Artikel

Zitronenhaine statt Reihenhäuser
Neue Zürcher Zeitung

Kampf gegen das unkontrollierte Wachstum der Städte

In den USA ist eine Bürgerbewegung gegen «Urban Sprawl» entstanden. Gemeint ist das unkontrollierte Wachstum der Städte, das sich seit den fünfziger Jahren im Phänomen der Suburbs manifestiert. Die Ausdehnung der US-Metropolen hat zu Verkehrsstaus und Luftverschmutzung geführt. Diese stellen das amerikanische Ideal vom heilen Leben in der Vorstadt in Frage.

28. August 1999 - Christa Piotrowski
Die nördlich von Los Angeles gelegene Ventura County mit ihren Kiefern- und Pinienwäldern, ihren Artischocken- und Erdbeerfeldern und Kaliforniens letzten grossen Zitronenhainen wird nicht den Bauherren zum Opfer fallen. Dafür sorgten die Bewohner des Landbezirks, als sie Ende letzten Jahres eine revolutionäre Wählerinitiative unterstützten: die Gesetzesmassnahme entzieht der Verwaltung das Recht, neue Baugenehmigungen zu erteilen; statt dessen werden künftig die Bürger über Bebauungspläne entscheiden. Felder und unbesiedeltes Land ausserhalb der boomenden Städte zwischen Los Angeles und Santa Barbara dürfen nur dann bebaut werden, wenn die zuvor durchgeführte Volksabstimmung positiv ausgegangen ist.


Bürgerinitiativen

Der Gesetzesvorschlag war von einer Bürgerinitiative mit dem Namen SOAR (Save Open Space and Agricultural Resources) eingebracht worden. Die Bewegung hofft, 80 Prozent von Ventura County, rund 240 000 Hektaren Land, vor einer Entwicklung zu bewahren, die unter dem Begriff «Urban Sprawl» in den USA gegenwärtig heftig diskutiert wird. Gemeint ist das unkontrollierte Wachstum der Städte. Es manifestiert sich seit den fünfziger Jahren im Phänomen der Suburbs: sterilen Ansiedlungen identischer Häuser, deren hervorstechendes Charakteristikum die Doppelgarage ist. Die von Schnürsenkelstrassen durchkreuzten Siedlungen erstrecken sich in der Regel entlang den Hauptverkehrsadern; sie haben keine Zentren und keine öffentlichen Plätze, weder Bürgersteige noch Geschäfte und Cafés. Selbst für kleine Besorgungen muss man in ein Einkaufzentrum fahren. Die alten Orangenhaine in Orange County südlich von Los Angeles sind durch den Bau solcher Suburbs oder «Edge Cities» vollständig zerstört worden. Exklusive Villen und Reihenhäuser überziehen heute wie ein geometrisches Teppichmuster die Hügel entlang der Küste.

Die «Los Angeles Times» nannte die Bürgerinitiative in Ventura County eine «Revolution». Sie ist tatsächlich die bisher radikalste kalifornische Massnahme gegen Urban Sprawl. Landesweit steht sie jedoch keineswegs allein da: 240 «Anti-Sprawl»-Initiativen lagen den US-Bürgern bei den letzten Novemberwahlen zur Abstimmung vor. Drei Viertel von ihnen wurden angenommen. Die republikanische Gouverneurin von New Jersey, Christine Todd Whitmann, setzte zum Beispiel durch, dass der Erlös von Verkaufssteuern zum Erwerb von rund einer halben Million Hektaren Land (der Hälfte des unbebauten Landes in New Jersey) benutzt wird.

Die Bürgerinitiativen sind der Beginn einer landesweiten Kampagne gegen die unregulierte Flächenausdehnung der Städte und die Zerstörung freien Raumes. Vizepräsident Gore hat den Kampf gegen Urban Sprawl Anfang des Jahres zu einem seiner Hauptanliegen erklärt. Unter dem Leitbegriff «Smart Growth» (intelligentes Wachstum) stellte die Administration Clinton ein Programm vor, das Städten und Gemeinden insgesamt 10 Milliarden Dollar für den Erwerb unbesiedelten Landes zukommen lassen will. Die Bundesregierung mag zwar auf die Entwicklung der Städte keinen grossen Einfluss haben, da die meisten Entscheidungen auf regionaler Ebene getroffen werden. «Smart growth» aber dürfte als Wahlkampfthema seine Pflicht erfüllen.

Architekten des «Congress for the New Urbanism» setzen sich seit einer Dekade für fussgängerfreundliche, an öffentliche Verkehrssysteme angeschlossene Siedlungen ein. Aber da sie weniger an Planungsfragen denn nostalgischem Design interessiert sind («Seaside» in Florida, das als Filmkulisse der «Truman Show» diente, ist eines ihrer Projekte), blieb ihr Einfluss begrenzt. Die gegenwärtige Anti-Sprawl-Bewegung dagegen ist eine Bürgerinitiative, die an die Umweltschutzbewegung der siebziger Jahre anknüpft. Sie dürfte für viele Amerikaner konkreter sein als zum Beispiel der Kampf gegen die Klimaerwärmung. Denn die Hälfte aller US-Bürger lebt in Suburbs. Der Mythos der «garden suburbs», mit dem Los Angeles einst um neue Einwohner geworben hatte, ist nicht nur in der Westküstenmetropole längst passé. Verkehrsstaus sowie Luft- und Wasserverschmutzung sind die Probleme der Suburbs. Viele von ihnen sind heute von Slums umgeben, während Grünanlagen und Bäche inzwischen zubetoniert sind. Seit den Schiessereien in verschiedenen US-Schulen taucht immer häufiger die Frage auf, ob Jugendliche in den isolierten Suburbs tatsächlich so viel besser aufwachsen als in den Städten.

Die Bewohner der Suburbs, die einst aus den verarmten, von Verbrechen heimgesuchten Städten geflohen waren, stellen heute das Ideal vom Leben in der Vorstadt in Frage. Aber wer aus den Suburbs abwandert, schafft nur neue Suburbs und verschlimmert den Urban Sprawl. Kansas City zum Beispiel hat seine Stadtfläche in den letzten 6 Jahren um 70 Prozent ausgedehnt, obwohl die Zahl der Einwohner im Grossraum nur um 5 Prozent (auf rund 2 Millionen) angestiegen ist. Atlanta ist nach einer Studie des Sierra-Clubs die US-Stadt mit den schlimmsten Wachstumsproblemen (Los Angeles ist allerdings von der Untersuchung ausgenommen). Seit 1990 hat sich der Durchmesser der Agglomeration von Atlanta auf rund 200 Kilometer verdoppelt. Jede Woche werden etwa 200 Hektaren Felder und unbesiedeltes Land in Bauland umgewandelt. Der von Autoabgasen erzeugte Smog überschreitet regelmässig die Grenzwerte der Bundesumweltschutzbehörde. Deshalb verweigerte Washington die Subventionierung eines geplanten Highways. Die Regierung von Georgia sah sich schliesslich zu drastischen Massnahmen gezwungen. Sie verabschiedete ein Gesetz, das die Einrichtung einer Sonderbehörde zur Bekämpfung des Urban Sprawl erlaubt.

Neben Georgia bemühen sich etwa Florida, Michigan, Minnesota, Wisconsin und Maryland um Gesetze zur Bekämpfung des Urban Sprawl. Auch die Western Governor's Association hat ihre Mitglieder aufgefordert, Anti-Sprawl-Massnahmen zu erarbeiten. Viele der Gliedstaaten, die nun für gesetzliche Massnahmen plädieren, sind traditionell eher gegen staatliche Eingriffe. Ob ihr Engagement ernst gemeint ist, bleibt abzuwarten. In den siebziger Jahren hatten insgesamt elf Gliedstaaten, unter ihnen Kalifornien und Florida, Richtlinien zur Regulierung des Wachstums der Städte verabschiedet; aber nur Oregon und Washington haben sich an sie gehalten. Die Initiativen der anderen Staaten scheiterten an Geldmangel und fehlender Organisation.


Verzicht nötig

Die Auseinandersetzung um Urban Sprawl ist nicht zuletzt ein Konflikt zwischen dem Wohl der Gemeinde und den Rechten der Landbesitzer. Dass die Farmer häufig zu den Gegnern der Anti- Sprawl-Massnahmen gehören, versteht sich. 40 Hektaren Farmland in Ventura County sind 1,6 Millionen Dollar wert; als Bauland freigegeben, könnte dasselbe Stück Land dagegen 13 Millionen erbringen. «Smart growth» verlangt Opfer. Ist der amerikanische Durchschnittsbürger bereit, seinen Traum vom Eigenheim mit grossem Garten aufzugeben? Zumindest müsste er sich mit einem kleineren Haus zufriedengeben. Portland in Oregon gilt als Beispiel regulierten Wachstums. Die Grundstücke sind hier nur etwa halb so gross wie vor 20 Jahren. Dagegen hat sich der Durchschnittspreis eines Einfamilienhauses in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Portland hatte 1979 eine «Wachstumsgrenze» festgesetzt: Nur noch innerhalb des Wachstumsrings, der den Stadtkern und 23 umliegende Ortschaften einschliesst, darf gebaut werden.

Konservative Kreise versuchen mit einer Flut von Analysen, Umfragen und Meinungsartikeln die Anti-Sprawl-Bewegung aufzuhalten. Sie argumentieren, dass nur fünf Prozent der USA bebaut seien, und seit dem Ende des Krieges doppelt so viel Land als Naturparks wie für Bauland ausgeschieden wurde. Den Verfechtern des «Smart Growth» werfen sie Nostalgie vor. Was sie allerdings ausser acht lassen, ist die Unzufriedenheit der Bewohner der Suburbs. Sie treibt die neue Protestbewegung voran.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: