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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

18. Januar 2025 Der Standard

„Holzbau ist keine Religion“

In der Architektur wird das Bauen mit Holz zunehmend ideologisiert: Holzbau super, alles andere pfui. Warum eigentlich? Ein holziges Nachdenkgespräch mit dem Vorarlberger Tischlermeister Markus Faißt.

In der Nachhaltigkeitsdebatte der letzten Jahre hat kein Thema so viele Emotionen hervorgebracht wie die Frage nach dem Baustoff. Zwischen Massivbau-Lobby und Holz-Aficionados ist eine Art Glaubenskrieg entstanden. Fragt sich nur: Warum fällt uns das Differenzieren so schwer? Und ist diese Entweder-oder-Diskussion überhaupt zielführend? Wir haben uns auf den Weg in den Bregenzerwald begeben, auf nach Hittisau, wo seit über drei Jahrzehnten Markus Faißt mit genau diesem emotionalisierenden Baustoff arbeitet. Ein Gespräch über Holz.

STANDARD: Ihre Adresse könnte kaum schöner klingen: Nussbaum 361. Ein Omen?

Faißt: Die schönste Adresse der Welt! Über dieses kleine Glück habe ich mich stets gefreut. Tatsächlich gab es hier in der Gegend früher mal viele Nussbäume.

STANDARD: Haben Sie ein Lieblingsholz?

Faißt: Mein Lieblingsholz ist ohne jeden Zweifel die Ulme, die hier zwar heimisch ist, aber aufgrund des Ulmensterbens leider immer seltener anzutreffen ist.

STANDARD: Warum gerade die Ulme?

Faißt: Kein anderes Holz ist so charakterstark wie die Ulme – mit vielen Farben, von einem zarten Beige über ein nussiges Rehbraun bis hin zu einem kernigen Graubraun, sehr warmen Nuancen, einer vielschichtigen, dynamischen, unregelmäßigen Ringzeichnung, mit vielen schönen Einschlüssen, noch dazu hart, robust, resilient.

STANDARD: Sie arbeiten mit Holz aus der Region?

Faißt: Ich verwende ausschließlich Holz aus dem Bregenzerwald. Im Winter geschlagen, abhängig von den Mondphasen, nach dem Schneiden jahrelang getrocknet und dann erst im Werk weiterverarbeitet. Für hochwertiges Holz benötigt man ein Jahr Trocknungszeit pro Zentimeter Brettstärke. Holzverarbeitung ist ein sehr langsames, langwieriges Geschäft – wie guter Parmesan, wie guter Prosciutto.

STANDARD: Warum soll das Holz im Winter geschlagen werden?

Faißt: Eine Baumfällung ist ein sehr aggressiver Akt. Im Winter sind das Holz und auch der ganze Wald in einer Art Winterschlaf: Die Vegetationskurve ist auf null runtergefahren, die oberste Schicht des Waldbodens ist trocken und im Idealfall gefroren, die Säfte im Stamm haben sich zurückgezogen, die Kapillargefäße sind verschlossen, die Rinde ist hart und robust. Auf diese Weise fügt man dem Wald als Biotop und dem Holz als geerntetes Produkt den geringsten Schaden zu.

STANDARD: Sie schlagen nach Mondphasen?

Faißt: Der Mond ist für mich in einer ziemlichen langen Kette verschiedener Faktoren ein Anteil, den ich mir angeeignet habe zu beachten. Das ist kein esoterischer Hokuspokus, sondern belegbare Erfahrungswissenschaft.

STANDARD: Von den Medien werden Sie oft als Holzpapst bezeichnet. Gefällt Ihnen die Zuschreibung?

Faißt: Ich weiß zu schätzen, dass die Worterfindung wahrscheinlich als Kompliment gedacht war, aber mir geht sie mittlerweile auf die Nerven. Fakt ist: Ich denke, handle und arbeite im Sinne einer ökologischen Nachhaltigkeit und regionalen Wertschöpfungskette – und das mitunter konsequent und kompromisslos, in einer krassen Diametralität jedenfalls zur industriellen Holzverarbeitung. Wenn diese Wertehaltung als päpstlich wahrgenommen wird, soll’s mir recht sein.

STANDARD: Diese Ideologie, die Ihnen immer wieder zugeschrieben wird, findet sich nun auch in der Architektur: Zwischen den puristischen Holzarchitekten und jenen, die in Hybridbauweise bauen und den Holzbau mit Stahl, Beton oder Ziegel kombinieren, ist ein Glaubenskrieg entstanden. Woher kommt dieser fast schon religiöse Fanatismus?

Faißt: Ja, das deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Ich freue mich zwar immer, wenn ich von neuen Superlativen im Holzbau höre: das höchste Holzhochhaus! Das erste Holzhaus ganz ohne Beton! Oder die schnellste Baustelle dank Vorfertigung und Modulbauweise! Aber Superlative sind nichts für die breite Masse.

STANDARD: Sondern?

Faißt: Das sind tolle Projekte zum Ausprobieren, zum Experimentieren, zum Ausreizen der technischen, logistischen und ökologischen Grenzen – gerne mit Fehlern, Lernkurven und Entwicklungspotenzialen! Wir brauchen solche Denklabore! Wichtig, wichtig, wichtig! Aber wie jede Entwicklung, die in den Kinderschuhen, später im jugendlichen Sturm und Drang und schließlich in einer euphorischen, immer noch leicht naiven Adoleszenz steckt, müssen diese Experimente früher oder später wieder auf den Boden gebracht werden.

STANDARD: Worin äußert sich diese naive Adoleszenz?

Faißt: In der Polemik, die so polemisch ist wie die aktuelle Politik: Holz gut, Beton böse. Und nicht zuletzt im absoluten Irrglauben, dass man alles in Holz bauen muss.

STANDARD: Geht sich das überhaupt aus?

Faißt: Nein! Pro Jahr werden in Österreich rund 26 Millionen Festmeter Holz geerntet. Und das bei einem jährlichen Zuwachs von 29 Millionen Festmetern. Damit haben wir also noch elf Prozent Spielraum. Dann ist Schluss.

STANDARD: Laut Pro Holz Austria wird bereits ein Viertel der Baukubatur in Holz errichtet. Damit hat sich der Anteil innerhalb von 20 Jahren mehr als verdoppelt.

Faißt: Das freut mich zu hören. Nun sollten wir noch evaluieren, wo der Einsatz sinnvoll ist – und wo bloß dumm und dogmatisch.

STANDARD: Wo ist Holz sinnvoll?

Faißt: Erstens: überall dort, wo es verfügbar ist, bitte lokal und regional denken! Und zweitens: überall dort, wo das Holz möglichst lange im Primäreinsatz und danach hoffentlich nochmal so lange im Sekundäreinsatz ist – also in der Wiederverwendung, im Upcycling oder im Downcycling.

STANDARD: Was bedeutet „lange“ im Holzjargon?

Faißt: Wissen Sie, wie lange ein Baum wachsen musste, bis er gefällt werden kann? 80, 90, 100 Jahre! Mindestens so lange muss das Holz im Einsatz sein, um eine positive Bilanz zu erzielen. Überall dort, wo das Holz so exponiert, so ungeschützt und so unintelligent eingesetzt ist, dass man es nach 20 oder 30 Jahren schon wieder rausreißen muss, ist dies eine verantwortungslose Zerstörung dieser kostbaren Ressource. Darf ich mir was wünschen?

STANDARD: Bitte!

Faißt: Wir müssen endlich wegkommen von diesem ideologischen Wunschdenken. Holzbau ist keine Religion und keine Glaubensfrage. Wir brauchen dringend eine ökonomische Betrachtung, eine langfristige Bilanzierung, eine exakte, ehrliche Evaluation. Das ist der einzig gangbare Weg in die Zukunft.

STANDARD: Welche Trends sehen Sie auf uns zukommen?

Faißt: Auf konstruktiver Ebene wurde in den letzten Jahren schon viel experimentiert. Mit Erfolg. Die Belastbarkeit und Einsatzfähigkeit von Holz hat sich bei gleichzeitiger Reduktion von Gewicht, Volumen und Materialeinsatz seitdem deutlich reduziert. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft noch einige chemische Erfindungen und Optimierungen erleben werden. In Anbetracht eines intelligenten Ressourceneinsatzes kann ich das – selbst als traditioneller Tischlermeister – nur begrüßen.

STANDARD: Ich habe Sie zu Beginn nach Ihrem Lieblingsholz befragt. Gibt es denn auch ein Holz, das Sie ganz und gar nicht mögen?

Faißt: Lange Zeit hat Buche die Liste meine Antipathie angeführt. Ich habe immer gesagt: Buchenholz, das ist die Thujenhecke der Tischler.

STANDARD: Und jetzt?

Faißt: Buche ist bei Tischlern und Architektinnen seit Jahren schon so dermaßen uncool und unbeliebt, dass wir heute auf tausenden Tonnen unverkaufter Buche sitzen – und das, obwohl das Holz fest, robust, günstig und mit der entsprechenden Behandlung auch ästhetisch ist. Daher will ich an dieser Stelle eine Lanze für die Buche brechen. Ich will, dass wir die Buche wieder lieben lernen.

Markus Faißt (62) lebt und arbeitet in Hittisau im Bregenzerwald. Er machte eine Meisterausbildung zum Tischler und übernahm 1993 die Holzwerkstatt seines Vaters. Er verarbeitet ausschließlich unbehandeltes Vollholz aus den regionalen Wäldern. 2024 wurde er als Unternehmer des Jahres ausgezeichnet.

3. Januar 2025 mit Maik Novotny
Der Standard

In zehn Schritten in die Zukunft

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

Stadtplanung

Ich wünsche mir vom Step 2035 eine Vision zur Transformation der Stadt, die den Bestand als Zukunftsressource betrachtet – mit grünen, attraktiven, gemischt genutzten Industrie- und Gewebearealen. Und mit Förderung lokaler Produktion, denn auch in der Innenstadt gibt es viele kleinere Betriebe, und die brauchen wir genau dort. Ich wünsche mir einen Gesamtplan für grün-blaue Infrastruktur, so wie in Hamburg und Rotterdam. Und ich wünsche mir eine Gesamtstrategie für Stadt und Region, denn das System Wien endet nicht an der Stadtgrenze.

Ute Schneider ist Professorin für Stadtplanung, TU Wien

Grünraum

In einem Dokument wie dem Stadtentwicklungsplan braucht es eine klare Strategie inklusive verbindlicher (und zu befolgender) Instrumente, die das urbane Grün mit anderen Freiraumfunktionen abstimmt und die eine gerechte Verteilung von Lebensqualität garantiert. Anzahl und Größe sind ausschlaggebend: Je größer und kompakter die Grünräume, desto wirksamer sind sie gegen Klimastress und Hitzeinseln. Und: Dort, wo vulnerable Bewohnerinnen und Bewohner darauf angewiesen sind, sind Neubau und Erhaltung von Grünräumen dringend voranzutreiben.

Lilli Lička ist Architektin, LL-L Landschaftsarchitektur

Stadtklima

Wien wird bald ein Mittelmeerklima haben, Extremereignisse werden sich häufen, und die Kapazitäten des Hochwasserschutzes bei Starkregen werden wahrscheinlich bald nicht mehr ausreichen. Je länger wir also zögern, desto radikaler werden die Maßnahmen sein müssen. Was ist zu tun? Schwammstadtbäume, Begrünung von Dächern, Berücksichtigung von Kaltluftströmen, Klimatisierung von Spitälern und Pflegeheimen etc. Wir müssen die Prozesse konkret definieren und befolgen – und nicht nur hie und da ein bisschen begrünen. Es geht nicht darum, was machbar ist, sondern darum, was nötig ist.

Matthias Ratheiser und Simon Tschannett sind Meteorologen und Geschäftsführer, Weatherpark Wien

Verkehr

Wien ist Vorzeigestadt in Sachen Öffis, Radfahren und Zu-Fuß-Gehen. Dennoch verursacht der Kfz-Verkehr einen großen Anteil am CO₂-Ausstoß – und benötigt dafür zwei Drittel des gesamten Straßenraums. Will die Stadt ihre Ziele bis 2040 erreichen, muss Parken teurer werden, müssen Radwege konsequent vermehrt, müssen gute Lösungen für den Mischverkehr gefunden werden – so wie aktuell am Beispiel Argentinierstraße. Was Wien leider noch nicht gut kann: improvisieren, ausprobieren, experimentieren. Die Klimakrise verlangt schnelle Maßnahmen, die rasch wirken. Hier kann Wien noch mutiger werden.

Andrea Weninger ist Geschäftsführerin, Rosinak & Partner

Architektur

Was in Wien fehlt, ist die Weiterentwicklung der dreidimensionalen Gestalt der Stadt. Ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten bleibt unausgeschöpft. Ich wünsche mir die Radikalität des Roten Wien zurück. Alternative Modelle für Dichte. Mehr Öffentlichkeit und Zugänglichkeit. Eine Transformation der Bestandsstadt und ihrer Straßen. Und die Produktion in die Stadt zurückholen. Wir brauchen erlebbare Beispiele der vielen Möglichkeiten in allen Maßstäben. Und bitte keine Panik vor Höhe im Zentrum! Mit den Worten Ursula von der Leyens: Wir müssen dem Systemwandel ein Gesicht verleihen!

Anna Popelka ist Architektin, PPAG Architects

Wohnbau

Damit Wien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis eine klimafitte Stadt der Zukunft werden kann, brauchen wir sofort Maßnahmen in Flächenwidmung und Bauordnung. Aber nein, stattdessen werden Gebäude und Baukultur nach wie vor unter einen Glassturz gestellt. Ohne innovativen Wohnbau, ohne innerstädtische Nachverdichtung, ohne echte Begrünungskonzepte und ohne Balkone und Schattenplätze werden wir immer mehr grüne Wiese verbauen müssen. Es läuft total verkehrt. Wir müssen um jeden Preis unsere Umwelt und unsere Böden schützen – und nicht nur mittelmäßige Altbauten in der hintersten Vorstadt.

Hans Jörg Ulreich ist Geschäftsführer, Ulreich Bauträger

Energie

Das Prinzip „Energieeffizienz first“ ist simpel: erstens Bedarf vermeiden, reduzieren und optimieren – und zweitens den Rest aus erneuerbaren Energiequellen decken. Dieses Prinzip führt zu nachhaltigen, CO₂-freien Lösungen bei Neubauten und Sanierungen und ermöglicht langfristige Planbarkeit. Was so einfach klingt und im Wiener Neubau längst zum Standard gehört, ist im Altbau leider hochkomplex. Für die klimaneutrale Stadt braucht es daher ganzheitliche Lösungen. Eine vorausschauende, in die Stadtentwicklung integrierte Energieraumplanung ist dazu ein wesentlicher Baustein.

Inge Schrattenecker ist stv. Generalsekretärin, ÖGUT Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik

Kreislaufwirtschaft

Gute Stadtplanung ist sich ihrer Materialisierung bewusst. Sie entwickelt Strategien für die Ver- und Entsorgung in Bau, Betrieb und Bestand – von den Stoffströmen bis hin zum Regenwassermanagement. Als Teil der Stadtproduktion ist das Bauen ein wesentlicher Emittent, daher muss für die Entwicklung einer klimawirksamen Kreislaufwirtschaft die CO₂-Bilanz völlig neu betrachtet werden. Eine klimapositive Stadtplanung verbindet die Reduktion von Verkehr und Emissionen mit Strategien der CO₂-Speicherung – und zielt langfristig auf die Stadt als CO₂-Senke ab.

Thomas Romm ist Architekt, forschen planen bauen, und Initiator, Baukarussell

Soziales

Für das Gefüge in der Stadt ist soziale Kohäsion essenziell. Dazu braucht es institutionelle Möglichkeitsräume, die als multifunktionale Hubs fungieren – als Lernorte und Treffpunkte, mit Kulturangeboten und für Austausch und zur Förderung von Talenten. Solche Orte können soziale Ungleichheiten abfedern und schaffen Ausgleich für jene, die auf beengtem Raum wohnen und wenig Chancen und Möglichkeiten haben. Zudem bieten sie im Hochsommer Kühlung für all jene, die unter den Risiken der Stadthitze leiden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die klimaresiliente Umgestaltung des öffentlichen Raums als Wohnzimmer für alle.

Cornelia Dlabaja Stiftungsprofessur für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung, FH Wien, Sektionssprecherin Soziale Ungleichheit, ÖGS

Migration

Migration ist in Wien längst gelebte Realität. Über 50 Prozent der Jugendlichen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das ist die Mehrheitsgesellschaft von morgen. Gleichzeitig sind 34 Prozent der Menschen nicht wahlberechtigt – ein tiefgreifendes Demokratiedefizit, das noch zunehmen wird. Umso dringlicher ist es, eine solidarische, zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, in der echte Teilhabe für alle möglich ist, und die Stadt so zu planen, dass sie Räume eröffnet, die ein gemeinsames Sprechen, Diskutieren und Streiten fördert.

Ivana Pilić ist Kuratorin und Kulturwissenschafterin, D-ARTS

21. Dezember 2024 Der Standard

Wenn das Erdgeschoß parterre ist

Viele Geschäftslokale stehen leer. Mit dem Wegbrechen der Handelsstrukturen krankt auch das öffentliche Leben in der Stadt. Ein Weihnachtswunsch am letzten großen Einkaufssamstag.

Wir schließen!“ „Alles muss raus!“ „Attraktives Geschäftslokal zu vermieten!“ Auch wenn an den letzten Einkaufssamstagen vor Weihnachten die Menschen wie ausgehungerte Heuschrecken über die Innenstadt herfallen und ob ihrer mächtigen Zahl temporäre Verkehrssperrungen erzwingen, ändert das nichts an den aktuellen Entwicklungen innerhalb der Einzelhandelslandschaft: Selbst in zentral gelegenen Wiener Einkaufsstraßen wie Favoritenstraße, Landstraßer Hauptstraße und – angeblich „too big to fail“, wie die Immobilienwirtschaft immer wieder betont – Mariahilfer Straße hat der Leerstand massiv zugenommen.

„Viele Geschäftslokale stehen leer, die Schriftzüge sind demontiert, die Auslagen großflächig verklebt“, sagt Angelika Psenner, Professorin für Stadtstrukturforschung an der TU Wien, „und das macht was mit uns allen. Mit der Erblindung der Schaufenster, mit dem Verschwinden der Kommunikation zwischen innen und außen und mit dem Wegbrechen der sozialen Interaktion geht eine wesentliche Qualität des öffentlichen Raums und des Stadtparterres verloren.“

Dramatische Situation

Experten gehen davon aus, dass eine gesunde Leerstandsquote im Erdgeschoß, die eine gewisse Dynamik in den Gewerbestrukturen zulässt, um die drei Prozent beträgt. Alles unter fünf Prozent liege immer noch im grünen Bereich. In manchen großen, wohletablierten Einkaufsstraßen in den Wiener Innenbezirken jedoch beträgt der Leerstand aktuell 5,8 bis 6,2 Prozent, wie Roman Schwarzenecker, Prokurist im Beratungsunternehmen Standort + Markt, erklärt. Und da sind Ladenumbauten und Geisterbaustellen wie etwa das 20.000 Quadratmeter große Lamarr der insolventen Signa Holding noch gar nicht miteinberechnet.

Noch dramatischer ist die Situation im ländlichen Raum, in den kleinen Gemeinden und Bezirkshauptstädten, die Leerstände jenseits der 15 Prozent aufweisen und die den Kampf gegen Fachmarktzentrum, Shoppingcenter und Onlinehandel längst verloren haben. Viele bereits konvertierte Geschäftsflächen wie etwa die ehemalige C&A-Filiale in Wiener Neustadt, die – durchaus klug und nachahmenswert – 2017 in ein Ärzte- und Rehabilitationszentrum umfunktioniert wurde, scheinen in der Statistik der verlustig gewordenen Gewerbeflächen gar nicht mehr auf.

Ursachen und Wirkungen

Fragt sich nur: Was tun mit all den leeren Lokalen? Mit dieser großen Frage hat sich kürzlich eine Veranstaltungsreihe an der alten WU beschäftigt, die unter anderem von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA), der IG Architektur, der IG Kultur Wien und der Allianz für Substanz organisiert wurde. Diskutiert und debattiert wurde über Ursachen und Wirkungen, über Fehlentwicklungen und rechtliche Versäumnisse, aber auch über Luftschlösser und Best-Practice-Beispiele.

„Wir können, sobald das klassische Erdgeschoß ausstirbt, nicht überall Garageneinfahrten, Self-Storage-Räume und Automatenshops einbauen“, sagt Philipp Buxbaum, Smartvoll Architekten. „Und auch der Bedarf an Pop-up-Stores und Coworking-Spaces ist enden wollend. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft mit neuen, innovativen EG-Nutzungen zu tun haben werden, die wir uns heute noch nicht einmal ausmalen können.“ Umso wichtiger sei es, so Buxbaum, so offene, flexible Strukturen zu schaffen, dass sie später mit allen möglichen Funktionen bespielt werden können.

Beispielsweise mit Ateliers, Galerien, Wohnungen, Vintageläden, Repaircafés, Suppenküchen, Konfektmanufakturen, Knopfgeschäften, Metallwarenhandlungen, öffentlichen Service-Einrichtungen oder etwa Ausweichquartieren für Schulen, Kindergärten und Volkshochschulen. Oder mit Ärzten, Zahnärzten und orthopädischen Studios, die vor 20 Jahren schon das Erdgeschoß erobert haben und die auch heute noch nach barrierefreien Geschäftslokalen in guten B-Lagen Ausschau halten. Oder aber auch mit Mikrogewerbebetrieben, die auf nur wenigen Quadratmetern intelligente Mikrokonzepte realisieren.

„Und genau das ist die Krux an der Sache“, sagt Uli Fries, Geschäftsführer von Kreative Räume Wien. „Denn die Umnutzung von Erdgeschoßlokalen in Bestandsgebäuden ist leider stark überreglementiert. Die bau- und gewerberechtlichen Anforderungen sind so dermaßen hoch, dass sich junge Gewerbetreibende einen solchen Ausbau kaum leisten können. Damit werden viele Player vom Markt aktiv ausgeschlossen. Und das ist schade – nicht nur für die individuelle Biografie, sondern auch für das Kollektiv Stadt.“

Kreative Räume Wien fungiert als Schnittstelle zwischen Hauseigentümern, Vermieterinnen und Raumsuchenden. Rund 400 bis 500 Anfragen pro Jahr werden jährlich verzeichnet, immer öfter auch Raumanfragen von Schulen, Sozialträgern und Kultur- und Bildungseinrichtungen, doch nur ein Teil davon kann erfolgreich vernetzt werden. „Leider haben viele Eigentümer unrealistische Erwartungen, was die Mieteinnahmen betrifft. Mit dem zunehmenden Wegbrechen des Handels werden sie die Mieten nach unten korrigieren müssen – und einsehen, dass das EG nicht mehr die Cashcow ist, um den Wert der Immobilie zu steigern, so wie früher, sondern ein gutes Werkzeug, um die Lebensqualität eines ganzen Quartiers anzuheben.“

Kultur der Ermöglichung

Was es stattdessen brauche, so Stadtstrukturforscherin Psenner, sei eine Kultur der Ermöglichung, „denn wir leben in einer Großstadt, ohne mit allzu vielen Nachteilen einer solchen Metropole konfrontiert zu sein. Kaum ist es im Parterre um ein Dezibel zu laut, kaum gibt es irgendwo mal Speisegerüche, fühlen wir uns in unserem Sein und Wohnen gestört und greifen sofort zum Telefon. Wenn wir eine lebendige Stadt wollen, werden wir unsere Ansprüche und unser Mindset dringend überdenken müssen.“

In der Seestadt Aspern gibt es ein quartiersübergreifendes Erdgeschoßmanagement, das die Bauträger entlastet und die Programmierung und Vermietung in professionelle Hände auslagert. In einigen Städten wie etwa Götzis, Hohenems oder Klagenfurt sind bereits Kümmerer und Kuratorinnen im Einsatz, die sich um den richtigen Gewerbemix kümmern. Und im Quartier Latin in Paris und in der Amsterdamer Innenstadt springt sogar die Stadt in die Bresche und übernimmt die Anmietung von Lokalen, um wieder kleinteiliges Gewerbe ins Zentrum zurückzuholen.

Der freie Markt wird’s schon richten? Nein, das ist ein Wunschdenken. Jetzt liegt der Ball bei der Gesetzgebung und Stadtverwaltung. Und bei denen, die ihre Erdgeschoße strategisch leer stehen lassen und die Stadt damit dem Verfall preisgeben.

23. November 2024 Der Standard

Helden der Fassade

Wer sind all die Damen und Herren, die seit der Antike schon Erker, Gesimse und ganze Hausfassaden nach oben stemmen? Ein Spaziergang zu den Atlanten und Karyatiden, die vor allem in Wien der Stadt Körper und Gesicht verleihen. Soeben ist dazu ein vielseitiger Atlas erschienen.

Die Muskeln deutlich gezeichnet, angespannt und sehnig. Die Haut glatt und straff, kein Gramm Fett zu viel, über den Lenden ein luftig leichter Faltenwurf. Er mit aller Kraft die Tonnen von Stein und Ziegeln nach oben stemmend, sie indes mit Eleganz den Balkon stützend, ohne auch nur einen Millimeter aus der Körperachse auszuscheren. Wer sich im historischen Wien auf aufmerksame Suche begibt, der kommt nicht umhin, sie bald einmal zu Hunderten zu entdecken, eingeklemmt zwischen Sockeln und Gesimsen – die Atlanten und Karyatiden.

„Atlas, Telamon, Last-Träger ist eine Statue, so in der Architectur statt eine Säule das Gebälcke oder andere schwere Lasten, als gantze Decken, Welt-Kugeln u. d. g. tragen muß“, schrieb der deutsche Baumeister, Mathematiker und Architekturtheoretiker Johann Friedrich Penther anno 1744. „Man hat dieses von der Heydnischen Dichtung, welche dem Atlanti den Himmel auf die Schultern legt, angenommen. Artige Beyspiele von Atlantibus finden sich in dem Eugenischen Palast vor Wien, da selbst statt der Pfeiler ansehnliche Creutz-Gewölbe tragen müssen.“

Letztere freilich, vier an der Zahl, zieren die Sala terrena im Oberen Belvedere, in Auftrag gegeben von Prinz Eugen von Savoyen, errichtet in den Jahren 1714 bis 1723 nach Plänen von Johann Lucas von Hildebrandt. Ursprünglich war die Sala terrena noch ein stützenfreier Raum, doch schon bald kam es zu unerwarteten Setzungen, und so musste der Wiener Bildhauer und Stuckateur Santino Bussi nachträglich vier stützende Atlanten aus dem Stein hauen.
Stumme Giganten

„Mich fasziniert die schöne, sinnliche Muskelzeichnung dieser Figuren, aber auch die erotische, aber niemals sexistische Körperhaltung der Karyatiden, wie sie etwa an den Seitenportalen des Parlaments zu finden sind“, sagt der seit 1988 beim ΔTANDARD tätige Gregor Auenhammer, der Philosophie und Geschichte studierte und sich mit ebensolchem Blick schon seit Jahren durch Wien bewegt. „Im Barock, beim Ringstraßenbau und bis in die Gründerzeit hinein sind diese stummen Giganten, die eine tragende Rolle in Wien spielen, Teil des öffentlichen Stadtbilds. Sie verleihen der Stadt Körper und Gesicht.“

Um diese dienende Arbeit zu würdigen, begab sich Auenhammer zwei Jahre lang auf systematische Suche durch Wien, stöberte nach Hinweisen in Bibliotheken und Denkmalverzeichnissen, wanderte sich auf hunderten Straßen die Füße wund und presste seinen fotografischen Fund schließlich zwischen zwei Buchdeckel. Soeben ist der bildgewaltige (und manchmal auch etwas verbalbarocke) Atlas Wiener Atlanten, Hermen & Karyatiden im Verlag Bibliothek der Provinz erschienen.

„Menschendarstellungen mit stützender Funktion gibt es schon seit der griechischen und ägyptischen Antike“, sagt Wolfgang Salcher, Wiener Landeskonservator im Bundesdenkmalamt. „Doch in der Hochblüte Wiens zwischen 1850 und 1900 – im Historismus, in der Rückbesinnung auf die Renaissance und in der Gründerzeit – wurden sie so vielfach produziert, dass sie im Wiener Stadtbild bis heute so präsent sind wie kaum irgendwo sonst.“

Was einst als Darstellung des Atlas begann, jenes Titanen also, der dazu verurteilt war, den Himmel auf seinen Schultern zu tragen, wurde in der Gründerzeit, so Salcher, zu oft massenproduzierten Avengers, Supermännern und anderen hochpotenten Helden in der Fassadenkomposition. Manchmal wurden die Figuren noch von Hand geformt und gemeißelt, in den meisten Fällen jedoch handelte es sich um vorfabrizierte Romanzement-Figuren und halbfertige Gussteile aus Gips, die man aus dem Katalog bestellen konnte.

„Das späte 20. Jahrhundert ist nahezu ausgestorben, was die Präsenz von menschlichen und mythologischen Gestalten in der Architektur betrifft“, so Salcher. Erst mit der Postmoderne findet die Figur zaghaft wieder Einzug ins Stadtbild. So auch am Karlsplatz an der Bibliothek der TU Wien, geplant von Justus Dahinden, in Form einer 18 Meter hohen Betoneule. Der animalische Atlant des Schweizer Bildhauers Bruno Weber spaltet bis heute die Gemüter. Für Salcher hingegen ist die TU-Bibliothek ein Objekt, das schon bald unter Denkmalschutz stehen könnte.

„Das Verschwinden der schwer tragenden Tiere und der geknechteten, fast schon versklavten Männer und Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat nicht nur mit einem sich verändernden Architekturbegriff zu tun“, meint die Wiener Architektur- und Kunsthistorikerin Ingrid Holzschuh, „sondern ist auch Ausdruck eines kulturellen und gesellschaftspolitischen Wandels.“ In der fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft und Emanzipation des einzelnen Individuums hätten Atlanten und Karyatiden keinen Platz mehr.

Und manchmal scheinbar doch. An der Ecke von Rohanské Nábřeží und Wittgensteinova im Prager Stadtteil Karlín steht eine siebengeschoßige, 24 Meter große Frauenskulptur, die mit ihren Armen das kürzlich errichtete Luxuswohnhaus Fragment umfasst und die tetrisartigen Würfel auf diese Weise scheinbar vor dem Auseinanderfallen bewahrt. „Architektur und Skulptur haben im Laufe der Baugeschichte immer schon eine symbiotische Rolle gespielt, und auch damals schon handelte es sich in den meisten Fällen um eine Art Corporate-Kunst“, sagt David Wittasek, Architekt im Prager Büro Qarta. „Der Auftrag der Bauherren an den Künstler David Černý knüpft an genau diese Tradition an.“

Shitstorm für „Lilith“

Dass die aus poliertem Edelstahl zusammengeschweißte, sexistisch überzeichnete Plastik ausgerechnet auf den Namen Lilith hört – Adams erste Frau im Garten Eden, mythologische Symbolfigur für Freiheit und Gleichberechtigung der Frau –, hat in Medien und Fachkreisen zu einem Shitstorm geführt. „Provokation ist das Recht jedes bildenden Künstlers“, sagt Helena Huber-Doudová, Architekturkuratorin in der Nationalgalerie Prag. „Doch diese Darstellung des weiblichen Körpers ist vorgestrig und erinnert in ihrer hormonellen Überzeichnung an Comicfiguren der 1950er-Jahre. Das hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun, das ist ein Affront gegen alle, die sich in der Gesellschaft nicht als Cis-Männer positionieren. Willkommen im Mittelalter!“

Lilith ist so gesehen eine Botin der gesellschaftlichen, globalpolitischen Umbrüche, mit denen wir aktuell konfrontiert sind. Die Versklavung der menschlichen Figur zur Lastträgerin autokratischer Weltengebäude ist nach hundertjähriger Absenz wieder nähergerückt. Gregor Auenhammers Atlas gibt Einblick und Erkenntnisse.

[ Buchpräsentation am 21. Jänner 2025 im Ahnensaal der Hofburg Wien, Einführung: Christoph Bazil, Präsident des Bundesdenkmalamts, 19 Uhr ]

16. November 2024 Der Standard

Willi wird’s schon richten

Eine Bauernhofruine aus dem 19. Jahrhundert. Was tun? Wilhelm Buchhammer kaufte den Tiroler Hof, verzauberte ihn in ein Schmuckstück – und bekam dafür den Österreichischen Bauherrenpreis 2024.

Der Willi, muss man wissen, ist nicht nur Installateur, was er früher mal erlernt hat, sondern auch Gastwirt unten im Inntal und Vermieter von Ferienwohnungen. Vor allem aber ist er Brotbäcker, Fischzüchter, Schnapsbrenner, Baggerfahrer, Baumeister, Schalungsbauer, Betonierer, Tischler, Fliesenleger, Trockensteinmaurer, Kalklöscher, Kalkverputzer und Dachstuhlzimmermann.

„Der Willi ist echt ein Wunderwuzziwilli“, sagt Architekt Harald Kröpfl, der ein kleines, aber hochbeglückendes Architekturbüro in Landeck betreibt und sich damit für die Ortskernrevitalisierung im Tiroler Oberland starkmacht. „Von so einem Bauherrn habe ich ein Leben lang geträumt. Und von so einem alten Bauernhof hoch oben am Berg wie hier im Kaunertal, von so einer historischen Herausforderung sowieso! Das war durch und durch ein Traumprojekt – von der ersten Skizze vor Ort bis zum ersten übernachtenden Gast.“

Besagter Willi, Wilhelm Buchhammer, wie er im Grundbuche steht, hat ein Herz für alte Bauernhöfe. Als er vor ein paar Jahren erfuhr, dass jener 1890 errichtete Milchbauernhof in Martinsbach, den er schon seit Kindheitstagen kannte, der Gemeinde ein Dorn im Auge war und eigentlich abgerissen werden sollte, fasste er sich ein ebensolches und kaufte die morsche Stein- und Blockhausruine mitsamt zehn Hektar Bergland. Die erste Idee war, die Revitalisierung zum Hobby zu machen, sich ein paar Jahre lang bastelnd durchs Haus zu wüten und es Stein für Stein, Balken für Balken zu ertüchtigen.
Schwieriger Alleingang

„Es sind schon so viele historische Bauernhöfe verschwunden“, sagt Willi, 51 Jahre alt, „nicht noch einer! Vielleicht bin ich ja a bissl sentimental, aber ich wollte meinen Beitrag leisten, um die Geschichte zu bewahren und diese prächtige, ortstypische Tiroler Architektur den nächsten Generationen zu übergeben.“ Und irgendwann, meint er, habe er gemerkt, dass das im Alleingang nicht gehen würde, dass das alles doch nicht so einfach war, wie er sich das vorgestellt habe. Ein Plan musste her. Und am besten ein Architekt noch dazu. Über Empfehlungen kam er schließlich zum Kröpfl Harry.

„Der wusste, was ich will, der hat mich von Anfang an verstanden“, erzählt er. Und so startete eine jahrelange Partnerschaft mit ziemlich wenigen am Computer gezeichneten Plänen und ziemlich vielen Vor-Ort-Gesprächen und Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Da ein morscher Balken, der ersetzt werden musste, dort eine eingestürzte Zwischendecke, die nun zu rekonstruieren war, und zwischendurch musste das Haus hangseitig, auf der Neaderseite, wie man im Oberland sagt, mittels Winden per Handkurbel um 20 Zentimeter angehoben werden, damit es wieder im Lot steht, „aber bloß keinen Zentimeter zu viel, sonst hätte es gerumpelt“.

Das Aufmauern mit Natursteinen, sagt Willi, habe er sich selbst beigebracht, das Betonieren und Stocken des Mauersockels ebenso, und auch das Schlämmen des talseitigen Mauerwerks mit selbst gelöschtem Kalk, unten im Faggenbach, eine ziemlich ätzende Angelegenheit, war selbstmännische Ehrensache. „Am Ende war die Fassade dann halt schon a bissl sehr weiß. Hat in den Augen so richtig geblendet. So konnte das nicht bleiben!“ Die darauffolgende Sanierungsaktion umfasste eine Schwarztee-Kur und mehrfaches Einpinseln mit ebenjenem aufgebrühten Blättersaft. „Einen Tag lang auf dem Gerüst stehen und die Außenwände mit Tee bemalen, und schon hat’s gepasst.“

Jahrelanger Wahnsinn

Für den jahrelangen Wahnsinn, für das unerbittliche Engagement auf Auftraggeberseite wurde Wilhelm Buchhammer gestern, Freitagabend, mit dem Österreichischen Bauherrenpreis 2024 ausgezeichnet. Der seit 1967 jährlich verliehene Preis holt ausnahmsweise mal nicht die Planer und Architektinnen vor den Vorhang, sondern jene Menschen, die das Risiko eingehen und das Geld in die Hand nehmen, um ebensolche Projekte, um ebensolche Visionen zu realisieren. Der von der Zentralvereinigung der Architekt:innen Österreichs (ZV) ausgelobte Preis ist der älteste und konsequenteste seiner Art weltweit.

„Das Verschwinden bäuerlicher Strukturen wird häufig beklagt, aber selten verhindert“, erklärt Gabriele Kaiser, Architekturhistorikerin und eine der Jurorinnen des Bauherrenpreises. „Hier hat ein privater Bauherr mit großer Passion für das Kulturerbe der Region die Initiative ergriffen und einem verwaisten, brachliegenden Hof neues Leben eingehaucht – mit liebevollen Details, mit Riemenböden, Holzbalkendecken, getäfelten Kammern und Möbeln und Öfen aus der damaligen Zeit, unprätentiös und ohne Hang ins Museale.“ Hinzu komme, so Kaiser, die Kontaktaufnahme mit dem Bundesdenkmalamt und dem Tiroler Landeskonservator und die proaktive Unterschutzstellung des Hauses.

Der Willi lacht. „Jetzt kann das Ding nie wieder zerstört oder abgerissen werden, und ich glaube, das ist gut so. Jetzt muss ich noch den Kredit abbezahlen und die Schulden loswerden.“ Man kann ihn dabei unterstützen. Die drei Ferienwohnungen sind ganzjährig buchbar. Eine Reise in eine Welt mit knarrenden Holzböden, schwarzen Bakelit-Schaltern und Wänden, die man streicheln will.

7 ausgezeichnete Häuser

Neben dem Buchhammerhof in Martinsbach wurden folgende sechs Projekte mit dem diesjährigen Bauherrenpreis gewürdigt: Einfamilienhaus mit Schilfdach in Weiden am See: Marina Rosa und Jacobus von Hoorne (Arch. Gilbert Berthold). Wohnprojekt Auenweide in St. Andrä Wördern: Verein Wohnprojekt Wördern, Markus Spitzer (einszueins architektur). KinderKunstLabor in St. Pölten: Stadt St. Pölten, Matthias Stadler, Wolfgang Lengauer, NÖ Kulturwirtschaft GmbH, Martin Maurer, Mona Jas (Schenker Salvi Weber Architekten). Drauforum in Oberdrauburg: Marktgemeinde Oberdrauburg, Stefan Brandstätter (Arch. Eva Rubin). Ágnes Heller Haus, Universität Innsbruck: BIG Bundesimmobiliengesellschaft, Leopold-Franzens-Universität (mohr niklas architekten). Neue Bürowelt Haberkorn in Wolfurt: Haberkorn GmbH, Wolfgang Baur, Andrea Sutterlüty (Nona Architektinnen).

5. November 2024 deutsche bauzeitung

Gemeindebau H4 in Wien

Im Stadterweiterungsgebiet Seestadt Aspern hat WUP architektur mit geringen Mitteln einen Wiener Gemeindebau mit besonders günstiger Miete errichtet. Das Projekt mit kostengünstigen Baustoffen und repetitiven Elementen lagert die Frage von Wertschätzung und Ästhetik in den Bereich sozialer Kompetenz aus.

Die einen denken an Großmutters 48-teiliges Lilienporzellan, eine pastellfarbene Erbschaft aus den 1950er Jahren, die anderen an frisch angemischtes Vanille-, Erdbeer- und Pistazieneis. Fragt man die planenden Architekt:innen, so bezeichnen sie die in Gelb, Grün, Grau, Hellblau und Ziegelrot gestrichene Fassade als Reminiszenz an historische, längst denkmalgeschützte Gemeindebauten, konkret als Zitat auf Karl-Marx-Hof (von Architekt Karl Ehn, eröffnet 1930), George-Washington-Hof (von den Architekten Karl Krist und Robert Oerley, fertiggestellt1930) und den prächtigen, weithin sichtbaren Reumannhof (von Architekt Hubert Gessner, fertiggestellt 1926) – an jene Zeiten also, als die Vermählung von wenig Geld und viel Schönheit noch kein Widerspruch war, sondern als hohe Tugend gemeinnützigen Wohnens angesehen wurde.

Der mit Gemeindemitteln errichtete Wohnbau in der Seestadt Aspern, direkt am neu angelegten, 30 000 m² großen Elinor-Ostrom-Park gelegen, ist das nunmehr siebte realisierte Projekt der Gemeindebau-Neu-Offensive, die die Stadt Wien vor wenigen Jahren aufgenommen hat. 2023 – also genau 100 Jahre nach Einführung der Wiener Wohnbausteuer – wollte die Wiener Gemeindewohnungs-Baugesellschaft (WIGEBA) in Zusammenarbeit mit WUP architektur ein Exempel statuieren und entwickelte ein sozial wie auch funktionstechnisch nachhaltiges Wohnmodell für Menschen mit kleinem Portemonnaie und großem Zimmerbedarf.

»Im Grunde genommen knüpft der Gemeindebau Neu nahtlos an die Werte des Roten Wien an«, sagt Andreas Gabriel, Partner bei WUP architektur. »Damals wie heute sind wir im günstigen Preissegment mit hoher Wohnungsnot konfrontiert, und damals wie heute ist eine der wichtigsten Aufgaben die Schaffung billigen, leistbaren, bezahlbaren Wohnraums für eine möglichst große Zahl an Menschen.« Die niedrigen, gedeckelten Baukosten ermöglichen am Ende eine Mietbelastung von nur 7,50 Euro /m² – ohne Eigenmittel, ohne Kaution, ohne Befristung.

Und schon auf den ersten fachkundigen Blick ist ersichtlich, dass WUP architektur gar nicht erst versucht hat, mit den geringen zur Verfügung stehenden Geldmitteln eine Skulptur oder irgendeine programmatische Architekturikone auf die Beine zu stellen. Tatsächlich verbirgt sich hinter dem Projekt, sobald man die Balkonplatten und das verspielte Farbkleid gedanklich entfernt hat, eine banale, komplett durchstandardisierte Betonkiste mit minimaler Außenfläche und maximaler Kubatur. Und mit tragenden Außenwänden und zwei tragenden, mittig angeordneten Innenwänden wie anno dazumal in der flexiblen, viel beschworenen Gründerzeit.

Kostengünstig und durchdacht

»Der Kostendruck im Gemeindebau ist enorm«, so Gabriel. »Also haben wir beschlossen, in der Bauweise und in den Materialoberflächen bewusst zu sparen. Wir haben klassische Baustoffe verwendet und haben die Palette an unterschiedlichen Bauprodukten so klein wie nur möglich gehalten.« Konkret bedeutet das: Stahlbeton, WDVS-Fassade mit Polystyrol und synthetischem Putz, einheitliche Kunststofffenster, einfache Laminatböden in den Wohnräumen sowie verzinktes, unlackiertes Stabgeländer an den Balkonen. Das geht so weit, dass selbst im Treppenhaus die Außenwandkonstruktion und das immergleiche Fensterformat ohne Variation durchgezogen wurde und man – auf dem Halbpodest stehend – in Augenhöhe direkt auf einen Betonkämpfer zuläuft. Das nennt man dann Konsequenz.

Doch wo an einer Stelle gespart wird, kann an anderer Stelle Hochwertiges entstehen. Im Falle des Gemeindebaus H4, ganz nüchtern und uncharmant nach der Grundstücksnummer im neu erschlossenen Quartier Am Seebogen bezeichnet, schlagen die Werte weniger im Materiellen als vielmehr im Funktionalen, im Alltäglichen, im allzu Menschlichen zu Buche: Das Balkonband ist rundumlaufend angelegt, jede Wohnung verfügt über eine 2,50 m tiefe Aufweitung, die man auch mit Tisch, Outdoor-Sofa oder Hollywood-Schaukel möblieren kann, zudem kann man aus jedem einzelnen Zimmer durch ein französisches Fenster, das die Belichtungsfläche bei gleichzeitiger baulicher Verschattung auf ein Maximum erhöht, an die frische Luft hinaustreten.

»Meistens fragt man sich, was man selbst für schön hält und wonach man sich im Wohnen sehnt«, meint Bernhard Weinberger, die andere Hälfte der WUP-Geschäftsführung. »Doch bei diesem Projekt haben wir uns als Architekten und Gestalter zurückgehalten. Wir haben uns die Frage gestellt: Was wünschen sich die Mieterinnen und Mieter? Und wie definieren sich Träume und Schönheit, wenn man nur ein geringes Wohnbudget zur Verfügung hat und auf eine gestützte Gemeindewohnung angewiesen ist?«

Die Antwort darauf findet man in sehr cleveren, durchdachten Grundrissen mit einer Sanitäreinheit in der Mitte und der Möglichkeit, selbst in den kleinsten Zweizimmerwohnungen im Kreis laufen zu können. Ein Drittel der insgesamt 74 Wohnungen ist sogar mit raumhohen, in die Wand integrierten Schiebewänden ausgestattet. »Wir denken weniger in Zimmern und mehr in Nutzungsbereichen«, meint Weinberger. »Je nach Bedarf können diese Bereiche unterschiedlich genutzt werden, sind mal zum Wohnen, mal zum Schlafen, mal zum Arbeiten da.«

Damit erklären sich auch die große Tiefe der Wohnungen und die schmalen, aber langen Schlafzimmer mit jeweils zwei Zugängen und zwei getrennten elektrischen Schaltkreisen: Falls gewünscht, können die Zimmer mit Vorhängen, Raumteilern oder raumhohen Schrankwänden abgetrennt werden und schaffen auf diese Weise Platz zum Arbeiten im Homeoffice oder für das Patchworkkind, das am Wochenende zu Besuch kommt. In den schematischen Grundrissen und Nutzungsszenarien, mit denen sich WUP architektur in einem zweistufigen Konkurrenzverfahren gegen die Mitstreiter:innen durchsetzen konnte, lässt sich die soziale Kenntnis der Planer:innen, die über das traditionelle Vater-Mutter-Kind-Modell weit hinausreicht, mit einiger Gender-Ironie ablesen – samt Bügelbrettern, Kraftkammern und Modelleisenbahnen.

Wir sind zu Besuch im dritten Stock. Als sich die Wohnungstür öffnet, erscheinen zwar keine Alleinerziehenden mit Kind und Kegel an der Hand, dafür aber Margarethe und Herbert Stoklassa mit einem glücklichen Grinsen im Gesicht, sie 74, er 86 Jahre alt. »Wir sind keine Patchwork-Familie, und auf konzentriertes, ungestörtes Arbeiten im Homeoffice sind wir in unserem Alter auch schon lange nicht mehr angewiesen«, sagen die beiden, »aber von diesem großartigen Grundriss profitieren auch wir! Unglaublich, wie die Architekten das gemeistert haben!«

Schon gehen die beiden im Kreis spazieren, öffnen und schließen die beiden Schiebetüren zwischen Küche, Wohnzimmer und Schlafbereich, der sogar über eine kleine Bibliothek und Computerecke verfügt. Dank des offenen Grundrisses und der drei großen französischen Fenster wirkt die 52 m² große Miniwohnung um gute 10 m² größer, als sie ist. »Die Schiebetüren sind ein Hit, oder? Meistens stehen die Türen eh offen, dann ist es, als würden wir in einem kleinen Loft wohnen. Nur wenn wir einen Disput haben, um es vornehm zu formulieren, was ohnedies selten passiert, machen wir die Schiebetüren zu und haben Ruhe voneinander.« Das ist, ganz im Alltag angekommen, sozialer Wohnbau at its very best.

Bernhard Weinberger hat Freude mit seinem Haus, deutet auf die farbigen Korridore, die die Lilienporzellan-Farben in abgesofteter Weise im Inneren wieder aufgreifen, auf die einfachen, aber effizienten Beschriftungen an den Glasscheiben, in mal lesbarer, mal spiegelverkehrter Schrift, auf den Fahrrad-Abstellraum mit direkter Hinausfahrmöglichkeit in den Hof. »Sind wir stolz auf Plastikfenster, EPS-Wärmedämmung und Pseudo-Parkettboden, der eigentlich nur aus bedrucktem, laminiertem Papier besteht? Nein! Aber wir sind stolz darauf, dass uns unter diesen widrigen finanziellen Umständen ein Wohnhaus mit dieser sozialen Qualität gelungen ist.«

Trotz Erdöl-Derivaten und massenindustrieller Stangenware, die in ihrer Produktion wohl alles andere als superfair und superbio ist, hat es der Gemeindebau H4 geschafft, für den Österreichischen Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2024 nominiert zu werden. Ein starkes Zeichen.

25. Oktober 2024 Der Standard

Mit einer knallweißen Permanenz

17 Jahre lang war die Institution heimatlos, nun ist es endlich so weit: Heute, Freitag, 25. Oktober, wird das Museum moderner Kunst in Warschau eröffnet. Der Megabau präsentiert sich als nach außen gestülpte White Box.

Alles ist weiß. Ein kaltes, distanziertes, fast schon abstoßend klinisches Weiß in den Augen. Weiße Säulen, weiße Wände, weiße Plafonds in den Arkadengängen. Hinzu kommen die Portale und Fluchttüren aus Edelstahl, die antibakterielle Ästhetik einer Kühlkammer, eines industriellen Schlachthofs ausstrahlend. Und schließlich die vielen LED-Linien im Foyer und auf den Galerien, wie gleißende Lichtschwerter den Raum durchschneidend. Einfach nichts an diesem Haus ist warm, sinnlich, einladend – und doch kann man nicht anders, als hinzugreifen und den samtigen, perfekt gegossenen Beton zu streicheln und nicht mehr loszulassen.

„Die Ambivalenz aus diesem Eiskalten und diesem doch irgendwie Wohlig-Warmen ist schon verblüffend, oder? Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen Lieblingsort!“ Wenige Schritte und Höhenmeter später steht Joanna Mytkowska, Direktorin des neuen Warschauer Museums moderner Kunst, im Stiegenhaus im zweiten Stock, auf der einen Seite eine expressionistische Treppenlandschaft offenbarend, wie mit dem Skalpell aus dem Beton herausgeschnitzt, auf der anderen Seite – durch ein 19 Meter breites und fünf Meter hohes Panoramafenster – der Blick auf den stalinistischen Kulturpalast, der in den 1950er-Jahren im sowjetischen Klassizismus errichtet wurde und seitdem 237 Meter hoch in den Himmel ragt.

Das Muzeum Sztuki Nowoczesnej (MSN) ist das nunmehr fünfte und letzte Museumsprojekt, das sich die polnische Regierung mit dem EU-Betritt 2004 als Hausübung selbst auferlegt hatte. Nach dem Museum der Geschichte der polnischen Juden, dem Museum des Warschauer Aufstands, dem Museum der polnischen Geschichte und dem Museum der polnischen Armee – die beiden letzteren wurden im Sommer 2023 eröffnet, wiewohl mangels Geldmittel und kuratorischen Ausstellungskonzepts bis heute nur teilweise in Betrieb – gilt die Aufmerksamkeit nach zwei Jahrzehnten EU-Mitgliedschaft nun der zeitgenössischen Kunst.

„Wir hatten einen sehr, sehr langen Atem“, sagt Mytkowska, die früher, bevor sie der Einladung nach Warschau gefolgt ist, als Kuratorin am Centre Pompidou in Paris tätig gewesen war. „Die Institution haben wir 2007 gegründet, doch bislang hatten wir nie ein eigenes Haus.“ Zu Beginn war das heimatlose Kunstmuseum in einer historischen Villa am Stadtrand eingemietet, danach für einige Jahre im luftig-leichten Nachkriegsmöbelhaus Emilia, ehe dieses an einen Privatinvestor verscherbelt und abgerissen wurde, zuletzt in der temporären Berliner Kunsthalle des Wiener Architekten Adolf Krischanitz, die nach dem Abbau an der Spree an die Weichsel übersiedelte.

„Doch damit war die Odyssee noch lange nicht zu Ende“, erinnert sich Mytkowska. „Es hat sage und schreibe drei Wettbewerbe gebraucht, bis wir endlich bauen konnten. Eine Blamage für uns!“ Der erste Wettbewerb verstieß gegen die EU-Vergabeordnung und musste noch in der Ausschreibungsphase abgeblasen werden. Der zweite Wettbewerb kürte den Schweizer Architekten Christian Kerez zum Sieger, dessen radikal minimalistisches Projekt jedoch an den hohen Baukosten, an den Hassprotesten der Bevölkerung sowie an den damals noch ungeklärten Eigentumsverhältnissen des Standorts scheiterte. Der dritte Wettbewerb 2014 schließlich führte zum langersehnten Erfolg – und damit zum Sieg des New Yorker Architekten Thomas Phifer. Heute, am 25. Oktober, wird das Ding nach fünfjähriger Bauzeit feierlich eröffnet.

100 Meter lang, 40 Meter breit, 23 Meter hoch: Wie eine überdimensionale iPhone-16-Verpackung aus weißem, matt cellophaniertem Karton mit harten, eckigen Kanten legt sich das Museum moderner Kunst vor die Skyline des Kulturpalasts, direkt an die dicht befahrene Ulica Marszałkowska. Hier wird gar nicht erst gekleckert, hier wird in gigantischen Maßstäben geklotzt. Ohne jegliche Verspieltheit im Kleinen, dafür in dutzend Meter langen Schnitten und morphologischen Volumensubtraktionen auf Makroebene. Der Architekt selbst spricht von „visueller Permanenz“ und einer neuen „Kunstmasse“ im Herzen der Stadt.

Allerhöchste Güte

Was aussieht wie weißer Putz oder wie eine weiß getünchte Oberfläche, ist in Wirklichkeit Sichtbeton aus Weißzement, weißen Zuschlagstoffen und fein gemahlenem Titan, angemischt und durchgerüttelt in allerhöchster Güte. Um eine möglichst hohe Präzision zu gewährleisten, wurde auf dem Grundstück nebenan eine temporäre Feldwerkstatt errichtet, sodass Tischler und Handwerkerinnen die Betonschalungselemente direkt vor Ort anfertigen und in Millimeterarbeit umbauen und adaptieren konnten. Die Baukosten belaufen sich auf 700 Millionen Złoty, rund 162 Millionen Euro.

„Das Prinzip der White Box, reduziert und entsättigt, ist nichts Neues“, sagt Architekt Thomas Phifer, mit einer glücklichen Ruhe durchs Haus schreitend. „Doch nicht nur das. Wir wollten darüber hinaus Fassade und Innenraum nicht als zwei getrennte Elemente auffassen, sondern vielmehr als eine holistische Megaskulptur. Also haben wir die White Box einfach nach außen gestülpt.“ Das Bild, so Phifer, sei durchaus passend, denn so könne sich die politische, wirtschaftliche und baukulturelle Renaissance Warschaus, die er gerade beobachte, vor dem Hintergrund einer White Box als künstlerischer Moment präsentieren.

„Die ersten 17 Jahre in meiner Rolle als Direktorin des Museums moderner Kunst war ich eine Obdachlose, auf der Suche nach einem eigenen Haus“, sagt Joanna Mytkowska. „Ich denke, die Arbeit hat sich ausgezahlt.“ Die Sammlung wurde seit 2007 kontinuierlich aufgebaut – zum Teil mit finanzieller Hilfe und kuratorischer Unterstützung der österreichischen Erste Stiftung – und umfasst heute an die 1000 Werke. Die erste große Ausstellung wird den Titel Impermanent tragen, verrät die Direktorin. „Eine Anspielung auf unser bis dato unbeständiges Nomadentum. Diese Zeiten sind endlich vorbei.“

19. Oktober 2024 Der Standard

Klingeling, Haus Nummer 4711

Immer mehr Menschen wollen auch im hohen Alter selbstbestimmt und in lustiger Gemeinschaft wohnen. Das ist ein Auftrag an Politik, Architektur und Wohnungswirtschaft. Zu Besuch bei Elisabeth, Georg, Maria, Freya und Iris.

Es gibt Mohntorte mit Himbeeren und Biskuitroulade mit Marillenmarmelade, dazu einen ganzen Becher frischen Schlagobers. Und eine gehörige Portion Zensur auf den Artikel. „Sie dürfen alles schreiben, was wir Ihnen erzählen und wovon Sie sich selbst ein Bild machen konnten“, sagt die Frau mit dem roten Pulli und dem roten Schal. „Wir freuen uns über jede Publikation, die dem Thema dienlich ist, aber wehe, wir lesen in der Zeitung unser Alter! Schreiben Sie einfach, dass wir bereits reichlich Lebenserfahrung haben.“

Nun denn, von links nach rechts: Elisabeth Kaposi, Georg Barta, Maria Steiner, Vereinsobfrau Freya Brandl und Iris Schmiedbauer sind nicht mehr die Jüngsten. Aber als sie es noch waren, damals, vor zehn Jahren, entstand die Idee, eines Tages eine Art Alters-WG zu bewohnen, mit Menschen in ihrem dritten Lebensalter, Tür an Tür unter ihres- und seinesgleichen, so wie in all den zuvor besichtigten Senioren-WGs in Berlin, in Schottland, in den Niederlanden – und so gründete man gemeinsam den Verein Kolokation.

Zu Beginn noch machte man sich auf die Suche nach einem Altbau, nach einer großen Gründerzeitwohnung oder einer Okkasion irgendwo im Hinterhof. Doch der freie Markt und die weitaus lukrativeren Konkurrenzangebote von gewerblichen Developern machten dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Und so schnappte sich der Verein einen gemeinnützigen Wohnbauträger und fungierte mit einer Absichtserklärung – einem sogenannten Letter of Intent – als partnerschaftlicher Trittbrettfahrer in einem von der Stadt Wien ausgelobten Bauträger-Wettbewerb.

Reduktion gegen Lebensende

Freya wohnte früher, nachdem ihr Mann verstorben war, allein in einem Reihenhaus. Maria war in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Baden daheim, mit über einer Stunde Anfahrt zu ihren heißgeliebten Tangonächten in Wien. Und Elisabeth hatte eines Tages den inneren Wunsch, sich nach einem wilden, künstlerisch verdichteten Leben wieder gesundzuschrumpfen. „Wir können unseren Kindern nach dem Tod ja nicht hunderte Quadratmeter voller Zeug hinterlassen“, sagt sie. „Das wäre ja eine Zumutung! Die Reduktion gegen Lebensende ist Teil der eigenen Verantwortung.“

Vor allem aber sehnten sie sich alle nach einem Leben in Gemeinschaft. Nach einer Nachbarschaft mit Sympathie und Empathie. Nach einem sozialen Gefüge, in dem man sich nicht dafür entschuldigen muss, wenn man einmal Hilfe benötigt, weil man Arthrose hat oder im Rollstuhl durchs Leben fährt. Fündig wurde der Verein im Sonnwendviertel, in einem vom gemeinnützigen Bauträger EGW errichteten Wohnhaus am Helmut-Zilk-Park. Die Kolokation-WG nimmt den gesamten zweiten Stock ein und umfasst 15 Wohnungen für insgesamt 17 Personen. Dazu gibt es einen 100 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum mit Küche, Sofas, Fauteuils, einem fünf Meter langen Esstisch und einer Wand voller Bücher und DVDs.

21,2 Prozent aller EU-Bürger sind älter als 65 Jahre. Zurückzuführen ist das demografische Phänomen vor allem auf den medizinischen Fortschritt, auf den zunehmenden Wohlstand in Europa sowie auf ein generell steigendes Bewusstsein für Lebensqualität und selbstwirksame Lebensgestaltung. Und der Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) prognostiziert, dass der Anteil der über 65-Jährigen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 31,3 Prozent hochklettern wird.

Das Beunruhigende an diesen Aussichten ist nicht die größer werdende Gruppe der 4711-Echt-Kölnisch-Wasser-Fraktion, sondern die fehlende politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. „Die alten Menschen sind alles andere als eine homogene Gruppe mit einheitlichen Lebens- und Wohnvorstellungen“, sagt der Schweizer Soziologe und Generationenforscher François Höpflinger. „Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die lebenslang gelernt haben, ihre Individualität zu pflegen. Dementsprechend sind alle Lebens- und Wohnprojekte, die von einem einheitlichen Typ älterer Menschen ausgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.“

Während sich die Bundes- und Landespolitik in den letzten Jahren also vor allem auf das Thema Pflege fokussiert hat (und dabei andere Entwicklungen und Bedürfnisse der Babyboomer-Generation verschlafen hat), entstanden auf Gemeinde- und Vereinsebene zahlreiche innovative Wohn- und Kooperationsmodelle – von der Omama-Wohngruppe über Co-Housing-Projekte bis hin zu Plattformen und intergenerativen Serviceleistungen. Ein paar Dutzend davon sind nun in der kürzlich eröffneten Ausstellung Wie geht’s, Alter? im Architekturforum Oberösterreich (AFO) zu sehen.

„Das halb leerstehende Einfamilienhaus befeuert die Einsamkeit und Zersiedelung und ist die allerschlechteste Lösung“, sagt AFO-Leiter Franz Koppelstätter. „Vor allem im ländlichen Raum gibt es große Wechselwirkungen zwischen Senioren und der Revitalisierung von Dorfzentren und öffentlichen Freiräumen, denn während junge Leute Tag für Tag zum Lernen und Arbeiten in die Stadt auspendeln, sind es meist genau diese älteren Menschen, die aufgrund ihres kleineren Mobilitätsradius im besten Fall das Dorf am Leben erhalten – vorausgesetzt natürlich, es gibt entsprechend attraktive Wohn- und Lebenskonzepte.“

Herzblut-Angelegenheiten

In Kleinzell im Mühlkreis ist es gelungen, unter dem Titel Wohnen mit Service einen alten Vierkanthof zu kaufen und mit interessierten Senioren partizipativ zu entwickeln, Besiedelung ab April 2025. Die Herbstzeit GmbH vermittelt ältere, meist einsame Menschen in Gastfamilien, die bereit sind, ihr Zuhause mit einer Ersatzoma, einem Ersatzopa zu teilen. Und die Plattform Wohnbuddy schaut sich nach leerstehenden Zimmern in Seniorenheimen um und vermittelt diese zu einem günstigen Mietpreis an Studierende – unter der Voraussetzung, dass diese ihren weitaus älteren Nachbarinnen und Nachbarn für ein paar Stunden die Woche als Buddy für Gespräche und diverse Hilfsdienste zur Verfügung stehen.

In Wien plant der Verein Kolokation die mittlerweile vierte Senioren-WG, und in Salzburg baut der Verein Silberstreif mit rund 35 Leuten und dem Bauträger Heimat Österreich eine Seniorenwohngruppe im Wohnprojekt Gnice, Einzug im Sommer 2026. Was sowohl Kolokation als auch AFO-Leiter Franz Koppelstätter fordern: „Bislang handelt es sich bei allen Projekten um Einzelinitiativen und Herzblut-Angelegenheiten einiger weniger Akteure. Was definitiv fehlt, sind Informations- und Beratungsstellen im Rathaus – und die politische Bereitschaft, den geförderten, gemeinnützigen Wohnbau um eine neue Varianz zu bereichern.“

„Wie geht’s, Alter? Gemeinsam Räume für die Zukunft schaffen“ im Architekturforum Oberösterreich (AFO) in Linz. Zu sehen bis 13. Dezember 2024.

12. Oktober 2024 Der Standard

Herrn Štěchs Gespür für Schönes

Der tschechische Fotograf Adam Štěch hat ein Faible für architektonische Details des 20. Jahrhunderts. Er reist durch die Welt und will die Menschen für das Kleine begeistern. Nun sind seine Fotos im Mak zu sehen.

Wie von Geisterhand aufgeklappt, unter einem 70-gradigen Winkel zum Stillstand gekommen, kreisrunden Einblick offenbarend in einen Raum aufregender Stille. „Ich glaube, ich habe noch nie zuvor ein so schönes, außergewöhnliches Toilettenfenster gesehen“, sagt Adam Štěch. „Der Sichtbeton, die geböschte Laibung, die farbliche Reduktion auf das Wesentliche, die Unsichtbarkeit technischer Öffnungs- und Konstruktionsdetails, und dann erst diese über alles überraschende räumliche Lösung zwischen drinnen und draußen: Was für eine Formensprache!“

Ort dieser Begegnung zwischen Objekt und Objektjäger ist die Casa Albero in der italienischen Küstenstadt Fregene in der Einflugschneise des Flughafens Fiumicino, 30 Kilometer von Rom entfernt. Mitten in einem Pinienwäldchen bauten sich Giuseppe Perugini, damals Professor für Gestaltung an der Universität Roma Tre, seine Frau Uga de Plaisant und deren gemeinsamer Sohn Giuseppe Perugini in den Jahren 1967 bis 1975 eine Art betoniertes Baumhaus, das teilweise auf dem Boden stand, teilweise aber auf einer waghalsigen Stützenkonstruktion in den Baumkronen steckte.

Dreidimensionales Tetris

„Die Casa Albero, auch bekannt als Casa Sperimentale“, sagt Štěch, die Begeisterung in seiner Stimme ist nicht zu überhören, „stammt aus einer Zeit, als man sich noch traute, mit Raum und Material zu experimentieren. Manche Elemente dieses Bauwerks wirken wie dreidimensionales Tetris, wie in Beton gegossener Strukturalismus, andere hingegen haben fast schon einen verspielten, postmodernen Charakter. Dieser Brutalismus der europäischen Nachkriegsmoderne hat es mir besonders angetan. Ich kann die Kamera kaum abwenden.“

Štěch (38) studierte Kunstgeschichte an der Karls-Universität in Prag, fühlte sich im Milieu alter Meister, alter Werke aber nie so richtig wohl. Er sei, wie er selbst meint, immer das schwarze Schaf unter den Akademikern gewesen, mehr am Bild, an der visuellen Kraft, an der Entstehungsgeschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts interessiert als an Thesen und theoretischen Schriften. „Meine Methodik ist das Foto als analoges, zeitloses Dokumentationsmittel, als Transportmittel von Emotionen und Begeisterung.“

Das Museum für angewandte Kunst (Mak) widmet diesem Transportmittel derzeit eine eigene Ausstellung. Unter dem Titel Elemente. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details sind im Kunstblättersaal rund 2500 dieser „Elemente“ zu sehen. In kompakter Größe, mit abgerundeten Ecken wie damals in den Sechzigern, Siebzigern, kann man durch Štěchs Pupillen auf die Welt schauen, unterteilt in kleinteilige Kapitel wie etwa Türen, Griffe, Fenster, Lampen, Uhren, Kamine, Heizkörper, Waschbecken, Stiegengeländer, Wandvertäfelungen und Möbel aller Art. Es sind genau jene Elemente besessener Formgebung, bis zur buchstäblich allerletzten Schraube, von denen Architekten wie Adolf Loos, Jože Plečnik, Frank Lloyd Wright, Le Corbusier und Gio Ponti nicht die Finger lassen konnten.

„Ich fotografiere seit meinem 20. Lebensjahr, und ich kann mich an diesen Details der Moderne einfach nicht sattsehen“, sagt Adam Štěch. Knapp 50 Länder hat er seitdem bereist, aktuell fotografiert er sich mit seiner Sony Alfa durch die japanische Moderne. Das Archiv umfasst bereits an die 10.000 abgelichtete Gebäude, vom winzigsten Detail über Fassadenansichten bis hin zu umfassenden Fotoreportagen. Das 2020 im Prestel-Verlag erschienene Buch Modern Architecture and Interiors zeigt einen kleinen Bruchteil davon: 1000 Häuser auf 1000 Seiten.

Zu fast jedem Bauwerk der Moderne, so scheint es, pflegt Štěch eine leidenschaftliche Beziehung. So auch zur feuerroten Stahltür in der Treppenstütze der Villa Gontero in Cumiana nahe Turin. „Einer meiner absoluten Favoriten! Ein Hauseingang wie auf einem U-Boot, bloß halt nicht unter der Wasseroberfläche, sondern im Schatten des darüber schwebenden Wohngeschoßes.“ Errichtet wurde das expressionistische Wohnhaus von Carlo Graffi und Sergio Musmeci in den Jahren 1969 bis 1971 für den italienischen Maler Riccardo Gontero. „Die Diskrepanz zwischen der Gegenständlichkeit seiner Bilder und der Abstraktion seines Wohnsitzes“, so der Fotograf, „ist mehr als verblüffend.“

Oder etwa zum Dom Umenia (Haus der Kunst) in der slowakischen Kurstadt Piešťany, errichtet 1974 bis 1979 nach Plänen von Ferdinand Milučký und Júlia Kunovská. Während das Gebäude von außen als hermetische, fast schon abweisende Betonbox erscheint, offenbart sich innen ein sinnliches, rot wogendes Universum aus Lampen, Deckenstreben und weich gepolsterten Stühlen. „Diese hunderten Lämpchen!“ Und dann ein glückliches Grinsen am anderen Ende der Welt.

Sein Ziel, sagt Adam Štěch, ist die Begeisterung und Sensibilisierung für das Kleine, für das Detaillierte in der Architektur. Und die Schaffung der weltgrößten Bilddatenbank systemisch erforschter Architekturdetails des 20. Jahrhunderts. Ersteres ist ihm bereits gelungen. Letzteres ist nur eine Frage der Zeit.

7. September 2024 Der Standard

Der Herr Baumeister Schwammerl

Die einen gehen in den Wald, um Pilze zu sammeln, die anderen haben sich auf das Bauen und Forschen mit deren hochintelligentem Wurzelwerk spezialisiert. Das Potenzial der sogenannten Myzelien ist enorm – und könnte die Baubranche eines Tages komplett umkrempeln.

Pilze führen in unserer Lebenskultur ein ambivalentes Dasein. Eierschwammerl gut, Knollenblätterpilz böse. Der eine ist ein Glückspilz, der andere wird zum Schwammerl. Als weißer Camembert und blauer Roquefort eine Conditio sine qua non, auf anderen Nahrungsmitteln jedoch ein Grund zur sofortigen Küblierung. Während Fliegenpilze aus Marzipan als Freudenbringer verschenkt werden, bringen sie als Original draußen in der Natur bloß Tod und Verderben. Und was im Antibiotikum dank seiner Heilkräfte hochbegehrt ist, dem begegnen wir in der Duschkabine mit Putzfetzen und chemischem Schimmelreiniger.

Mit dem 2021 erschienenen Buch Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen ist es dem britischen Biologen Merlin Sheldrake, der an der Oxford University unterrichtet und auch vor diversen Selbstversuchen mit der halluzinogenen Materie nicht zurückscheut, gelungen, das Thema in die breite Masse zu streuen. Seit damals wissen die Bestsellerjäger, dass sich der größte Pilzorganismus der Welt – ein Dunkler Hallimasch irgendwo in Oregon, USA – über neun Quadratkilometer Waldfläche erstreckt und mehrere Hundert Tonnen auf die Waage bringt. Er gilt als das größte Lebewesen der Erde.

Klimawandel

Auch im Design und in der Architektur spielen Pilze eine zunehmend wichtige Rolle. Schon seit den 1980er-Jahren wird mit den fadenförmigen Zellen und den unterirdischen, oft weitverzweigten Wurzelgeflechten – den sogenannten Myzelien – intensiv geforscht. In den letzten Jahren bekam die Myzelienforschung dank Klimawandel, Kreislaufwirtschaft und einer immer wichtiger werdenden Ressourcendebatte großen Rückenwind. Und natürlich auch dank Merlin Sheldrake.

Immer mehr Architekturbüros widmen sich in ihrer täglichen Arbeit dem Schwammerl. An manchen Architekturfakultäten, wie etwa in Kassel, Karlsruhe und Newcastle, wurden bereits Institute für Myzelienforschung und Bauen mit biotechnologischen Materialien ins Leben gerufen. Und bei der Architekturbiennale 2023 in Venedig haben die Kuratoren den belgischen Pavillon unter dem Titel In Vivo mit insgesamt 300 lebenden Myzelienplatten ausgekleidet.

„Myzelien sind ein faszinierendes Baumaterial, das zur Dekarbonisierung der gebauten Umwelt beitragen kann, von dem wir aber noch vergleichsweise wenig wissen“, sagt Corentin Dalon, Partner im belgischen Architekturbüro Bento und zugleich Kurator des belgischen Biennalepavillons. „Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Forschung bei uns im Atelier voranzutreiben. Das langfristige Ziel ist, im Umgang mit Myzelien eines Tages ein so großes Repertoire zu haben, dass wir damit unterschiedlichste Dinge bauen können.“

Pilzwurzelgeflechte

Zu Beginn sammelte Dalon die weißen Pilzwurzelgeflechte noch eigenhändig im Wald ein, mittlerweile lässt er sich die Myzelien von einem Spezialisten liefern. Im Büro werden die Myzelien erst in der Petrischale unter sterilen Bedingungen zum Wachsen gebracht, ehe sie auf ein biologisches Trägermaterial übertragen werden, das ihnen dank hohen Zucker- und Stärkegehalts als Nahrungsgrundlage dient: Sägespäne, Holzschnitzel, Hanffasern, Stroh oder auch Treber aus der Bierproduktion. Bei 70 bis 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, sommerlicher Zimmertemperatur und absoluter Dunkelheit beginnt das Myzelium, sich auszudehnen und bis in die allerkleinsten Hohlräume einzudringen. Durch Wasserentzug kann das Wachstum gestoppt, der Pilz „schlafend“ gestellt werden. Oder aber man tötet ihn bei rund 80 Grad Celsius irreversibel ab.

„Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen kann man das Wachstum und den Endzustand des Myzels perfekt beeinflussen, ja sogar aktiv gestalten“, erzählt Dalon, der am liebsten mit dem Reishi-Pilz (Ganoderma lucidum) arbeitet. Dabei sind von den schätzungsweise sechs Millionen Pilzarten auf der Erde erst an die 120.000 erforscht. „Je nach Pilz, Trägermaterial und Wachstumsprozess lassen sich Produkte mit sehr unterschiedlichen Eigenschaften bauen.“ Aktuell arbeitet Dalon an Tischen, Hockern und Leichtbauplatten für den Innenausbau.

Einige Myzelprodukte sind in der Tat schon am Markt: Mogu (Italien), Biohm (England) und Ecovative (USA) etwa haben sich auf die Produktion von nachhaltigen Dämmplatten und Akustikpaneelen spezialisiert. Philipp Eversmann jedoch, Professor an der Universität Kassel und spezialisiert auf experimentelles Entwerfen und Konstruieren, ist das zu wenig. Er will noch weiter gehen. „Der Innenausbau spielt in der Architektur eine wichtige Rolle, und es tut mir weh, mitansehen zu müssen, dass wir mit jedem Büroumbau tonnenweise Sondermüll aus Gipskartonplatten schaffen. Das muss auch anders, das muss auch biologisch abbaubar gehen.“

In Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und dem Londoner Ingenieurbüro ARUP arbeitet er nun an einer markttauglichen Variante von 2,50 hohen und zehn Zentimeter dicken Myzelplatten für den Innenausbau. „Wir wollen den komplizierten Aufbau in einem einzigen massiven, aber leichtgewichtigen Bauteil zusammenfassen und sind davon überzeugt, dass dieses Produkt den weltweiten Trockenbaumarkt revolutionieren könnte.“ Das Projekt wird vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit rund einer Million Euro gefördert und soll bis 2025 abgeschlossen sein.

Ökologisches Umdenken

„Doch ich fürchte“, meint Ruth Morrow, Professorin für biologische Architektur an der Newcastle University, England, „dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist, um eine relevante Marktdurchdringung von Myzelwerkstoffen überhaupt zuzulassen. Noch ekeln sich viele davor, mit so einem biologischen Produkt zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die gesamte globale Bauwirtschaft heute auf Perfektion, Unzerstörbarkeit und Ewigkeitsanspruch ausgerichtet ist. Wir müssen erst einmal unser Mindset ändern. Und dann wird es auch Platz für Pilze und andere biotechnologische Werkstoffe geben.“

Das Potenzial jedenfalls ist enorm. Einen Ausblick auf die mögliche Bandbreite liefert ihr Buch Bioprotopia. Designing the Built Environment with Living Organisms, das letztes Jahr bei Birkhäuser erschienen ist. „Ein bisschen Zeit wird die Entwicklung von Myzelien als Baustoff schon brauchen“, so Morrow. „Mit Holz bauen wir Menschen schon seit 200.000 Jahren. Thonet-Bugholz-Stühle und 30 Meter lange Leimbinder gab es auch nicht schon vom ersten Tag an. Wir dürfen also gespannt sein, wie die nächsten Generationen ein ökologisches Umdenken einläuten werden.“

31. August 2024 Der Standard

Zwei Tage und eine Nacht im Wunderland

Mitten in der Altstadt von Brixen hat das Luxushotelchen Badhaus seine Pforten geöffnet. Schön ist es, hier zu nächtigen. Noch erquickender jedoch ist die Entstehungsgeschichte dieses Projekts im Schoße einer weitsichtigen Politik und einer freigeistigen Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe.

In der schmalen Via Ponte Aquila, ein Shop neben dem anderen, drängen sich die Touristenmassen, schießen Fotos vom Weißen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt, 72 Meter in die Höhe ragend, und den vielen, vielen Giebelzinnen, die das gesamte historische Altstädtchen zieren. Angeblich, so erzählt man sich, das meistbegangene und meistfotografierte Gässchen in ganz Brixen.

Unter der Hausnummer 5, ganz plötzlich, mehr mit dem Sog und dem Reiz der Subtraktion spielend als mit Druck und additiver Reizüberflutung, klafft ein Spalt in der Fassadenlinie, keine zwei Meter breit an der schmalsten Stelle, dahinter eine roughe, eigenartige, streng durchlinierte Fassade aus Kupfer und gebrannten Ziegeln. Über einer der gusseisernen Stangen, die wie überall in der Stadt die mittelalterlichen, leicht aufeinander zufallenden Außenmauern stützen, hängt ein übergroßer Bademantel, ein Aluminiumguss, ein ziemlich freches Kunst-am-Bau-Projekt des Vinschgauer Künstlers Michael Flieri, mehr ist nicht. Willkommen im Hotel Badhaus.

Radikal und spannend

„Das Badhaus als behutsame Wiederbelebung“, heißt es auf der Website des Hotels. „Das Gebäude nutzt den verfügbaren Raum geschickt, vereint verschiedene Volumina und erhebt sich in einer schlanken, nach oben verjüngenden Form.“ Und tatsächlich: Auf dem rund 400 Quadratmeter großen Grundstück, dem man andernorts wohl nicht einmal Beachtung schenken würde, rundum von Nachbarparzellen umzingelt, keine Aussicht weit und breit, steht heute eines der spannendsten, radikalsten Luxushotels Südtirols. Die Zimmer sind groß und teuer, das Raumerlebnis ein introvertiertes Eintauchen in einen alpinen Kokon aus Marmor, Kupfer und Beton.

„Wir wollten die umliegende Altstadt weiterbauen, ohne sie dabei museal zu kopieren, zwar mit durchaus alten, traditionellen Baustoffen, dafür aber mit einer schlichten, zeitgenössischen Formensprache“, sagt Michaela Wolf, die mit ihrem Partner Gerd Bergmeister das vielfach prämierte Architekturbüro bergmeisterwolf betreibt, keine drei Fußminuten vom Badhaus entfernt. „Mit den Tonziegeln und dem Kupfer, die die Materialität des Weißen Turms aufgreifen, entsteht eine ruhige Fügung. Mit den horizontalen Fensterbändern wiederum – drei horizontale Schlitze pro Etage – wirkt das Haus abstrakter, maßstabsloser, irgendwie auch türmiger und hochhausiger.“

Neuschlichtung

Einst stand hier ein dreigeschoßiges Badhaus, das ganze Grundstück ausfüllend, eine Art Südtiroler Tröpferlbad, errichtet direkt über einem unterirdischen Wasserlauf, einer sogenannten Wiere, die heute noch den Trinkwasserbrunnen im Innenhof speist. Laut Wiedergewinnungsplan konnte der Nutzbau aus dem 19. Jahrhundert abgerissen und die damalige Kubatur – in diesem Fall 2559 Kubikmeter – wiederaufgebaut werden, und zwar in welcher architektonischen Konstellation auch immer, vorausgesetzt die Stadt, das Denkmalamt und die angrenzenden Nachbarn stimmen dieser volumetrischen Verschiebung und Neuschlichtung zu.

Statt flach und niedrig sind die 2559 Kubikmeter Raum nun zu einem sechsstöckigen Hochhäuschen gestapelt, dafür aber auf lediglich halber Grundstücksfläche, die restliche Parzelle ist nun ein öffentlich zugänglicher Innenhof mit Rasen, befestigten Sitzstufen und steinernem Trinkwasserbrunnen. „Der Volumentausch ist eine Besonderheit unserer historischen Innenstadt“, sagt der Brixener Bürgermeister Andreas Jungmann. „Im gesamten Altstadtkern, der sogenannten A-Zone, arbeiten wir nicht mit Traufkanten und Gebäudehöhen, sondern ausschließlich mit Kubaturen. Nur 5,5 Prozent der Südtiroler Landesfläche sind überhaupt bebaubar, der Rest ist Gebirge. Wenn man so stark limitiert ist, dann lernt man, die Angst vor Bauhöhe abzulegen.“

Auch das Landesdenkmalamt war vom Abbruch bis zur ersten Hotelnächtigung Anfang Mai in den gesamten Prozess lückenlos miteingebunden. „Vor allem in schönen, pittoresken Altstädten müssen wir aufpassen, dass wir nicht in die Sackgasse der reinen Musealisierung abbiegen“, sagt Karin Dalla Torre, Landeskonservatorin Südtirol. „Aus denkmalpflegerischer Sicht sprechen wir uns eher für einen Dialog zwischen Alt und Neu aus – aber dieser hat natürlich auf allerhöchstem architektonischen Niveau stattzufinden, ohne Abstriche und Kompromisse.“

Möglich war all dies, weil Architekten, Gemeinde, Denkmalamt, Grundstückseigner und die Hotelbetreibergruppe Viertel Group alle an einem Strang gezogen, offen kommuniziert und die Bevölkerung von Anfang an in den Prozess miteingebunden haben. Und weil Südtirol überhaupt so viel weiter ist als wir, weil es verstanden hat, dass die Ressource Boden nicht unendlich ist. Mit dem neuen Landesgesetz Raum und Landschaft, seit 2020 in Kraft, hat der Bürgermeister nicht mehr das alleinige Sagen. Innerhalb der bereits bestehenden Siedlungsgrenzen ist die Bauentwicklung Sache der Gemeinde, außerhalb dieser Grenzen hat das Land Südtirol das Zepter in der Hand. Das soll – über die Innenstädte hinaus – das Land vor Zersiedelung und weiterer Versiegelung bewahren.

Ach, Österreich, du Land der partikularen Interessen, der freunderlichen Wirtschaft und der vielen Machtmänner auf dem Bürgermeistersessel, was hast du noch viel zu lernen! Nach Brixen ist es ein breiter Weg.

17. August 2024 Der Standard

Im Rausch der Farben

Das ehemalige Adambräu in Innsbruck ist nicht wiederzuerkennen. Die Installation des spanischen Büros Selgascano bricht ein Architekturtabu und ist vor allem eines: bunt.

Kaum hat man die Lichtschranke passiert, fängt es im Raum an zu rattern und zu surren. In einem unfassbaren Schneckentempo von einem Meter pro Minute beginnen sich die zylindrischen, konzentrisch ineinandergesteckten Körper allmählich auf und ab zu bewegen. Hier eine stahlharte Spiegelmembran von Thyssen, dort weißer, luftiger Gazestoff, der wie Urlaub von der Decke hängt, hinten im Raum wiederum handelsübliche Plastikperlenketten, billigste Meterware aus dem Supermarkt, die in meist spanischen oder italienischen Hauseingängen zu finden sind, um zwar Frischluft ins Haus zu lassen, nicht aber Fliegen, Wespen und Moskitos.

„Wir haben ein großes Faible für leichte, billige Materialien“, sagt José Selgas, „nicht nur, weil sie flexibel und einfach zu bewegen sind, sondern auch, weil sie in der Produktion, im Transport und in der Montage meist einen viel geringeren CO₂-Fußabdruck hinterlassen als schwere, massive Baustoffe.“ Das Surren hat aufgehört, der Flaschenzug hat den Tiefpunkt erreicht, fünf Sekunden Pause. „Doch das Beste an diesen luftigen, transluzenten Kunststoffen“, es surrt wieder, der Motor ist in Gang, die Konstruktion hebt sich in Zeitlupe, „ist, dass es sie in den schönsten und kräftigsten Farben gibt, dass sie im Sonnenlicht tanzen und mit den Menschen darin eine unbeschwerte Poesie entfalten.“

Publikumslieblinge

Gemeinsam mit seiner Partnerin Lucía Cano betreibt er seit 1996 das Architekturbüro Selgascano mit Sitz in Madrid. Zu den ersten Projekten zählen ein Silikonhaus, ein Brillengeschäft, ein Jugend- und Sportzentrum, und meist sind die Bauten bunt und auf reizvolle Weise von oben bis unten plastifiziert, sprechen in ihren leuchtenden Farben für sich, während sich die beiden hinter der Architektur verstecken und nur ungern in den Medien auftreten.

Das ändert sich schlagartig 2015 mit dem Auftrag für den Serpentine Pavilion in den Kensington Gardens in London. Der temporäre Pavillon aus gespannten ETFE-Folien mit seinen grellen, changierenden, ja fast schon metallischen Farbnuancen entpuppt sich als Liebling von Publikum und Presse, mit Hashtag-Qualität und entsprechendem Niederschlag in den sozialen Netzwerken. Auf einmal landen José Selgas und Lucía Cano in der weltweiten Öffentlichkeit, in kürzester Zeit kommen Projektanfragen aus Portugal, Frankreich, Großbritannien, Kenia und den USA.

Und nun ein Projekt in Innsbruck, eine Ausstellung im ehemaligen Adambräu, in dem sich heute das aut architektur und tirol befindet. „Ich habe Selgascano vor einigen Jahren persönlich kennengelernt und sie gebeten, für das aut eine Ausstellung zu konzipieren“, sagt aut-Leiter Arno Ritter. „Und zwar keine klassische Nabelschau mit Fotos, Plänen und Modellen, sondern eine installative, eigens für uns angefertigte Arbeit vor Ort. Ich wollte ein Original haben.“

Es ist früher Nachmittag, die Sonne fällt in den Raum, die Lichtstrahlen kämpfen sich durch die Plastikperlenvorhänge. Im Auf und Ab der weißen Gaze, der gelben, roten, blauen Schnüre, der orangen Filzbahnen, der spiegelnden Oberflächen und der zum Teil farbig gestrichenen Wände, die an die Bierproduktion und an die historischen, handkolorierten Adambräu-Pläne angelehnt sind, die im aut ausgestellt sind, gibt es kaum einen stabilen Nullzustand, alle paar Minuten verändert sich die Lichtstimmung von Strahlendweiß über Punschkrapferl bis irgendwo tief unten am Grund des Meeres. Die Besucherinnen vor Ort zücken ihre Smartphones und fangen die Stimmungsbilder im Dutzend ein.

„Architekturausstellungen können so langweilig sein, einfach nur eine Dokumentation aus Kopien und Faksimiles, mit viel Text und wenig Sinnlichkeit, das interessiert uns nicht“, sagt José Selgas. „Wir wollten ein Projekt für genau diesen Raum machen, für genau diese kreisrunden Löcher im Boden, in denen sich früher die Sudkessel befanden, eine Installation, die im Begehen unseren Anspruch an Architektur sichtbar und auch spürbar macht.“ Kurze Pause, dann fängt das Surren der Motoren wieder an.

Fades Purismusdiktat

„Farbe hat so eine unglaubliche Power, schon seit der Antike haben wir gut und gerne damit gearbeitet“, mein Selgas. „Mit der Moderne jedoch ist das alles verlorengegangen, nun untersteht alles dem Diktat des Purismus. Das ist fad.“ Alles andere als langweilig sind die Bibliothek in London, die Second Home Offices in Hollywood, Los Angeles, und das orange leuchtende Placencia-Kongresszentrum in Cáceres, 2017 fertiggestellt.

Darf Architektur schön sein? „Das ist keine Frage des Dürfens. Das ist eine Frage der Verantwortung von uns Planerinnen und Planern. Und vielleicht ist diese Ausstellung so etwas wie ein Schönheitslabor.“

27. Juli 2024 mit Maik Novotny
Der Standard

Anatomie des Schnackselns

Am 28. Juli ist Internationaler Sex-Tag. Wir haben sechs Leute aus unterschiedlichen Berufen und Lebensbereichen gefragt: Was macht einen sinnlichen, erotischen, sexuellen Raum aus?

Stephan Ferenczy
Architekt, BEHF

Wo und wie Sex innerhalb der Architektur Platz findet, entzieht sich unserer Kontrolle. Dass er innerhalb von geplanten und gebauten Räumen geschieht, ist allen Betroffenen bewusst. Und Sex findet überall statt, sofern unsere Scham und unsere Gesetze es zulassen. Küchentische, Besenkammern und Flugzeugtoiletten wissen das. Was präzisiert der Neufert oder die kleine ergonomische Datensammlung des TÜV dazu? Leider nichts. Wenn Sex Gegenstand einer Bauaufgabe ist, was äußerst selten ausgedrückt wird, sollte er mit einem gewissen Ernst thematisiert werden. BEHF hat die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn in Hamburg und den Fetisch-Shop Tiberius in Wien realisiert – appetitliche, erfolgreich funktionierende Sex-Retailer. Die Frage ist: Haben wir Architektinnen und Architekten unsere Projekte anders betreut und gelöst, weil wir (ständig) an Sex gedacht haben? Sicher jedenfalls ist, dass die neuen ÖBB-Schlafwagen von Robotern entworfen wurden.

Sabine Pollak
Architektin, Autorin, Professorin an der Kunstuniversität Linz

Der Wohnbau ist die am stärksten reglementierte Architekturtypologie nach dem Gefängnis. Körperliches Begehren kommt dabei nicht vor, denn die Moderne hat alles wegrationalisiert. Le Corbusier schrieb das Emotionale den Frauen zu, das Rationale den Männern. Alle Körperlichkeit wurde dadurch aus dem modernen Wohnbau ausgegrenzt. Das Bett im Corbusier-Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung ist das wohl unsexyste Bett der Architekturgeschichte: hart, spröde und schmal. Auch der heutige Wohnbau ist komplett durchreguliert. Es gibt nichts Schlimmeres als das Normschlafzimmer: Doppelbett, Schrankwand, zwei Nachtkastln. Hinzu kommt noch die Selbstüberwachung mit Smart Watches, die unsere Körperfunktionen bewerten. Mit Freiheit hat das nichts zu tun, sondern mit Ängsten und Maßregelungen, die uns in unseren Wohnungen gefangen halten. Ich hoffe, dass sich die jüngeren Generationen davon befreien und eine andere Haltung zum Thema entwickeln.

Lukas de Berlin
Veranstalter von queeren und transfreundlichen Sexpartys in Berlin, BEHF

Was braucht es, damit ein Sex-Space funktioniert? Es braucht schlicht die Erlaubnis zu begehren. Außerdem braucht es Komfort, Hygiene, die richtige Temperatur, das richtige Licht (oder auch gar kein Licht) und die Möglichkeit, sich an einem Getränk anzuhalten. Auch ich als queerer, transmaskuliner Veranstalter bin jedes Mal neu aufgeregt, frage mich, was ich gerne ausprobieren würde, und dann füllen wir den großen Darkroom und die verwinkelten, mit Vorhängen verhüllten Separees mit lautem Stöhnen und machen unsere Laken feucht und dreckig. Vor allem die Trans-Community, für die es – im Gegensatz zu schwulem Sex und phallozentrischen, patriarchal dominierten Narrativen – meist keine öffentlichen Sexräume in der Stadt gibt, ist herausgefordert, ihre ganz eigenen sexuellen Wege zu suchen und zu finden. Das steht auch nicht in der Bravo. Mein Ziel? Spielen, experimentieren und Dummheiten machen. Denn: Es menschelt beim Schnackseln!

Tanja Wehsely
Geschäftsführerin Volkshilfe Wien

Sexualität und Intimität gehören zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Auch die WHO erkennt das Recht auf sexuelle Gesundheit an. Dabei geht es um mehr als bloß um den „Akt“, es geht um Nähe und Zusammensein. Als armutsgefährdete, wohnungslose oder pflegebedürftige Frau jedoch wird einem dieses Recht oft nicht zugestanden. Auch alleinerziehende Frauen werden von vielen nur als Mutter gesehen, obwohl auch sie Bedürfnisse haben. Da heißt es: Man soll doch dankbar für das Dach über den Kopf sein, mehr hat man nicht zu wollen. Unsere Gesellschaft ist zwar übersexualisiert, aber wenn es um alte, pflegebedürftige, marginalisierte Gruppen geht, schaut man lieber weg. Wir als Volkshilfe Wien wollen Menschen nicht nur versorgen, sondern empowern. Im Frauenwohnprojekt Hafen*, im Notquartier Nordlicht und in den Häusern für ehemals Wohnungslose sind individuelle Rückzugsräume ganz elementar, und unsere Beratungsstelle „Sophie“ bietet Fortbildung bei Sexualbegleitung an.

Bart Lootsma
Architekturtheoretiker

Begehren ist eines der schönsten Gefühle, aber es verunsichert uns auch, weil wir uns anfangs nie sicher sind, ob die andere Person das Gleiche empfindet. Die Architektur bildet dafür den Hintergrund, den Rahmen fürs Sehen und Gesehenwerden. Einige der interessantesten Studien über Räume des Begehrens stammen aus der Forschung zu Queer Spaces. Jan Kapsenberg schrieb in Erotische Manöver über den Spartacus Gay Guide, der mit Piktogrammen zeigt, wo Schwule ihre Interessen ausleben können. Meistens sind diese Orte architektonisch unauffällig versteckt im ausgedehnten urbanen Gewebe. Kapsenberg entwickelte aus den Piktogrammen eine Entwurfsmethode, die aus einem neutralen Raum einen Raum für Schwule macht. Blicklinien für den Augenkontakt, kleine Tische, damit die Knie sich berühren können, Duschen mit Bänken, von denen man den anderen zuschauen kann, im hinteren Teil dunklere Rückzugsräume und ganz hinten die finsteren Darkrooms. Eine Gay-Software.

Elke Silvia Krystufek
Künstlerin

Man kann Räume mit Farbe berühren. Sexualität behandelt immer auch Grenzen und deren Überschreiten. Auf der Biennale 2009 in Venedig bin ich mit der Farbe über die Tafelbilder bewusst hinausgefahren, direkt auf die Pavillonwände. Außen am Pavillon habe ich die Länderbezeichnung „Austria“ durch das Wort „Tabu“ in blauer Schrift ersetzt. Im Kunstraum Innsbruck habe ich 2004 als Eröffnungsperformance eine Penisform aus einem eigens angefertigten Pantonsessel herausgesägt, und für das Mak habe ich 2006 einen Penis-Stahlrohrtisch entworfen. In meinen sexuellen Kunstinstallationen mag ich unaufgeräumte Räume, oft mit Schaufensterpuppen, Gebrauchsspuren, tropfenden Farben, flüssigkeitsdurchtränkten Stoffen und ausdrucksstarken Mündern und Augen. Nachts träume ich vom Stadtraum, nackt bei der Donauinsel schwimmend, ohne Kontaktlinsen, auf die glitzernde Skyline von Wien blickend, während die Lichter durch die Unschärfe wie Blumen aussehen.

20. Juli 2024 Der Standard

Zu Besuch bei Biene Maja

Was die Honiginsekten können, das sollte auch dem Menschen nicht vorenthalten sein. Mit dem sogenannten Wabenhaus will der Münchner Architekt Peter Haimerl der klassischen Wohnbauwirtschaft den Kampf ansagen.

Davor, sagt sie, hat sie ganz, ganz traditionell gewohnt, mit Mann und Tochter in einem Reihenhaus, so wie man sich das halt vorstellt. Und vor gar nicht so langer Zeit hat sie sich einen jahrelangen Traum erfüllt und sich jene wunderschöne Couch gekauft, die schon lange auf der Wunschliste stand. „Und jetzt? Ich habe sogar schon überlegt, die hinteren Haxen abzusägen und die Couch zu adaptieren. Aber es bringt nix, eine klassische Couch hat in dieser Wohnung einfach keinen Platz. Ich musste mich davon leider trennen. Und von vielen anderen Möbeln auch.“

Reinhild Zenker, Sozialpädagogin im Evangelischen Beratungszentrum, wohnt richtig schräg. Ihre 36-Quadratmeter-Miniwohnung auf zwei Ebenen, muss man nämlich wissen, hat keine einzige gerade, senkrechte Wand. Stattdessen gibt es riesige sechseckige Fenster in der Fassade, riesige sechseckige Schrankverbauten auf der Wand vis-à-vis sowie schräg geböschte Raumabschlüsse, die vom Boden mit 36 Grad emporsteigen und von der Decke mit ebenfalls 36 Grad nach unten abknicken. Trotz ihrer geringen Größe hat die Wohnung sieben Stufen zwischen Wohn- und Schlafbereich und eine atemberaubende Raumflucht von über zwölf Metern.

Das sogenannte „Wabenhaus“ ist eine Schnapsidee des Münchner Architekten Peter Haimerl. Mit dem radikalen Experiment, mit dem er dem klassischen Wohnriegel mit standardisierten Schuhschachtelzimmern und somit auch der gesamten Wohnbauwirtschaft den Kampf ansagen will, geht er schon seit vielen Jahren schwanger. Nun ist es ihm gelungen, in Zusammenarbeit mit der Wohnbaugenossenschaft Wogeno, die in der Szene für ihre innovativen Projekte bekannt ist, in Riem, einem Stadterweiterungsgebiet im Osten Münchens, seine Vision in die dreidimensionale Realität umzusetzen.

„Die wichtigste Aufgabe an uns Architekten ist es, standardisierte Gepflogenheiten zu hinterfragen und im Rahmen unser Möglichkeiten spannende, interessante Alternativen zu entwickeln“, sagt Peter Haimerl, der in der deutschen Architekturszene von den einen geliebt, von den anderen als Enfant terrible gefürchtet und gemieden wird. „Die Wohnbaugenossenschaft Wogeno wünschte sich ein Raumkonzept, das für Kleinst- und Clusterwohnungen geeignet ist“, erzählt er, „und wer wäre zur Entwicklung einer solchen Lösung besser geeignet als jene kleinen Insekten, die seit Jahrmillionen in genau solchen Clusterstrukturen leben?“

Lernen von den Bienen

Und so kam es dann auch. Statt langweiliger Regelgeschoße und senkrechter Wohnungstrennwände gibt es Split-Levels und geböschte Wabenwände, die im Zickzack ineinandergreifen. Der Vorteil darin, so Haimerl, sei das visuelle Aufweiten der Wohnungen, denn durch die wabenförmige Struktur vergrößert sich das Achsmaß eines einzigen Zimmers von vier Metern auf 6,60 Meter Breite, mit ebenso breiter Glasfassade und Loggia davor. Damit hat die Wohnung genau in jener Höhe die größten Ausmaße, wo auch das Auge herumwandert und wo sich Schulterpartie und ausgestreckte Arme und Hände nach einem weiten Horizont sehnen.

Doch nicht nur die Optik profitiere davon, meint der Architekt, sondern auch die Funktionalität. Denn: „In einem Schuhschachtelzimmer habe ich Möbel mit Beinen, unter denen viel wertvoller Raum verloren geht, ob das nun Tische, Stühle, Sofas, Regale oder irgendwelche Kredenzen sind. Im Wabenhaus kann ich diese Verluste auf null reduzieren. Ich komme mit genau dem aus, was ich in einer funktionsrelevanten Höhe auch wirklich benötige.“

Gemeinsam mit einem Möbelbauer hat Haimerl sogenannte „Halbmöbel“ entwickelt, also Möbelelemente wie etwa Regale, Tische und sogar Sofas, die in der jeweils relevanten Höhe aus der geneigten Betonwand ragen oder die entlang der Böschung hinaufgeschlichtet werden. Reinhild Zenker hat auf ihrem türkisblauen „Halbsofa“ vor dem Fenster Platz genommen, und ja, die flexible Wulstlandschaft, die in unterschiedlichen Konstellationen arrangiert werden kann, lässt viele Sitz- und Liegemöglichkeiten zu und ist in der Tat sehr bequem.

Ein hexagonales Wagnis

„Und leider auch sehr teuer“, meint Yvonne Außmann, Vorständin der Wohnbaugenossenschaft Wogeno, im Rückblick. „Wir wollten etwas Neues ausprobieren und haben uns dazu entschieden, gemeinsam mit dem Architekten ein Wagnis einzugehen und die Grenzen des klassischen Wohnens ein wenig auszudehnen. Ich denke, das ist uns auch gelungen. Dieses Wohnhaus ist einzigartig, etwas noch nie Dagewesenes in Deutschland, und bietet mehr als einfach nur quadratisch, praktisch, gut.“

Die Baukosten jedoch liegen nach Auskunft der Wogeno um ein gutes Drittel über einem traditionell errichten Wohngebäude, „und auch in der Innenraumgestaltung“, so Außmann, „müssen die Mieter tiefer in die Tasche greifen als anderswo. So ein Wohnen muss man sich erst einmal leisten können.“ Trotz der höheren Baukosten wurden die insgesamt 17 Wohneinheiten im Rahmen des sozialen Wohnbaus errichtet und unterliegen einer Mietpreisobergrenze. Mit 12,50 Euro pro Quadratmeter liegt die monatliche Miete deutlich unter dem Münchner Durchschnitt.

„Ich bin jetzt 62 Jahre alt und wollte in meinem letzten Lebensviertel noch mal was ganz Neues ausprobieren“, sagt Reinhild Zenker. „Mich hat dieses Haus auf Anhieb neugierig gemacht, und abgesehen von meiner schönen Couch, die mir fehlt, bereue ich keinen einzigen Tag in meinem neuen Zuhause.“ Ob das ein Wohnmodell für die Zukunft ist? „Oh nein, das glaube ich nicht. Das ist und bleibt ein absolutes Nischenprodukt für eine kleine Minderheit. Aber die Mehrheit wird nie erfahren, wie groß sich 36 Quadratmeter anfühlen können!“

16. Juli 2024 Der Standard

Der Meister des nur scheinbar Unscheinbaren

Kopf des Tages

Aber nicht, dass Sie mich schon wieder als Kaffeehaus- und Apfelstrudelarchitekten hinstellen! Ich habe in meinem Leben mehr gemacht als nur das!“ Hermann Czech zählt nicht nur zu den bedeutendsten Architekten Österreichs, sondern ist wahrscheinlich auch der letzte noch lebende Gestalter und Theoretiker, der sich intensiv mit dem Begriff der Moderne beschäftigt und der – stets mit einem schelmischen Grinsen zwischen den für ihn typischen, präzise ausgetüftelten Details – die Grundprinzipien klassischen Bauens anwendet.

Oder, um mit den Worten der Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer zu sprechen: „Czech steht mit seinen Arbeiten in mittelbarer Nachfolge von Adolf Loos. In vergleichbarer Weise gelingt ihm die subtile Verbindung von historisch Vorhandenem mit dem, was zeitgemäß gebraucht wird.“

Für genau diesen Brückenschlag wird Czech mit dem Großen Österreichischen Staatspreis 2024 ausgezeichnet. 1936 in Wien geboren, studierte er Architektur an der Technischen Hochschule und später an der Akademie der bildenden Künste. Er war Assistent bei Hans Hollein und Johannes Spalt und realisierte bald seine ersten Lokale, darunter etwa Kleines Café (1970, 1974), Wunder-Bar (1976) und Salzamt (1983). Weitere Projekte sind das Hotel Messe Wien, die Rosa-Jochmann-Schule in Simmering, der Stadtparksteg über den Wienfluss sowie die Winterverglasung auf der Galerie der Wiener Staatsoper.

Auf der Architektur-Biennale in Venedig wollte er 2023 mit dem Architekturkollektiv AKT den österreichischen Pavillon mithilfe einer Maueröffnung für die lokale Bevölkerung zugänglich machen, scheiterte aber an der Engstirnigkeit von Venedigs Bürokratie. Und so mutierte der Pavillon zu einer Chronik stadtpolitischer Verunmöglichung. Das Projekt ist stellvertretend dafür, wie es Czech liebt, sich fernab seines historisch kenntnisreichen Detailwahnsinns in den Geist einer Stadt hineinzudenken.

Czechs Bauten sind still und nur scheinbar unscheinbar. Architektur solle nur dann sprechen, wenn sie gefragt werde, sagte er einmal. Dass der Staatspreis an einen kritischen, nachdenklichen Menschen geht, der in seinem Innenstadtatelier im fünften Stock zwischen tausenden Büchern sitzt und werkt, ist Ausdruck einer neuen Sehnsucht nach Substanz. „Die 30.000 Euro Preisgeld“, so Czech, „kann ich für mein Büro gut brauchen.“

6. Juli 2024 Der Standard

Das Wunder von Tulln

Wo einst ein asphaltierter Parkplatz für 210 Autos war, erstreckt sich nun ein grüner, klimafitter Park mit Bäumen, Blumenbeeten und Fotospots für frisch vermählte Pärchen. Ein Besuch auf dem kürzlich eröffneten Nibelungenplatz.

Der kleine Chihuahua hat es sich auf der Holzpritsche bequem gemacht, liegt eingerollt im Schatten des Tischerls und kläfft plötzlich den sich anpirschenden Journalisten an. „Wir hätten uns nie gedacht, irgendwann einmal hier zu sitzen und eine Picknickpause zu machen“, sagen Andreas und Michelle, er Elektrotechniker, sie Kindergartenpädagogin, zwischen ihnen die Einkäufe eines ganzen Samstagnachmittags. „Wenn man weiß, wie es hier früher mal ausgesehen hat, dann weiß man auch: Dieser Platz war die Hölle! Nun ist hier ein kleines Paradies entstanden, ein neuer Park mit Holzbänken und viel Grün rundherum, und das mitten in Tulln. Einfach großartig.“
Wiese statt Asphaltwüste

Der Nibelungenplatz zwischen Altstadt und Donauufer, der sich wie ein Hufeisen um das ehemalige Minoritenkloster und das nunmehrige Rathaus und Gemeindeamt schmiegt, ist ein Erfolgsbeispiel für grünen Stadtumbau im ländlichen, niederösterreichischen Raum. Wo einst ein Parkplatz für über 200 Autos war, eine Asphaltwüste für hektotonnenweise Blech auf Rädern, erstreckt sich nun eines von Österreichs größten Projekten für klimaadaptiven Umbau. Insgesamt wurden 8000 Quadratmeter Boden entsiegelt, stattdessen gibt es nun Wiesen, Stauden, Blumenbeete sowie 38 neu gepflanzte Schwammstadtbäume, darunter Eschen, Eichen, Ulmen, Hainbuchen und Traubenkirschen.

„Tulln gilt schon seit vielen Jahren als Gartenstadt Österreichs“, sagt der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP), „bloß war davon rund um das politische und kulturelle Herz dieser Stadt bislang nicht viel zu spüren. Also haben wir beschlossen, den Nibelungenplatz zu entsiegeln und statt in Autoparkplätze in Aufenthaltsqualität und nachhaltige Klimaresilienz zu investieren – denn ein guter öffentlicher, klimatisch adaptierter Platz hat immer auch Einfluss auf den sozialen Zusammenhalt einer Stadt und infolgedessen auch auf das persönliche Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger.“

Dem Projekt zuvorgegangen war ein monatelanger Bürgerbeteiligungsprozess, bei dem sich die Tullner mit Wünschen und Projektideen einbringen konnten und schließlich aus drei Platzszenarien zwischen Mensch, Natur und Pkw wählen konnten. Die kollektive Wahl fiel zugunsten eines Hybridmodells mit großflächiger Entsiegelung und Renaturierung sowie mit einem zusammengeschrumpften Parkplatz für 54 Autos, die auf Kurzparkzonen-Basis auf wasserdurchlässigen Rasensteinen parken. Bei Flohmärkten und städtischen Veranstaltungen werden die Autos entfernt, und der grün durchwachsene Untergrund wird zum Stadtplatz für Mensch, Bühne und Krimskrams aller Art.
Die Verdrängung der SUVs

Für die Planung verantwortlich zeichnet das Wiener Büro DnD Landschaftsplanung, das sich im Sommer 2022 in einem Wettbewerb mit einem geometrischen Konzept aus Bändern, Blühstreifen und wasserdurchlässigen Flächen durchsetzen konnte. Wo einst VW Golfs und fette SUVs standen, gibt es nun Blumen- und Kräuterflächen, bunt blühende Stauden auf rotem Lavakies sowie Sitz- und Spielmöglichkeiten für die gesamte Bandbreite zwischen Generation Alpha und hochbetagten Senioren. Krönender Abschluss ist ein romantisch inszenierter Fotospot für Trauungen.

„Ohne jeden Zweifel ist dies ein großes, umfangreiches Paradebeispiel für Klimaresilienz und Klimawandelanpassung“, sagt Sabine Dessovic, Partnerin bei DnD, „aber natürlich müssen die technischen und ökologischen Maßnahmen, die man trifft, immer auch im Einklang mit den Menschen stehen. Daher habe ich für jeden einzelnen Quadratmeter, den ich plane, immer eine Art Vision oder Traumszenario, in dem ich mir überlege, wie sich die Menschen hier am liebsten aufhalten würden. Am Ende wird diese soziale Hypothese in eine Form gegossen.“ Zum Beispiel mit Sitzstufen, Arbeitstischen mit USB-Anschluss und einem Wasserspiel im Boden mit 30 Wasser- und Nebeldüsen.

Die politische, soziale und technische Anstrengung im Bereich grüner und blauer Infrastruktur in dieser Größe und Konzentration ist in Österreich einzigartig. Immer noch werden in Niederösterreich einer Studie von WWF und Umweltbundesamt zufolge jeden Tag 2,3 Hektar Boden versiegelt – also die dreifache Menge dessen, was auf dem Nibelungenplatz in jahrelanger, penibler Vorarbeit entsiegelt werden konnte. In Gesamtösterreich sind es immer noch zwölf Hektar pro Tag. Was Klimaresilienz, Biodiversität und Nahrungssouveränität betrifft, kann man die Bilanz mit einem einzigen Wort nur kommentieren: Katastrophe.

„Was? Österreich ist auf Platz eins? Ihr seid wirklich Europameister in Sachen Bodenversiegelung?“, meint Joe Reid, Gärtnerin und Landschaftsarchitektin aus Schottland, die auf Kurzurlaub in Österreich ist und mit ihren Freundinnen gerade auf einer der vielen Bänke Platz genommen hat. „Das ist aber ein trauriger Rekord. Dann ist diese lovely Greenery hier ja ein richtiges Anti-Asphalt-Wunder!“

Österreich hat sich vorgenommen, den bundesweiten Bodenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren. Tulln ist diesem Ziel – mithilfe aller Parteien im Gemeinderat außer der FPÖ – um 0,8 Hektar näher gekommen.

22. Juni 2024 Der Standard

„Ich will mit der Kraft der Natur arbeiten“

Am Montag wurde der japanische Architekt Junya Ishigami mit dem Kiesler-Preis für Kunst und Architektur ausgezeichnet. Ein Gespräch über Zeit, unendliche Räume und sein neues unterirdisches Restaurant in Ube.

Standard: Haben Sie in der Maison Owl schon einmal zu Abend gegessen?

Ishigami: Schon oft!

Standard:An welches Gericht erinnern Sie sich besonders gut?

Ishigami: Das Restaurant ist ein Crossover aus französischer und japanischer Küche. Mein Lieblingsgericht dort ist Fugu, Kugelfisch.

Standard:Die Architektur eines Restaurants ist immer auch Abbild der Architektur auf dem Teller. Inwiefern korrespondiert der Raum mit den darin servierten Speisen?

Ishigami: Gar nicht. Das war auch nicht die Absicht. Als der Bauherr auf mich zugekommen ist, meinte er, dass ihm drei Dinge wichtig seien, und zwar in genau dieser Hierarchie: erstens das Miteinander am Tisch, zweitens die Atmosphäre des Raumes und erst drittens die Qualität der servierten Speisen. Also habe ich mich auf die Punkte eins und zwei konzentriert, während er den Punkt drei konzipiert und bis zur Perfektion weiterentwickelt hat.

Standard:Sie haben ein unterirdisches Restaurant geschaffen, eine Art Erdraumhöhle. Wie kam es dazu?

Ishigami: Ich habe mit dem Bauherrn vor 20 Jahren schon einmal zusammengearbeitet. Damals habe ich ein Restaurant mit kalten, eckigen, hauchdünnen Stahltischen aus 4,5 Millimeter dickem Stahl entwickelt, denn er hat sich einen coolen, einen richtig kühlen Raum gewünscht. Diesmal war es umgekehrt. Er meinte, er wolle einen Raum, der eine warme, ruhige, gemütliche, ja sogar irgendwie alte Atmosphäre versprüht.

Standard:Wie baut man als Architekt etwas Altes?

Ishigami: Das ist das Problem! Ich wollte nicht mit Zitaten, Elementen und historischen Versatzstücken arbeiten, also habe ich mir überlegt, wie ich die Qualität des Alten anderweitig ins Projekt integrieren kann. Das Älteste, das wir haben, ist die Mutter Erde. Genau damit habe ich gearbeitet.

Standard:Inwiefern?

Ishigami: Ich habe die Schnittstelle zwischen neuer, technischer, künstlich geschaffener Architektur und alter, organischer, über die Jahrhunderte gewachsener Erde zelebriert.

Standard:Wie genau lautet das Rezept für dieses Restaurant? Können Sie den Bauprozess beschreiben?

Ishigami: Es handelt sich hier um ein Hanggrundstück, das wir zunächst einmal ein terrassiert und eingeebnet haben. Danach haben wir in die Erde 38 Löcher beziehungsweise Krater hineingegraben, haben in die Löcher Eisenbewehrungskörbe hineingestellt und haben die Negativform anschließend mit Beton ausgegossen. Nachdem der Beton ausgehärtet war, haben wir die rote Erde erst mit Maschinen und am Ende in Handarbeit hinausgeschaufelt. Das war wie eine archäologische Freilegung. Nachdem die Betonstümpfe freigelegt waren, haben wir die Silhouette gescannt und mit dieser digitalen Schablone dann die Glasscheiben angefertigt.

Standard:Woher kommt die rote Farbe im Beton?

Ishigami: Von der roten Erde, die sich in den offenen Betonporen festgesetzt hat. Mittels feiner Lehm- und Sandschlämme – wir bezeichnen das im Japan als Tsuchikabe – haben wir die Oberfläche fixiert.

Standard:Das klingt alles sehr aufwendig. Wie lang hat die Baustelle insgesamt gedauert?

Ishigami: Sieben Jahre. Die Qualität war wichtiger als der Wettlauf gegen die Zeit.

Standard:Wie reagieren die Restaurantbesucher auf diese Form der Architektur?

Ishigami: Sie werden ruhig.

Standard:Der österreichische Architekt Friedrich Kiesler hat im Jahr 1950 das sogenannte Endless House entwickelt. Erkennen Sie Parallelen zwischen den beiden Projekten?

Ishigami: Natürlich! Ich weiß nicht, ob die Maison Owl auch ein unendliches Haus ist, so wie das Kiesler in seinen Entwürfen gedacht hat, aber im Sinne des weichen, offenen Raumflusses, im Sinne einer Architektur ohne klassische Elemente wie etwa Wand, Decke und Fenster gibt es durchaus große Analogien. Ich bewundere Kiesler sehr!

Standard: Auch Ihre Projekte sind oft unendlich. Sie planen riesige Flugdächer, Landschaftskunstprojekte im Wald und haben erst kürzlich das ein Kilometer lange Zaishui Art Museum in der chinesischen Provinz Shandong eröffnet.

Ishigami: Das Große und Unendliche ist nie mein innerstes Grundanliegen. Es entwickelt sich aus dem Prozess heraus, denn ich will mit der Landschaft und mit der Kraft der Natur arbeiten und eine neue, künstliche Natur erschaffen. Die Größe ist ein Produkt all dieser Parameter.

Standard:In einem Interview haben Sie einmal gesagt, Sie möchten die Architektur befreien. Auch Ihre Ausstellung in der Fondation Cartier in Paris im Jahr 2018 trug den Titel „Freeing Architecture“. Aus welchen Zwängen möchten Sie sich denn befreien?

Ishigami: Le Corbusier, Mies van der Rohe und viele anderen Architekten der Moderne waren darum bemüht, eine perfekte Standardlösung zu entwickeln und diese dann in riesiger Zahl zu multiplizieren und auf die Menschen auszurollen. Wir wissen, dass dieses Konzept gescheitert ist. Ich will die Architektur aus diesem Irrglauben des standardisierten Denkens befreien. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, die immer heterogener wird. Mein Ziel ist, die Grenzen zu sprengen und auf diese Heterogenität mit einer möglichst großen Zahl an Lösungen zu antworten. Es gibt kein Richtig und kein Falsch, es gibt nur die Fülle an Möglichkeiten für uns alle.

Standard:Bevor Sie 2004 Ihr eigenes Büro Junya Ishigami + Associates eröffneten, hatten Sie einige Jahre für das Tokioter Architekturbüro SANAA gearbeitet. Welchen Einfluss hatte SANAA auf Sie?

Ishigami: Bei SANAA habe ich gelernt, die Grenzen des Status quo zu hinterfragen, die Grenzen im Kopf zu sprengen und zu mit unkonventionellen Ideen zu experimentieren. Genau das muss die Aufgabe von Architektur sein.

Standard:Ihre Website besteht aus einem einzigen Kontaktformular in Weiß und Hellgrau und minikleiner Schrift. Auch ein Experiment?

Ishigami: Nein. Ich habe schlicht und einfach keine Zeit, mich um eine gute Homepage zu kümmern. Wer mich sucht, der findet mich auch.

Standard:Wie würde Ihre perfekte Website aussehen, wenn Sie Zeit hätten?

Ishigami: Wie ein dickes, hochwertig gearbeitetes Buch.

Standard:Gibt es ein Projekt, von dem Sie träumen?

Ishigami: Ich würde gerne ein Haus ganz für mich allein planen. Ich hoffe, dass ich eines Tages Zeit dafür finden werde.

Standard:Der Friedrich-Kiesler-Preis ist mit 55.000 Euro Preisgeld dotiert. Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld machen wollen?

Ishigami: Meine Baustellen dauern manchmal sieben Jahre. Auch für diese Überlegung muss ich mir etwas Zeit nehmen. Ich weiß es noch nicht.

Die Ausstellung „Junya Ishigami“, kuratiert von Anna Fliri, ist noch bis 11. Oktober 2024 zu sehen; Friedrich-Kiesler-Stiftung, Mariahilfer Straße 1b, 1060 Wien.

8. Juni 2024 Der Standard

Eine Kathedrale für die Wuchtel

Vergangenen Donnerstag wurde in Wien der Brick Award 2024 verliehen, eine Art Liebeserklärung an den Ziegel. Der Hauptpreis ging an das Internationale Rugby-Museum in Limerick. Sportliche Leistung.

Sieben Stockwerke, 34 Meter Höhe bis zur Dachkante, fast eine halbe Million in Handarbeit hergestellter Ziegel: Die irische Stadt Limerick, gerade einmal 90.000 Einwohner in der Statistik, dafür aber die Stadt mit der höchsten Konzentration an Kirchen im ganzen Land, hat ein neues Wahrzeichen. Im Gegensatz zu den meisten Sehenswürdigkeiten jedoch frönt man hier weder der Religion noch irgendeiner Form bildender oder darstellender Kunst, sondern ausnahmsweise dem Sport, genauer gesagt dem Rugby.

„Rugby wurde vor ziemlich genau 200 Jahren in England erfunden und gilt bis heute als der wohl wichtigste Nationalsport in Großbritannien und Irland“, sagt Architekt Tom McGlynn, Associate Partner bei Níall McLaughlin Architects. „Und Limerick, muss man wissen, ist in Irland so etwas wie die heimliche Hauptstadt dieses historischen Ballsports. Die lokale Rugby-Mannschaft zählt zu den besten Teams, die Europa zu bieten hat. So gesehen passt es einfach perfekt, dass dieses Gebäude genau hier steht und nirgendwo sonst.“

Vorgestern, Donnerstag, wurde die sogenannte International Rugby Experience, eine Art interaktives Sportmuseum und öffentliches Veranstaltungszentrum rund um die elliptische, eierförmige Wuchtel, in Wien mit dem renommierten, mittlerweile weltweit etablierten Brick Award 2024 ausgezeichnet. Der biennal verliehene Preis richtet sich an herausragende Projekte im Umgang mit dem Baustoff Ziegel, die es schaffen, die jahrtausendealte Bautradition auf technisch innovative und architektonisch anregende Weise in die Zukunft weiterzutragen.

Historische Reminiszenzen

„Für uns war vom allerersten Moment an klar, dass wir bei diesem Projekt in Ziegel bauen wollen“, sagt Architekt McGlynn. „Einerseits ist das Material die logische Fortführung der historischen, georgianischen, fast zur Gänze in Backstein errichteten Altstadt, in der wir uns hier befinden, andererseits finden Rugby und der georgianische Baustil, die ja nahezu gleich alt sind, in diesem Haus wunderbar zueinander.“ Die vertikalen Lamellen, die flachen Rundbögen und die Halb-, Viertel- und Achtelrhythmisierung der Fassade sind eine Reminiszenz an die historischen Nachbargebäude.

Kritik gab es während der Planungs- und Bauzeit seitens konservativer Kreise vor allem in Bezug auf die Bauhöhe. Ein so hohes Gebäude, und das mitten im georgianischen Limerick, an der Ecke von O’Connell Street und Cecil Street? Unmöglich! „Doch das ist zu kurz gedacht“, meint McGlynn, „denn während die klassischen Wohnhäuser im 19. Jahrhundert stets zwei- bis dreigeschoßig waren, hatten die georgianischen Architekten und Auftraggeber bei öffentlichen Bauwerken durchaus eine Vorliebe für Türme und hoch hinausragende Symbolwirkungen. In der Seele dieser Stadt verdient ein Rugby-Museum definitiv öffentliche Aufmerksamkeit.“

Auf einer Grundstücksfläche von nur 500 Quadratmetern ist es gelungen, ein breites Potpourri an Funktionen unterzubringen: Shop, Café, Veranstaltungsräume, ein Piano nobile mit anmietbarer Terrasse sowie eine mehrgeschoßige Ausstellung mit interaktiven Multimediastationen, in denen man sich mit anderen Besuchern in den Disziplinen Kicken, Laufen und Scrumming messen kann, erstellt nach einem Konzept der Londoner Agentur Event. Aus dem obersten Stock, der wie eine gläserne Krone auf dem Turm sitzt, hat man Sicht bis zum River Shannon. Architekt Tom McGlynn: „Eine Kathedrale für das Rugby!“

Überaus sakral

Überaus sakral sind auch die technischen Details, die sorgfältig übereinandergesetzten Ziegel aus einer kleinen Manufaktur in Loughborough, England, die spitz nach vorn zulaufenden Lisenen, die das Haus bis zur Attika gliedern und für dramatische Licht-und-Schatten-Spiele sorgen. Die schlanken Querschnitte sind der Bauweise geschuldet: Hinter der zum Teil vorgefertigten Fassade aus knapp 500.000 Sichtziegeln verbirgt sich eine Stahlkonstruktion.

„Wir haben nach einem hochwertigen Ziegel mit vielen unterschiedlichen Rottönen und einer haptischen, lebendigen Oberfläche gesucht“, erklärt der Architekt. „Und wenn man dann durch die Ziegelmanufaktur spaziert und dabei zusieht, wie jeder einzelne Backstein in mehreren Produktionsschritten so wie damals – vor 100, 200, Jahren – händisch hergestellt wird, dann hat man das Gefühl, dass man als Architekt dazu beiträgt, ein altes Traditionshandwerk am Leben zu halten. Daher sind wir sehr glücklich, den diesjährigen Brick Award entgegennehmen zu dürfen.“

Eingereicht wurden heuer 743 Projekte aus 54 Ländern. Zu den weiteren Preisträgern zählen das Electrical Supply Board Headquarter in Dublin (Grafton Architects), das Wohnhaus M 5605 in Buenos Aires (Estudio Arqtipo), das Intermediate House in Asunción (Equipo de Arquitectura) sowie das temporäre Kunstprojekt Types of Spaces in Logroño (Hanghar und Palma).

