materielle Ressourcen geschont werden. Dank KI können wir von der gebauten Welt und unseren Kulturgütern – auch von bedrohten oder bereits zerstörten – digitale Zwillinge erstellen. „Vor allem aber“, sagen die beiden Kuratorinnen, „kann KI die Fantasie anregen und ein Katalysator für Gedankenexperimente sein. Wir können damit nicht nur Architektur entwerfen, sondern vielleicht auch den Umgang mit unserem Planeten neu denken.“ Das sollten wir.

„/imagine: Eine Reise in die neue Virtualität“ im Mak, Eröffnung am 9. Mai 2023, 19 Uhr

22. April 2023 Der Standard

Ganz schön hässlich

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt es. Oh doch! Eine Ausstellung in Linz widmet sich nun der „Scheeheit“ und der „Schiachheit“ in der Architektur – und bringt wichtige Erkenntnisse zutage.

Die Fassade in Hellblau, Orange oder Weiß, das Dach in Gelb, Blau oder Rot, dazu bunte Fensterläden, das Ganze wahlweise mit oder ohne Zaun, manchmal gibt es noch einen Schornstein obendrauf, am Ende des Dorfes schließlich eine Kirche mit 10,3 Zentimeter hohem Plastiktürmchen. „Die frühkindliche Prägung ist voll von diesen architektonischen Stereotypen“, sagt Franz Koppelstätter. „Im Umgang mit diesen Spielzeugen lernen wir bereits in frühen Jahren, was wir später einmal als schön oder hässlich empfinden werden. Es gibt fast kein Entkommen.“

Das Modell „1/22 Häuschen ohne Zaun“ ist in der Preisliste des oberösterreichischen Spielwarenherstellers Hoffmann, Stand 1962, mit fünf Schilling ausgepriesen. „513 Bergkapelle“ schlägt mit zwölf Schilling zu Buche. Die Miniaturarchitekturen im Maßstab 1:87 von Hoffmann sowie vom deutschen Schwesterunternehmen Faller zählten jahrzehntelang zu den meistverkauften Spielzeugen in Europa. Die einen spielten damit Architektur, eine Hoffmann-Spielesammlung trägt sogar den Titel „Der kleine Städtebauer“, die anderen, vielleicht etwas älteren Spieler nutzten sie als Kulisse für ihre Märklin-Modelleisenbahn.

„Ob Modellhäuschen, Puppenhäuser, Puppenmöbel, Pixi-Bücher, Kindervideos, Kinderlieder oder Märchen, die am Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen werden“, sagt Koppelstätter, Leiter des afo architekturforum oberösterreich, „in allen materiellen und immateriellen Medien, die wir in unserer Kindheit konsumieren, stecken bereits festgefahrene Geschmacksbilder drin, die altmodische, längst veraltete Wohn- und Lebensmodelle vordeterminieren, von denen wir uns später nur schwer wieder trennen können.“

Genau diesem Phänomen widmet sich die Ausstellung schee schiach (im breiten Dialekt gesprochen, mit einem schön verschluckten Nasallaut am Ende), die Koppelstätter konzipiert und gemeinsam mit Kollegen und Kuratorinnen umgesetzt hat. Seit Freitag ist die Ausstellung im afo zu sehen.

„Schon seit Jahrtausenden macht sich die Menschheit Gedanken darüber, was schee und was schiach ist, und bis heute gibt es darauf keine Antwort. Fachleute und Laien reden aneinander vorbei und haben meist weder eine gemeinsame Sprache noch eine übereinstimmende Definition von Schönheit.“

Der Traum aller Österreicher

schee schiach ist in mehrere Kapitel unterteilt und soll über die gesamte Laufzeit adaptiert und um zeitgenössische und künftige, visionäre, utopische Ansätze ergänzt und erweitert werden. Eine Annäherung in progress sozusagen. Neben der Spielzeugecke widmet sich die Ausstellung immer wieder dem Traum aller Österreicher, dem Einfamilienhaus. Nach wie vor sehen 65 Prozent aller Erwachsenen (Gallup-Umfrage, 2021) das Einfamilienhaus als ideale, erstrebenswerte Wohnform. Und das, obwohl die Kosten für ein Durchschnittseinfamilienhaus samt Durchschnittsgrundstück in den letzten Jahren regelrecht explodiert sind: Waren es 2018 noch 386.000 Euro pro Haus und Grund, so muss man laut einer Studie des Market-Instituts heute bereits 537.600 Euro hinblättern.

Geschmacksdiktatur

Wolfgang Stempfer, Dozent und Innenarchitekt, widmet sich in der Ausstellung der Genese des Einfamilienhauses und findet die Ursprünge dafür in der römischen Antike. Schon ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus war der Gestank Roms den Angehörigen der Oberschicht ein Dorn in der Nase, worauf sie sich an den Stadträndern eine Villa suburbana errichten ließen, um sich dort dem Nichtstun und den wohligen Düften der Natur hinzugeben. In der Renaissance erfuhr die Einfamilienvilla im Latium, im Veneto und in der Toskana einen neuen Aufschwung.

„Und bis heute“, sagt Stempfer, „wird das Einfamilienhaus trotz aller ökologischen, ökonomischen und volkswirtschaftlichen Nachteile – was etwa Straßenbau, Ausbau der Infrastruktur und finanzielle Belastung der öffentlichen Hand betrifft – von der Politik propagiert.“ Sei es hierzulande in Form von Förderungen und Pendlerpauschalen, sei es in den USA, wo das Einfamilienhaus immer noch als heteronormatives Mantra beworben wird, um die Menschen mit Eigentum, Hypotheken und materiellem Patriotismus an das eigene Land zu binden. In einem Inserat des Own Your Home Committee anno 1922 heißt es: „The man who owns his home – is a better worker, husband, father, citizen and a real American.“

Die vielleicht stärkste ästhetische Prägung jedoch, die im deutschsprachigen Raum der Gesellschaft aufgebürdet wurde, meint der Linzer Kunst- und Architekturhistoriker Georg Wilbertz, sei im Nationalsozialismus zu beobachten gewesen. „Das NS-Regime war unter anderem auch ein Geschmacksregime“, sagt er. „Es gab eine starke propagandistische Auseinandersetzung mit Stil, Ästhetik und Angemessenheit.“ Manche Bücher wie beispielsweise Gerdy Troosts Das Bauen im neuen Reich, herausgegeben im Gauverlag Bayerische Ostmark, erreichten Auflagen von bis zu 40.000 Stück.

„Die Maler der deutschen Romantik haben uns das Antlitz unserer Heimat zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts treu bewahrt“, schreibt Troost in ihrem Bestseller. „Die sorgfältige Durchbildung jedes einzelnen Baues, der in Deutschland errichtet wird, nach den Grundgesichtspunkten eines deutschen Kulturempfindens, bringt uns dem bedeutsamen Ziele näher, die Wohnstätten unseres Volkes auch seelisch zu seiner Heimat zu machen. Unter sicherer Führung überwindet die neue deutsche Baukultur das seelische Elend, das die kunstvernichtende Unkultur des liberalen Zeitalters verschuldet hat.“

Auch wenn sich die politischen Vorzeichen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben, so hat sich in vielen Teilen der Gesellschaft bis heute dennoch eine Geschmacksdiktatur erhalten, die über „schee“ und „schiach“ entscheidet – seien es diktatorische Regimes in Zentralasien, seien es Bauinnungen, Baustofflobbys, Fertighaushersteller oder konservative Gestaltungsratgeber-Plattformen auf Länderebene, wie sie etwa in Niederösterreich zu finden sind. Doch Vorsicht!

Keine Einbahnstraße

„Für den Gap zwischen schee und schiach sind aber nicht nur die anderen verantwortlich“, sagt afo-Leiter Franz Koppelstätter, „sondern eben auch die Architekturschaffenden selbst. Das kulturelle und kommunikative Missverständnis ist keine Einbahn. Auch Architektinnen und Architekten verstehen oft nicht, was andere Menschen unter Schönheit verstehen. Und das ist ein Problem. Wir wollen diese Übersetzungslücke sichtbar machen. Und zwar ohne Boulevard-Bashing.“

Die Ausstellung „schee schiach“ ist noch bis 23. Juni 2023 zu sehen. In Kooperation mit dem afo werden kommende Woche beim Crossing-Europe-Filmfestival Linz einige Kurz- und Langfilme zum Thema gezeigt. Lotte Schreiber hat die Auswahl kuratiert. Zu sehen ist u. a. „Retreat“ von Anabela Angelovska, ein 30-minütiger Dokumentarfilm, der der Frage nachgeht, warum in Nordmazedonien plötzlich zuhauf pseudoluxuriöse Südstaatenvillen aus dem Boden sprießen. 26. April bis 1. Mai 2023.

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag