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Baukultur und Öffentlichkeit
ORTE architekturnetzwerk niederösterreich

Wie jede Eßkultur, Trinkkultur, Kleidungskultur oder Sprachkultur ist auch die Baukultur eine Sache der Übereinkunft. Sie ist eine Konvention in dem Sinne, daß sich eine durch ihre Anzahl oder durch ihre Position ausschlaggebende Gruppe darüber klar und einig ist, was zu solcher Kultur gehört und was nicht. Kultur entsteht in der Übereinkunft der Formen, entsteht und vollzieht sich in der Setzung und im Gebrauch von Regeln, wie Menschen mit sich, miteinander und mit den Dingen umgehen.

10. Juli 1997 - ORTE
Übereinkunft oder Konvention kann nun auf verschiedene Weise entstehen. Eine mögliche Voraussetzung dafür liegt in sehr eng gefaßten Randbedingungen, etwa in einem Mangel an Mitteln und Materialien. Je eingeschränkter die natürlich oder künstlich gegebenen Möglichkeiten sind, um so eher wird sich eine Übereinkunft herstellen, da ja von vorneherein nur sehr wenige Faktoren im Spiel sind. Not macht Kultur, könnte man sagen, und kritische Historiker werden aus ihrer Sicht ergänzen: Die Not der vielen machte und macht auch die (Hoch)Kultur der wenigen.

Wenn beispielsweise nur Holz oder nur Stein als Baumaterial zur Verfügung steht, wenn das Material kostbar und schwierig zu gewinnen ist, genauso wie das urbare Land, dann entsteht Baukultur. Sämtliche „anonymen“ Baukulturen, bäuerliche oder städtische Lehm-, Holz- oder Steinarchitekturen sind, vereinfacht gesagt, unter den Bedingungen des Mangels entstanden, die zur Komplexität in der Überlegung und Planung gezwungen haben und zu Rationalität, Rücksichtnahme und Einfachheit - nicht Primitivität! - im Resultat führten.

Ein kluger Baugeschichtler hat diesen Umstand einmal resignativ - oder zynisch, wie man es eben sehen will - so beschrieben: „Baukultur, vielmehr ihre Reste, gibt es heute nur noch in Entwicklungsländern“. Mangelnde Prosperität war auch einer der Gründe, warum eben in Teilen des Waldviertels oder des Burgenlandes große anynome Ensembles lange erhalten geblieben sind.

Baukultur kann auch sozialhierarchisch von oben nach unten durch Reglementierung entstehen, wenn diese von entsprechend klaren Vorstellungen geprägt ist und als Abdruck der Zeit und der Verhältnisse wirkt. Es ist vielleicht zuwenig bekannt, das etwa das so hoch geschätzte barocke Antlitz der Wiener Altstadt durch eine streng geregelte Überarbeitung des Hausbestandes entstanden ist, daß da - wie auch in anderen Städten - eine eigener Hofkommissär für die Durchführung der Baubestimmungen sorgte. Es war dies eine höfisch-absolutistische Regelung, die eine „moderne“, dynamische Umwandlung der alten Stadt bezweckte und ihr einen der Zeit gemäßen, neuen Ausdruck geben sollte.
Unsere gegenwärtige zivilisatorische Situation ist freilich geprägt von den Merkmalen des Überflusses an Materialien, Mitteln und Informationen, von der Vielfalt und scheinbaren Grenzenlosigkeit der technischen Verfahren, von einer relativ großen Freiheit des sozialen und auch formalen Vermögens.

Es entspricht der statistischen Wahrscheinlichkeit und der täglichen Erfahrung, daß sich durch eine Vermehrung der möglichen Faktoren die Bandbreite aller Übereinkunft verringert, noch dazu, wenn geistige oder kultische Momente als Stimulanz und Instanzen in den Hintergrund treten.

Baukultur im klassischen Sinne einer klaren, allgemein verbindlichen Übereinkunft ist unter heutigen Bedingungen nicht mehr möglich. Ein Wiener Kunsthistoriker hat analog dazu kürzlich gesagt: „Es gibt keine objektive, verbindliche Kunstgeschichte mehr. Es gibt nur mehr viele verschiedene Kunstgeschichten, wobei die objektive Aussagekraft jeder spezifischen Geschichte an die Offenlegung, an die Vermittelbarkeit der jeweils vorausgesetzten Parameter gebunden ist.“
Das gilt, modifiziert, heute auch für die Architektur. Allen einschlägigen Deutungsversuchen, Kodifizierungsanstrengungen zum Trotz, auch allen gutgemeinten Reformbemühungen zum Trotz - es gibt im 20. Jahrhundert keinen verbindlichen, epochalen Baustil mehr.

Es gibt eine immer breiter aufgefächerte Palette von konkurrierenden, widersprüchlichen Strömungen, es gibt eine immer klarer erkennbare Fülle von Personalstilen der großen Baukünstler, die - je näher man sich mit ihnen befaßt, umso klarer aus allen normativen Einteilungen herausfallen. Die relative Verbindlichkeit historischer Epochen hat ihr Äquivalent nur mehr in der Objektivierbarkeit von subjektiv formulierbaren Qualitäten.

Genau da liegt auch das Problem. Wir haben heute ein fantastisches Bukett von architektonischen Einzelleistungen, wir haben daneben eine völlig heterogenisierte Kultur des anonymen Bauens, wir haben ein ganzes Panorama hochinteressanter theoretischer und technologischer Ansätze zur Baukunst, die aber einer breiteren Schicht von Betroffenen, von Auftraggebern, Bauherren oder mit dem Bauen befaßten Instanzen nicht wirklich zugänglich sind.
Ich bin kein Kulturpessimist, im Gegenteil. Ich meine, wir erleben heute eine Hochblüte der Architektur - aber eben nicht mehr im Sinne eines Epochalstiles. Und zugleich erleben wir eine Phase von ungeheuerlichen, weitreichenden Banalisierungen und Fehlplanungen, weil eben so viel gebaut wird wie nie zuvor, ohne daß es adäquate, steuernde Konventionen dafür gäbe.

Industrialisierung und Demokratisierung haben ein Entwicklung in Gang gesetzt, die unumkehrbar ist. Machen wir uns keine Illusionen. Aus den verschiedensten Schichten und mit unterschiedlichsten Motiven beklagt man heute den Verlust von Baukultur, und man sieht die Unübersichtlichkeit der zeitgenössischen Produktion meist nur durch die nostalgische Brille der Vergangenheitsverklärung.

Es ist völlig absurd, die Harmonie alter Bautypologien, alter Bauensembles heute zu beschwören - Qualitäten, die nicht zuletzt ja erzwungene waren, wenn wir uns doch zu einem gesellschaftlichen System bekennen, das den Individuen mehr Freiheit als jedes andere politische System zuvor verspricht und auch ermöglicht. Es ist eigentlich paradox, wenn wir als Kulturkritiker und Architekten das „Chaos“ der baulichen und städtebaulichen Erscheinungen der Gegenwart kritisieren, wo diese doch auch ein genuiner Ausdruck exakt jener kulturellen Entwicklung sind, der auch wir unseren spezifischen Freiheitsbegriff für künstlerische Qualität verdanken.

Es kann nicht mehr so werden wie im Barock oder im Biedermeier. Wenn wir die Kohärenz historischer Baukultur für heute einklagen, wenn alles so bleiben soll oder wieder werden soll, wie es damals war, -wenn es überhaupt so war, wie wir es gemeinhin heute sehen -, dann müßte sich alles, aber wirklich alles ändern. Und das wäre eine absolut regressive Utopie. Wir sollten aber wissen: Zeit und Evolution sind unumkehrbar.

In einer industriealisierten Demokratie kann Baukultur nicht mehr per Hofdekret verordnet werden. In einer Überflußgesellschaft ist Mangel als kultureller Homogenisierungsfaktor nicht mehr nachvollziehbar. In einer arbeitsteiligen Welt werden die bestgemeinten Regelwerke von Bauordnungen und Baunormen in der babylonischen Vielschichtigkeit des Alltäglichen in ihren Auswirkungen zwangsläufig zur Karikatur ihrer Absichten.

Diese offenkundigen kulturellen Paradoxien unserer Demokratie sind den Begriffen der Aufklärung - Toleranz, Gleichheit, Freiheit - bereits von vorneherein eingeschreiben. Und das heißt weiters, daß die individuelle Freiheit, wie sie unsere Gesellschaft anstrebt, sich ins Gegenteil verkehrt, wenn sie nicht auf einer höheren Ebene die Spielregeln des Gemeinsinns in entsprechend neuen Konventionen mitdefiniert. Freiheit wird nur dann eine nachhaltige Errungenschaft, wenn sie zugleich auch ihre Grenzen aktiv mitformuliert.

Auf das Bauwesen umgemünzt: Freiheit wird nur dort langfristig zielführend wirksam werden, wo sie das Kriterium der Angemessenheit wesentlich in ihr Programm einbindet. In einer industriellen Demokratie müssen baukünstlerische Entscheidungen von öffentlicher Relevanz in meinungsbildenden Prozessen, in öffentlichen Verfahren immer wieder neu als Konsens zwischen unumgänglichen Widersprüchen gefunden und getroffen werden.

Hier kommt nun die Rolle der Öffentlichkeit ins Spiel, die heute so zentrale Rolle, die hierzulande oft noch unterschätzte Rolle der qualifizierten Information, der sachlich fundierten Auseinandersetzung, an der sich baukulturelle und damit auch kulturpolitische Vorgangsweisen ständig justieren sollten. Um eine konstruktive Auseinandersetzung führen zu können, müssen die Beteiligten zunächst einander verstehen.

Bildung und Kultur beginnen mit dem Artikulieren und mit dem Zuhören, mit dem gegenseitigen, kritischen Verstehen. Gerade in der Welt des Bauwesens gibt es heute soviele verschiedene, meist nicht-kompatible Teilwelten von Spezialisten, von konkurrierenden Ideologien und ganz ungleichzeitigen Niveaus, sodaß eine wesentliche Aufgabe des öffentlichen Diskurses bloß darin bestünde, Mißverständnisse abzubauen und gegenseitiges Verständnis aufzubauen.

Architektur-Fachbeiräte sind dabei eines der Instrumente, bauliche Entscheidungen in einem Gemeinwesen aus der amtlichen Behandlung herauszulösen und zur Qualitätsfindung im Bauen beizutragen. Ihre Aufgabe ist mehrdeutig:
1. die öffentlichen Institutionen in konkreten Baufragen fachlich unabhängig zu beraten,
2. die allgemeine Qualität von Projekten im Hinblick auf Angemessenheit im jeweiligen baulichen und landschaftlichen Kontext zu fordern bzw. zu stimulieren,
3. das qualitativ anspruchsvolle Projekt, das die normativen Kriterien naturgemäß übersteigt, in seiner Realisierbarkeit argumentativ zu unterstützen.

Die periodisch erneuerten Beiräte sind also Anwalt - nicht von schematischen Regeln - sondern einer von Fall zu Fall fachlich spezifisch zu definierenden, zu optimierenden Bauqualität.

Die Erfahrung zeigt übrigens heute, daß das nichtschematische, qualitative Projekt auf Unverständnis stößt, weil es ein Veränderung bedeutet, weil es eine Weiterentwicklung bedeutet.

Jede Weiterentwicklung ist natürlich mit Schmerzen verbunden, weil sie alte Gewohnheiten überschreitet, weil wir gewohntes aufgeben müssen und uns auf neues einstellen müssen. Das ist natürlich anstrengend, aber es hilft nichts. Die Evolution - als ständige Weiterentwicklung - ist nun einmal so.

Beiräte sind also in den vielfach konfligierenden Interessen so etwas wie ein kleines, von lokalen Interessen freies Forum, das diese genannte Anstrengung immer lustvoll fördern, erleichtern, nachvollziehbar begründen, unbelastet weitertreiben sollte.

Die Arbeit von Beiräten wäre im Idealfall ergänzt durch eine mediale Reflexion und Diskussion. Also durch eine kritische Öffentlichkeit, die Medien nicht zum Lobbyismus oder zur Ruhigstellung des „Gesunden Volksempfindens“ mißbraucht, sondern die ihrer Verpflichtung nachkommt, die Öffentlichkeit auf dem höchstmöglichen jeweiligen Niveau mit den zeitgenössischen Fragen und Entwicklungen zu konfrontieren.

In den vielfältigen Bemühungen um eine zeitgemäße, lebenswerte Umwelt sind Beiräte vermittelnde Instanzen zwischen den heute eben - wie skizziert - enorm widersprüchlichen Interessenlagen im Bauwesen demokratischer Gemeinwesen.
Ihr logischer Konterpart als Vermittler wäre gerade dieser Bereich der Medien, wenn diese sich ihrerseits als Anwalt einer aufgeklärten, kritischen Öffentlichkeit begreifen würden.

Das Ziel von Beiräten wäre erreicht, wenn nicht irgendein Stil als lokale Baukultur sich etablieren würde, sondern im Gegenteil, wenn das Gemeinwesen sich kulturell soweit emanzipiert hätte, daß Bauherren und Bauträger, Private und Öffentliche, Genossenschaften und Industrie von sich aus ihre Interessen auf dem jeweils höchstmöglichen Niveau angemessen lancieren würden.

Das Ziel von Architekturbeiräten wäre erreicht - und das ist jetzt vielleicht eine progressive Utopie - wenn Beiräte nicht mehr notwendig sind.

[ Referat, gehalten im Rahmen der Diskussionsveranstaltung „Gestaltung als Standortfaktor - Zur Arbeit des Gestaltungsbeirates in Krems“ am 10. Juni 1997 im Vortragssaal der Kunst.Halle.Krems ]

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Für den Beitrag verantwortlich: ORTE architekturnetzwerk niederösterreich

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