„Architekten stehen heute vor mehreren großen Herausforderungen“, sagt Heimo Scheuch, CEO des Ziegelproduzenten Wienerberger, „und die Gewinnerprojekte sind stellvertretend für eine moderne, nachhaltige und vor allem innovative Auseinandersetzung mit dem Baustoff Ziegel“ – und für gebaute Schönheit, die man in der heutigen Architektur oft mit der Lupe suchen muss.

[ „Brick 24. Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur“. 390 Abbildungen. 284 Seiten / € 59,70. Park Books ]

18. Mai 2024 Der Standard

Von der Schönheit des Büffelns

Ein Raum, der 200 Studierenden zum Lernen dient, mit Licht, Aussicht, gelben Vorhängen, flexibler Möblierung und Platz für die Hängematte. Da will man noch mal inskribieren! Am Dienstag wurde das „Studihaus“ der TU Braunschweig mit dem European Mies van der Rohe Award ausgezeichnet.

Eine Flasche Wasser, frisches Obst im Plastiksackerl, daneben stilecht, wie könnte es anders sein, eine aufgerissene Packung Studentenfutter. „Einfach großartig hier“, sagt Soumaia Ismail. „Dieses Gebäude ist eine schöne, freundliche, sympathische Alternative zu all den Lernräumen und Studiensälen, die man sonst so kennt. Und man muss nicht einmal flüstern wie drüben in der Bibliothek, man kann sich ganz normal unterhalten. Irgendwie fühlt es sich an wie ein ganz großer, zweigeschoßiger Coworking-Space für Studierende.“

Verlängertes Wohnzimmer

Die 24-Jährige studiert Lehramt Deutsch und Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig. Sie teilt sich den Tisch heute mit Khalil Daboussi, ebenfalls Deutsch und Geschichte, und Lennardt Fölz, seines Zeichens Wirtschaftsinformatiker, der eigentlich ganz woanders studiert, aber gerne die 30-minütige Busfahrt auf sich nimmt, um hier im Kollektiv zu büffeln. „Coworking-Space? Meinst du? Für mich ist das eher wie ein verlängertes Wohnzimmer, fast noch gemütlicher als bei mir zu Hause und außerdem viel, viel inspirierender.“

Genau deshalb wurde das Studierendenhaus auf dem dicht begrünten, bewaldeten Campus der TU Braunschweig, im Uni-Jargon längst als „Studihaus“ und „Glasi“ bekannt, mit dem European Mies van der Rohe Award 2024 ausgezeichnet. Der Preis wird biennal vergeben und richtet sich an herausragende Architekturleistungen innerhalb der EU. Letzten Dienstag wurde er – unter windigem und dramatisch bewölktem Himmel – vor dem Mies-van-der-Rohe-Pavillon in Barcelona verliehen. Eine Statue, eine Urkunde, 60.000 Euro stürmisch obendrauf.

„Was für eine unglaubliche Ehre! Aber auch eine schöne Bestätigung, dass wir uns nach der Corona-Pandemie und trotz all der digitalen Kommunikations-Tools, die uns heute zur Verfügung stehen, immer noch nach ganz realen Räumen der Begegnungen sehnen“, sagt der Berliner Architekt Gustav Düsing, der das Projekt gemeinsam mit seinem ehemaligen Studienkollegen Max Hacke realisiert hat. „Für mich ist das Studihaus ein von allen Hierarchien befreiter Raum, der 200 bis 250 Studierenden die Möglichkeit gibt, einander zu begegnen und – je nach Lust und Laune – miteinander oder nebeneinander zu lesen und zu lernen.“

Die Studierenden haben die Einladung mehr als wörtlich genommen. Denn was ursprünglich als Zeichensaal ausschließlich für angehende Architekten und Bauingenieurinnen gedacht war, wurde in kürzester Zeit von allen Studienrichtungen der TU gleichermaßen in Beschlag genommen. „An manchen Tagen ist es hier ganz schön voll“, sagt Soumaia Ismail. „Und manchmal passiert es sogar, dass sich Studierende draußen anstellen und warten, bis endlich wieder mal ein Stuhl frei wird.“ Wer nicht die nötige Geduld mitbringt, der nimmt halt stattdessen die Hängematte mit und spannt sie sich von einer Stütze zur nächsten. Auch das ist schon vorgekommen.

Hinter der poetischen, scheinbar ordnungslosen Lebendigkeit des Gebäudes (Baukosten drei Millionen Euro) verbirgt sich ein simples, aber bestechend logisches Konstruktionsprinzip: ein Raster aus drei mal drei Meter großen Feldern, insgesamt 30 mal 30 Meter im Quadrat, dazwischen ein Stützen- und Trägerwald aus zehn mal zehn Zentimeter großen Stahlprofilen, die reinste Stangenware aus dem Stahlkatalog, insgesamt 121 Stützen und 155 dazwischen eingehängte Träger mit standardisierten Knoten, alles miteinander verschraubt, jederzeit wieder demontierbar, oben 49 darauf befestigte Deckenplatten, rundherum 81 Stück Geländer, neun Treppenläufe, mal innen, mal außen platziert, sämtliche Lichtleisten und Steckdosen eingeschnitten und bündig integriert, je nach Nutzung vier bis acht Stück pro Stütze, rundherum 64 Fassadenverglasungen und über allem drüber 900 Quadratmeter Trapezblechdach.

„Als Architektur-Connaisseur kommt einem das Gebäude von Anfang an vertraut vor, als hätte man es schon hunderte Male gesehen“, sagt Gustav Düsing, der sich seit seinem Studium an der Architectural Association (AA) in London intensiv mit den Utopien von Cedric Price und Yona Friedman beschäftigt und dessen Architektur nicht von ungefähr an Jean Prouvé, Richard Rogers und Ludwig Mies van der Rohe erinnert, doch im Gegensatz zu den historischen Inspirationsquellen in reinstes Weiß getaucht und bis zur Farblosigkeit entsättigt scheint. „Doch dann merkt man: Obwohl diese Art von Gebäude in der Architekturtheorie schon so oft erdacht und bis zur letzten Schraube entwickelt wurde, hat es noch nie eines davon in die Realität geschafft.“ Bis jetzt.

Dank des dick eingedämmten Dachs, der automatisierten Durchlüftung und des rundum laufenden Vordachs, das die hoch im Himmel stehende Sommersonne abblockt, wirkt das Haus angenehm temperiert. Und sogar die Akustik – sonst ein Riesenproblem in Stahl-Glas-Bauten – hat man mit Teppich, perforierten Deckenpaneelen und dottergelbem Vorhang, 50 Laufmeter in Summe, zum Teil über zwei Geschoße nach unten fallend, wunderbar in den Griff gekriegt.

„Das Beste am neuen Glasi ist, dass man hier Leuten begegnet, mit denen man bislang keinerlei Berührungspunkte hatte, meistens aus ganz anderen Fächern kommend“, sagt Layla Camara, Psychologiestudentin, „und dann sitzt man mit ihnen plötzlich an einem Tisch und lernt.“ Ihr Lieblingsplatz? „An einem warmen Frühlingstag draußen auf dem Balkon. Es gibt nichts Schöneres. Absolut preisverdächtig!“

11. Mai 2024 Der Standard

Irrwege aus Asphalt

Der Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß widmet sich in einem filmischen Mammutwerk der immer noch ungebrochenen Dominanz des Automobils und ihren Auswirkungen auf Stadt und Land. Dabei ginge es besser, sagt er – man muss nur wollen.

Weitwinkel: Autobahn. Nahaufnahme: Gaspedal. Dazu eine Stimme in gemütlich-lakonischem Bairisch: „Wer einige Wochen im deutschen Verkehrsgewühl überlebt hat, der weiß es: Das Gesetz der deutschen Straße ist hart, aber gerecht. Jeder, der ein Fahrzeug steuert, hat Vorfahrtsrecht. Je größer das Auto, desto größer das Vorfahrtsrecht.“ Die Filmreportage des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel Verhaltensweisen deutscher Autofahrer wurde im April 1964 gesendet, könnte aber auch von heute sein.

Zahllose Dokumentar- und Spielfilme über den Menschen und sein Verhältnis zum Auto sind in diesen 60 Jahren erschienen, von Jacques Tatis Trafic (1971) über David Cronenbergs Crash (1996) bis zu Daniel Abmas Autobahn (2019). Der Tenor ist ähnlich: Das Automobil dominiert unsere Köpfe, unsere Körper, unsere Städte und unser Land. Aber stimmt das noch? Gibt es nicht längst Begegnungszonen, Pop-up-Radwege, Lastenrad-Initiativen, kurz: die Verkehrswende?

Hört man manchen Stimmen der bundesdeutschen Politik zu, scheint sich seit 1964 nicht viel getan zu haben. In Berlin verkündete die neue Stadtkoalition nach der Senatswahl 2023, sie wolle „keinen Parkplatz opfern“, die zur „Spaß-haben-Geld-verdienen-danach-alles-egal“-Partei mutierte FDP erfindet immer absurdere Argumente gegen ein Tempolimit, und eine endlose Abfolge von anderstalentierten Verkehrsministern, die im blauen Dunst der Autoindustrie ihr Biotop fand, trieb die Deutsche Bahn in die dysfunktionale Anarchie und machte sie zum Gespött Europas. Und Österreich? Wir haben zwar keine dominante Autoindustrie, sind aber anscheinend, wie Bundeskanzler Karl Nehammer letztes Jahr verkündete, ein „Autoland“.

Es liegt also vieles im Argen. Dieser Überzeugung ist auch der Filmemacher Reinhard Seiß. Der studierte Raumplaner ist so etwas wie der Wutbürger der österreichischen Baukultur, seit er 2007 mit seinem Buch Wer baut Wien? den Finger in viele noch heute schwärende Wunden legte. Aber er zeigt auch, wie es besser geht, etwa 2013 in seinem Film Häuser für Menschen.

Schadensfall Auto

Beides tut er auch in seinem neuen Film Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege, der am kommenden Montag im Wiener Gartenbaukino seine Premiere feiert. Mehr als vier Jahre lang hat er daran gearbeitet, biblische 373 Minuten lang ist das Ergebnis, aber keine Angst, sagt Seiß, niemand müsse sich das ganz anschauen. Stattdessen lassen sich die 51 Kapitel nach Bedarf zusammenstellen. Was hat ihn dieses Mal auf die Straße getrieben? „Es gibt wenige Dinge, die so irrational und von so vielen absurden Behauptungen geprägt sind wie unser Verhältnis zum Autoverkehr“, sagt er. Ein Beispiel von vielen: Der immer noch beliebte Sager vom Autofahrer als „Melkkuh der Nation.“

Der Film nimmt uns auf eine Autofahrt durch Österreich, Deutschland und die Schweiz, zeigt, wie nach dem längst widerlegten Motto „One more lane will fix it“ immer noch neue Straßen gebaut werden, auch dort, wo man sie eigentlich gar nicht braucht. Verkehrsforscher wie Hermann Knoflacher, der Grandseigneur der Autokritik, kommen zu Wort, aber oft sprechen die Bilder von zähflüssigem Verkehr auf leinwandbreitem Mehrspurasphalt für sich. Das Auto – ein Schadensfall für die Gesellschaft.

Dabei zielt Seiß darauf, die von ihm diagnostizierten absurden Behauptungen zu widerlegen. Etwa das oft vorgebrachte „Schön und gut, aber auf dem Land brauchst du halt das Auto!“ Das stimmt zwar, aber ist kein Naturgesetz. Dass es auch anders geht, zeigen die Szenen aus der Schweiz. Der Postbus, der mehrmals am Tag im 300-Einwohner-Dorf Waltensburg in Graubünden hält, dank schweizweit koordinierten Takts mit der Bahn so abgestimmt, dass man es in zwei Stunden nach Zürich schafft. Die Bahnen, die von Supermarktketten zum Warentransport genutzt werden, mit Containern, die an kleinen Dorfbahnhöfen verladen werden. Und nein – das macht der Film deutlich – das vermeintliche Argument „Ja gut, das ist halt die Schweiz“ ist keines. „Es sind keine ominösen Mächte, die diese Verhältnisse schaffen, sondern immer Entscheidungen der Politik“, betont Seiß.

Flächenfraß-Turbo

Wenn es heißt, man brauche eben Straßen, weil man sonst nicht schnell genug von A nach B komme, wird gerne unterschlagen, dass die Irrwege aus Asphalt nicht nur lineare Verbindungen sind, sondern auch ein Turbo-Generator für Flächenfraß. Die Lobau-Autobahn würde nicht nur Abgase in die Natur pusten, sondern auch einen neuen Gewerbe-Speckgürtel in Wiens Nordosten erzeugen, und die umstrittene Ostumfahrung Wiener Neustadt ginge Hand in Hand mit 575.000 Quadratmetern neuer Gewerbeflächen auf wertvollen Ackerböden. Und das in einer Stadt, die jetzt schon den höchsten Flächenverbrauch pro Person in Österreich aufweist.

Doch es gibt auch Lichtblicke, auf die Seiß seine Kamera richtet. Lienz in Osttirol, wo man die Verkehrsberuhigung im Stadtkern gegen die Kassandrarufe der Wirtschaft durchsetzte. Ottensheim in Oberösterreich mit seiner Schiffsverbindung nach Linz. Das norddeutsche Bremen mit seiner konsequenten Pro-Fahrrad-Politik. „Es geht schlicht darum, was wir als Lebensqualität definieren“, sagt Seiß. „Die Art der Fortbewegung spielt dafür eine wesentliche Rolle.“

Nicht nur das Thema erinnert an die BR-Dokumentation aus dem Jahr 1964, sondern auch der Tonfall. Denn als Sprecher wählte Seiß den bayerischen Kabarettisten Christian Springer, der die automobilen Welten mit rollendem R und rustikalem Sarkasmus dialektgefärbt kommentiert. Für Seiß eine Reminiszenz an seine Jugend auf dem Land, als der Bayerische Rundfunk ein Fenster zur Welt aufmachte. „Wienerisch wäre zu bösartig, aber Bairisch ist charmant und treffsicher, gemütlich und gfeanzt.“

Das stimmt zwar, doch nach zwei Stunden wird der süffisante Tonfall, in dem die Fehlleistungen „der Politiker, der Architekten und der Neubaugebiete“ kommentiert werden, zu einer etwas einseitigen und eintönigen Dialektik. Mehr Fakten, Daten und andere Stimmen hätten viele der Argumente gegen den Autowahn ergänzen und objektiv untermauern können. Doch die Stoßrichtung stimmt, und wenn es darum geht, die 180-Grad-Verkehrswende hinzubekommen, kann eine gute Dosis Polemik nicht schaden.

27. April 2024 Der Standard

Nicht so gute Plätze

Das kürzlich erschienene Büchlein „Sh*tscapes“ widmet sich Fehlplanungen im urbanen Raum und fasst die 100 schlimmsten Katastrophen zusammen. Hinter dem ersten Lachen verbirgt sich eine ernsthafte Botschaft.

Ob es wohl eine Bedienungsanleitung zum Verwenden dieser Bank gibt? „Ja, das wäre nicht schlecht“, sagen Paul Bourel und Vladimir Guculak, die das eigentümliche Sitzobjekt in Brixton gefunden haben, einem beliebten multikulturellen Stadtteil im Süden von London. „Denn obwohl es rundherum viele Bars und Lokale gibt, obwohl hier viele Jugendliche und Studenten abhängen, ist hier selten jemand anzutreffen. Und das ist schade, denn gut gestaltete Sitzbänke führen dazu, dass urbane Sozialisation entsteht, dass Menschen ins Gespräch kommen und Kontakte knüpfen. Eine schlechte Planung wie diese jedoch hat den gegenteiligen Effekt.“

Die gegenständliche Donut-Bank findet sich als geografisch und urheberisch anonymisiertes Bildbeispiel #28 im soeben erschienenen Büchlein Sh*tscapes. 100 Mistakes in Landscape Architecture, einem Kompendium von hundert Fehlern und „beschissenen Landschaften“ – so der wortgewitzte Buchtitel – im öffentlichen Raum, eine Art Handbuch für Fachleute und Entscheidungsträger. „Es geht nicht darum, irgendjemanden anzuprangern oder sich über Fehlplanungen, minderwertige Ausführungen oder schlechte Pflege und Instandhaltung lustig zu machen“, so die beiden Autoren, die in London das Landschaftsplanungsbüro studio gb leiten und an der Bartlett School of Architecture unterrichten. „Wir wollen bloß anschaulich machen, wie wenig Bewusstsein es in diesem Bereich gibt und wie viel unnötiger Schaden dadurch entsteht.“

So wie zum Beispiel in Elephant & Castle, Bild #22: Mit viel Sorgfalt wurde die Pflasterung optisch fortgesetzt, als eingeklebtes Steinbett in einem metallischen Schachtdeckel. Allerdings ist die Ausführung minderwertig, Stein und Mörtel haben der Belastung der darüberfahrenden Autos nicht standgehalten.

Wie zum Beispiel in Stockwell, Bild #60: Nicht nur die Aussparung mit runder Metallmanschette scheint winzig klein gewählt, auch die beiden Holzpfähle, die in der Regel in der Anwuchsphase als eine Art Krücke an den Baum gebunden werden, wurden noch immer nicht entfernt und beschädigen auf diese Weise die Rinde.

Geschrumpfter Fertigrasen

Oder etwa in Aldgate, Bild #69: Aufgrund mangelnder Bewässerung und großer Hitze sind die frisch verlegten Fertigrasenmatten geschrumpft. Kalkuliert man die benötigten Personalkosten für Pflege und Bewässerung mit ein, würde sich ein automatisches Bewässerungssystem innerhalb weniger Jahre amortisieren. Die Tauben indes scheint das wenig zu tangieren.

„Beispiele für Fehlplanungen und minderwertige Ausführungen wie diese gibt es nicht nur in London“, sagen Bourel (35) und Guculak (36). „Doch in Großbritannien ist die Dichte höher als anderswo.“ Den Grund dafür orten die beiden Landschaftsarchitekten vor allem in den Eigentumsstrukturen, konkret in der kontinuierlichen Privatisierung öffentlicher Räume und Institutionen in der Ära Margaret Thatcher. „Bei vielen Straßen, Plätzen und Parkanlagen in London handelt es sich um private Räume mit öffentlichem Nutzungs- und Aufenthaltsrecht. Daher gibt es auch kein übergeordnetes Interesse an der Pflege und Erhaltung.“

Und das ist ein ziemliches Problem. Einerseits gibt es eine nationale, überaus ambitionierte Quote, die vorschreibt, die städtischen Freiräume bis 2050 mit einer Deckung von 16,5 Prozent zu begrünen und mit Bäumen zu bepflanzen, zudem ist im November letzten Jahres der sogenannte Biodiversity Net Gain (BNG, Biodiversitäts-Nettogewinn) in Kraft getreten, der Bauträger und Immobilienentwickler verpflichtet, in die Artenvielfalt von Fauna und Flora zu investieren. Andererseits hat eine Studie der UK Forestry Commission kürzlich ergeben, dass 30 Prozent aller städtischen Bäume innerhalb der ersten zwölf Monate nach der Pflanzung absterben. Die mittelfristige Mortalität urbaner Bäume beträgt sogar 50 Prozent.

„Das ist eine Katastrophe“, so die beiden Buchautoren. „Letztendlich ist das nicht nur ein volkswirtschaftlicher Schaden, sondern auch eine sinnlose Zerstörung sozialer und mikroklimatischer Potenziale.“ Klimaschutz und ökologische Verantwortung, so das Fazit nach hundert durchgeblätterten Bildbeispielen, sind keine Privatsache. Die urbane Überlebenssicherheit gehört in öffentliche Hände gelegt.

„Sh*tscapes. 100 Mistakes in Landscape Architecture“, erschienen bei Jovis. Die Autoren bitten um Shitscape-Fotobeispiele aus aller Welt, per Mail an info@studiogb.uk.

15. April 2024 Der Standard

Le Corbusiers Seestadt in Indien stößt an ihre Grenzen

Die Doku „Kraft der Utopie“ ist eine Hommage an die am Reißbrett entworfene Metropole Chandigarh

Die Materialien der Stadtplanung“, schrieb Le Corbusier einst, „sind Himmel, Raum, Bäume, Stahl und Zement. In dieser Reihenfolge und [...] Hierarchie.“ Seine Utopie, die er selbst stets als die „Realität von morgen“ bezeichnete, sollte sich schon bald bewahrheiten: Nachdem Britisch-Indien nach dem Ende der Kolonialherrschaft 1947 in die beiden Länder Indien und Pakistan aufgeteilt worden war, befand sich Lahore, einst Hauptstadt des indischen Bundesstaats Punjab, plötzlich auf pakistanischem Boden. Eine neue Hauptstadt musste her: Chandigarh.

Zwischen 1950 und 1953 entstanden, zählt Chandigarh zu den wenigen am Reißbrett geplanten Großstädten des 20. Jahrhunderts. Nach Plänen von Albert Mayer (USA) und dem schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier entstand eine grüne, luftige, lebensgenüssliche Gartenstadt mit einer bestechend logischen Superblockstruktur, einem Wege- und Straßensystem in sieben Geschwindigkeitshierarchien, wobei Fußgänger von Anfang an im stadtplanerischen Mittelpunkt standen, mit penibel durchnummerierten Bäumen, von denen per Edikt kein einziger jemals wieder gefällt werden darf, und sogar einem künstlich ausgehobenen See im Norden der Stadt namens Sukhna. Ein bisschen wie in der Seestadt Aspern, bloß älter und ein paar Klimazonen wärmer.

Der gebauten Utopie widmete das Schweizer Filmduo Karin Bucher und Thomas Karrer nun einen 85-minütigen Dokumentarfilm, der in die Schönheiten und Problemzonen Chandigarhs entführt und dabei Bewohner, Expertinnen und Kulturschaffende zu Wort kommen lässt. „Wir sind beeindruckt von der enormen Gestaltungskraft, die bis heute sichtbar und prägend ist“, sagen die beiden gleich zu Beginn des Films. „Uns interessiert Chandigarh als Labor für ein neues Zusammenleben.“

Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh ist eine Liebeserklärung an die Stadt, an die hohe Wohn- und Lebensqualität in den insgesamt 56 Sektoren, an die wunderschönen, fast bildhauerisch geformten Regierungsbauten im sogenannten Capitol Complex, der seit 2016 Unesco-Weltkulturerbe ist. Oder, wie der in Chandigarh lebende Architekt Siddharta Wig erklärt: „Die Formen dieser Stadt wirken ständig auf die Denkmuster des Menschen ein. In Chandigarh gibt es kein Entkommen vor Le Corbusier. Er ist immer da, er sitzt ständig in deinem Kopf.“

Doch Chandigarh stößt an seine Grenzen. Für 500.000 Menschen konzipiert, hat die Stadt längst die erste Million geknackt. Jede Form von Umbau, Neubau und Nachverdichtung ist gemäß Le Corbusiers Edikt verboten. Das wiederum schürt die Immobilienpreise und macht die einst demokratisch erschaffene Schönheit dieser Stadt zu einem exklusiven Gut für die obere Mittel- und Oberschicht.

Wie lange haben Planungen und Utopien überhaupt noch Berechtigung? „Das Leben hält nie inne“, schrieb Le Corbusier. „Nichts ist übertragbar außer die Gedanken, die Krone unserer Arbeit.“ Doch genau hier, wo der sinnliche, zutiefst poetisch komponierte Film plötzlich Brisanz und gesellschaftspolitische Dringlichkeit entfaltet, ist er leider auch schon wieder zu Ende. Im Kino

2. April 2024 deutsche bauzeitung

Platzumgestaltung Praterstern in Wien

Der Praterstern ist ein Ort mit vielen Menschen und vielen sozialen Friktionen. Nach etlichen glücklosen Umplanungen in den letzten Jahrzehnten wurde der Platz nun ein weiteres Mal erneuert – diesmal allerdings behutsam und nicht nur mit der Kraft von Architektur und Stadtplanung, sondern auch in enger Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien.

Die Straßenbahn 5, eine der längsten Linien Wiens, dreht gerade ihre Endschleife, der Bus 80A fährt in die Haltestelle ein, oben die S-Bahn mit Bahnsteigdurchsage, unten ein Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene, dazwischen liegt, irgendwo auf einer der vielen Bänke, ein obdachloser Mann, Schlafsack, Plastiktüte, Weißwein im Tetrapack.

Ein ganz normaler Moment am Praterstern, könnte man meinen, auf einem der quirligsten öffentlichen Stadträume Wiens, sagen die einen, mitten im ewigen Sorgenkind und Hotspot von Drogen, Alkohol und Kriminalität, sagen die anderen. »Und beides ist irgendwie richtig«, sagt Isabella Lehner-Oberndorfer, Sicherheitsbeauftragte in der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien, »denn der Praterstern ist ein hochfrequentierter Ort, an dem Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen zusammenkommen, und das sorgt naturgemäß für Friktionen.« Pro Tag, so benennt es die Statistik, laufen hier 150 000 bis 200 000 Menschen über den Platz, steigen ein und aus und um, verlieren sich im Dickicht der sozialen Kontraste.

Schön ist der Platz schon lange nicht mehr. Nach den Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg wurde der alte Nordbahnhof gesprengt und durch einen hässlichen Nutzbau in betonierter Hochlage ersetzt. Albert Wimmer stülpte 2007 eine gläserne Bahnhofshalle darüber, Boris Podrecca errichtete drei Jahre später eine Platzüberdachung mit ganz viel Metallgestänge und verdeckte damit die Bahnhofsuhr, und irgendwie wollte der Platz nie so richtig in die Gänge kommen. Statt in die Architekturgazetten schaffte es der Praterstern als Tatort von Vergewaltigungen und Messerstechereien immer bloß in die Boulevardmedien.

»Als 2014 klar wurde, dass die lokale Polizeistation von hier wegzieht und die alte Wachstube mitten am Platz frei wird«, erzählt Eric-Emanuel Tschaikner, CEO von KENH Architekten, »wurden wir eingeladen, für einen Gastronomen das Haus umzubauen, ein gestalterisches Konzept zu entwickeln und den unmittelbaren Freiraum rund um das Gebäude mitzuplanen.« Mit Erfolg. Der Gastronom pachtete das in den 1980er-Jahren errichtete Polizeihäuschen und startete mit den Planungen.

Als kurz darauf die Stadt Wien auf das Vorhaben aufmerksam wurde, praktischerweise knapp vor den Wiener Gemeinderatswahlen 2015, beschloss sie, die Ideen des Privatiers aufzugreifen, einen öffentlichen Wettbewerb für eine abermalige Umplanung des bis dahin erfolglosen, von vielen Menschen gemiedenen Platzes auszuschreiben, auf dem 2018 ein offizielles Waffen- und Alkoholverbot ausgehängt wurde, dem einzigen Ort mit Restriktionen dieser Art in ganz Wien – und die Renaissance des Pratersterns zum SPÖ-Wahlkampfthema hochzuzüchten.

KENH Architekten nahmen am zweistufigen Realisierungsverfahren teil und holten sich aus strategischen Gründen das Wiener Landschaftsplanungsbüro DD mit an Bord, schließlich haben Anna Detzlhofer und Sabine Dessovic mit öffentlichen Auftraggeber:innen und Projekten im öffentlichen Raum schon mehr als reichlich Erfahrung. Mit insgesamt 40 »Interventionen«, die punktuell ansetzen, ohne den bestehenden Platz komplett auf den Kopf zu stellen, belegte die Arbeitsgemeinschaft den 1. Platz. Im Herbst 2021 starteten die Bauarbeiten, im Sommer darauf wurden die letzten Arbeiten fertiggestellt.

»Am allerwichtigsten war uns, ein neues Narrativ auf den Platz zu bringen«, sagt Architekt Tschaikner. »Wir wollten das Stigma als Problemort mit Drogen, Alkohol und Kriminalität loswerden und stattdessen einen Platz für alle schaffen – für Kinder und Jugendliche, für Anrainer:innen aus der Umgebung, für Leute auf dem Weg von A nach B, aber natürlich nach wie vor einen Ort für Menschen aus marginalisierten Gruppen, die hier unter freiemHimmel ein Zuhause gefunden haben.« In enger Zusammenarbeit mit der Sucht- und Drogenkoordinationsstelle der Stadt Wien, die auf dem Platz schon seit vielen Jahren Sozialarbeit leistet und die Ängste und Bedürfnisse der unterschiedlichen Stakeholder gut kennt, wurde ein Sitz- und Aufenthaltskonzept entwickelt.

Dieses umfasst ein Spektrum an unterschiedlich dimensionierten Betonringen, die im Grundriss die Form des Praterstern-Kreisverkehrs aufnehmen. Bei den sogenannten Pratoiden (Copyright KENH) handelt es sich um Betonfertigteile in verschiedenen Radien, mal mit ebener Oberfläche, mal geböscht und gewölbt, mal mit laminierten Sitzauflagen, mal ohne, mal mit Armlehnen und Aufstehhilfen, mal ohne. Um das subjektive Sicherheitsgefühl am Platz zu steigern, wurden die scheinbar über dem Boden schwebenden Betonringe mit einer indirekten Beleuchtung ausgestattet. Ergänzt wird das Sitzkonzept von durchaus poetischen Betoneiern, die ein wenig wie frei platzierte Hinkelsteine mal da, mal dort herumliegen.

»Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen sich eher in die Nähe von anderen wagen und sich dort wohlfühlen, wenn die Blickrichtungen voneinander wegweisen und nicht zueinander gerichtet sind«, erklärt Isabella Lehner-Oberndorfer. Auf den Betonringen sitzen die Menschen an warmen Tagen Rücken an Rücken, das scheint zu funktionieren. Die Platzierung der Sitzelemente folgt der Geografie des Platzes: Entlang der hochfrequentierten Wege gibt es eher Einzelsitze und geböschte Oberflächen fürs schnelle Hinsetzen zwischendurch, an den etwas abgelegenen Pfaden wiederum sind eher größere Sitz- und Liegeflächen zu finden – für die, die zu zweit kuscheln oder einfach nur alleine schlafen wollen. Interessantes Learning für andere Städte: »An den meisten Problemorten mit marginalisierten Gruppen und sozialen Friktionen werden die Sitzgelegenheiten in der Anzahl stark reduziert«, sagt Lehner-Oberndorfer. »Wir haben das Gegenteil gemacht! Wir haben so viele Sitzmöglichkeiten geschaffen, dass Menschen mit Alkoholproblemen und Obdachlosigkeiten das Angebot gar nicht ausfüllen können. Es gibt genug Verweilorte für alle.« Insgesamt wurden 192 offizielle Sitzmöglichkeiten geschaffen. »Und ja, das Konzept ist aufgegangen, es gibt keinerlei Raumkonkurrenz.«

Neben dem Sitzen zeichnet sich der mit »Interventionen« erfrischte, erneuerte Platz durch Licht, Grün und Wasser aus. Das Beleuchtungskonzept wurde vereinheitlicht und durch energieeffiziente LED-Masten ersetzt, die Versiegelungsfläche wurde reduziert, und wo es die Wege und Platzüberquerungen zugelassen haben, wurden begrünte Flächen vorgesehen. Um die genauen Flächen und Konturen zu bestimmen, wurden die Wege und Trampelpfade der Menschen analysiert. Schließlich wurde entlang des Kreisverkehrs Boris Podreccas Metallkranz entfernt, der den Praterstern einst wie eine Dornenkrone einfasste.

»Wir haben den Platz zum Teil großflächig entsiegelt, neue Rasenflächen geschaffen und das bestehende Material wie etwa Betonplatten und Granitpflaster behutsam entfernt und im Sinne der Kreislaufwirtschaft an anderer Stelle wieder eingebaut«, sagt Sabine Dessovic, Partnerin bei DD Landschaftsplanung. Anstelle von Podreccas Einfassung, der für die Umgestaltung des Pratersterns übrigens keinerlei Verständnis hat und die Begrünungsmaßnahmen als »städtebauliche Gaudi«, »grünen Populismus« und »pseudo-ökologisches Krebsgeschwür« bezeichnet, wurde ein 1,4 m hoher Begrünungsring geschaffen, der v. a. als emotionaler, atmosphärischer Sichtschutz dient.

»Wir wollten den Autoverkehr etwas ausblenden, gleichzeitig aber keine neuen visuellen Barrieren schaffen. Daher haben wir die Höhe beschränkt. Zugleich haben wir uns um eine Auswahl mit robusten, klimaresistenten Pflanzen und möglichst langer Blütenabfolge bemüht.« Weitaus komplexer war das Pflanzen der insgesamt 44 neuen Bäume – darunter Platanen, Kastanien, Robinien, Ulmen und Zelkoven. Um das Urban-Heat-Phänomen nicht erst in vielen Jahren, sondern schon jetzt einzudämmen, entschied sich DD, zum Teil erwachsene, bis zu 20 Jahre Bäume einzusetzen.

»Und das war alles andere als einfach«, so Dessovic. »Wir sind den gesamten Platz mit dem ober- und unterirdischen Leitungs- und Installationsplan abgegangen, der aussieht wie ein wilder Spaghetti-Teller, und ich kann mit bestem Gewissen sagen: Es gibt heute keinen einzigen Quadratmeter mehr, an dem man noch einen weiteren Baum pflanzen könnte. Alle Reserven sind ausgeschöpft, mehr geht nicht mehr.« Schon jetzt ist die subjektiv gefühlte Temperatur im Hochsommer, wie Studien ergeben haben, um 10 bis 15 Grad Celcius kühler als die tatsächliche Umgebungstemperatur.

Highlight des neuen Pratersterns jedoch – unscheinbar in der kalten Jahreszeit, ein erfrischendes Paradies im heißen Sommer – ist das 500 m² große Wasserspiel in der innenstadtzugewandten Platzmitte. Aus rund 250 Auslässen in der Bodenplatte sprudeln je nach Wetter in einer auf das jeweilige Klima abgestimmten Choreografie Wasser und feuchter Nebel. Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene aus allen möglichen Kulturen und Lebenswelten laufen an heißen Sommertagen durch die Wolke aus Abkühlung und Lebensfreude.

»Wir machen wirklich viele Projekte im öffentlichen Raum«, sagt Sabine Dessovic, »aber wir haben selten so viel positive Resonanz in Form von E-Mails und Anrufen erhalten, von Medien, aber auch von Menschen, die den Praterstern nun neu kennengelernt haben und uns kontaktieren und sich für die Planung bedanken möchten.« Die Dutzenden, Hunderten, Tausenden Silhouetten, die sich in der allsommerlichen Hitze mit Wasser umgeben, tun ihr Übriges. Ruhe, Kindergeschrei und zwischenmenschliches Chaos an einem Ort in lokaler Überlagerung. Schönheit, lehrt uns dieser Ort, ist in allererster Linie ein sozialer Aspekt. So gesehen ist der Praterstern nun endlich schön geworden.

23. März 2024 Der Standard

Theo, wir fahr’n nach Jesolo!

Theo, wir fahr’n nach Jesolo!

Die jüngste Ausstellung im Architekturzentrum Wien widmet sich der Anatomie des Reisens – nicht nur mit einer profunden Kritik am Status quo, sondern auch mit inspirierenden Beispielen für einen sanften, nachhaltigen Tourismus.

Und üban Woid,
do werma drüberfoahn,
mit Skilift und Chalet-Resort.
Des Umweltamt, des sogt:

„Des geht ned, weil
do is a Schutzgebiet.
Do wohnt ein wahrer Partisan,
und heißen tut er Auerhahn.“

Des Hendl is zwoa ned sehr gscheit,
doch gscheita ois die Seilbahnleit.
Des Schlimmste an dem Viech
is, dass der Vogl a no unbestechlich is.

Der Bürgermeister Blues von Marcus Hinterberger, 2022 erschienen, ertönt in der Station sieben: Natur. Privatisierung der Schönheit . Über der hölzernen Ausstellungswand mit eingebauten Kopfhörern hängt ein lilafarbener Banner von der Saaldecke, ganz so wie auf einer Ferienmesse, auf der man sich mit Sackerln voller Reisekataloge von einem Stand zum nächsten schleppt, nur ist hier alles ein bissl anders. Statt paradiesischen, verheißungsvollen Versprechungen mit almgrünen und himmelblauen Fotos gibt’s Zahlen, Daten, Fakten – und jede Menge Kritik am heute klassischen Massen- und Individualtourismus.

„Der Tourismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert“, sagen die beiden Kuratorinnen Katharina Ritter und Karoline Mayer, während sie mit dem STANDARD durch die fiktive Messehalle im Architekturzentrum Wien marschieren, gestaltet nach einem Konzept von ASAP Pitro Sammer Architekten, „denn immer mehr Menschen reisen immer öfter, immer weiter und in immer kürzeren Aufenthalten. Und das hat nicht nur Auswirkungen auf die Mobilität, sondern auch auf viele andere Aspekte – wie etwa Hotelbetrieb, Energieeinsatz, Bodenpolitik, Landwirtschaft, Immobilienwirtschaft, lokale und regionale Lebensqualität sowie steigende Wohn- und Lebenserhaltungskosten.“

Wir lernen: In der Glücksspielmetropole Macau (Sonderverwaltungszone China, ehemals Portugal) macht der Tourismus knapp 51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die 218 in Europa registrierten Kreuzfahrtschiffe emittieren 4,4-mal mehr Schwefeloxid als alle (!) Autos in ganz Europa. Und: Musterfamilie Gruber, die erst gar kein Auto besitzt und sich vegan ernährt, dafür aber einmal pro Jahr mit den Kids nach Costa Rica fliegt, um dort zwei Wochen lang Meeresschildkröten zu retten, hat einen höheren CO2 -Fußabdruck als Musterfamilie Huber, die mit zwei Autos im Speckgürtel wohnt, sich das ganze Jahr über von Schnitzeln ernährt und einen All-inclusive-Urlaub in Jesolo bucht.

Storytelling-Elemente

Spätestens hier hat man verstanden, warum die Ausstellung den wortspielerischen, doppeldeutigen Titel Über Tourismus trägt. Anhand von Grafiken, konkreten Beispielen und spielerischen Storytelling-Elementen wie mit den Grubers und Hubers werden die Inhalte sehr anschaulich transportiert. Dass die Zusammenstellung über den Hallstatt-Horror, die künstlich beschneiten „weißen Bänder“ in den Alpen und die strukturellen, allseits bekannten Auswirkungen von Kitzbühel, Wörthersee und Salzkammergut weit hinausgehen, versteht sich bei diesem Kuratorinnenduo, das vor drei Jahren bereits den vielbeachteten Ausstellungsschocker Boden für alle konzipiert hatte, fast von selbst.

„Aber wir wollen nicht nur klagen, anprangern und Kollateralschäden aufzeigen“, sagen Ritter und Mayer, „wir wollen auch positive Best-Practice-Beispiele für einen sanften, nachhaltigen Tourismus vor den Vorhang holen, denn schließlich sind wir eine Ferienmesse. Also zumindest fast.“ Rund 30 alternative, durchaus nachahmenswerte Reisestrategien gibt es in der Ausstellung zu entdecken – von der Alm über Städtereisen der anderen Art bis hin zu innovativen Konzepten für Wertschöpfung, Landschaftspflege und karitativen Tourismus, von dem ausnahmsweise die Schwächsten der Gesellschaft profitieren: Obdachlose, Geflüchtete, Gewaltbetroffene.

Mit dem Magdas Hotel, betrieben von der Caritas, mit geflüchteten Menschen an der Bar und Rezeption, gibt es nun erstmals ein schönes, durchaus schickes und absolut bobotaugliches Social-Business-Hotel mitten in Wien. Ein ähnliches Konzept verfolgt ein anderer Trägerverein mit seinem Hotel VinziRast am Land, wo man auf dem Gelände eines ehemaligen Gault-Millau-Luxusrestaurants in Alland nun günstig urlauben und nebenbei Biogemüse und glückliche Eier mit nach Hause nehmen kann.

Sanfter Tourismus

Ebenfalls im ländlichen Raum angesiedelt sind diverse Initiativen wie etwa die „Schule der Alm“. Der 2016 gegründete Verein versteht sich als Ausbildungsprogramm und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Almen im Tiroler Valsertal zu erhalten – und zwar mit der Hilfe von Interessenten, die mal Urlaub von ihrem „Bullshitjob“ machen und sich mit Sense, Spaten und Spitzhacke betätigen und die Kulturlandschaft in bis zu 3400 Meter Seehöhe nachhaltig pflegen und mitgestalten wollen. Aufgrund des zunehmenden Bauernsterbens gibt es in anderen Regionen – wie etwa am Grundlsee in der Steiermark oder am Weißensee in Kärnten – bereits eigene Landschaftspflegefonds, die Nebenerwerbslandwirte finanziell unterstützen.

Dass sanfter Tourismus nicht nur auf das Konto einer nachhaltigen Landwirtschaft einzahlen, sondern auch zum Erhalt regionaler Baukultur beisteuern kann, beweist die 2005 gegründete Stiftung „Ferien im Baudenkmal“. Von der Bauhausvilla am Zürichsee bis zur hochalpinen Holzhütte aus dem 16. Jahrhundert werden denkmalgeschützte Preziosen in der gesamten Schweiz vor dem Verfall bewahrt, denkmalgerecht restauriert und schließlich dem touristischen Markt zur Verfügung gestellt – und das zu durchaus moderaten Preisen, denn das Ziel der Stiftung sind nicht größtmögliche Gewinne, sondern gelebte Baukultur und die Stärkung lokaler Wertschöpfungsketten.

„Der Tourismus ist ein wesentlicher Hebel im Umgang mit der globalen Klimakrise und mit klimaadaptiven Maßnahmen“, sagen die beiden Kuratorinnen. „Daher müssen wir dringend handeln. Es gibt jede Menge sinnstiftender Best-Practice-Beispiele, an denen wir uns orientieren können.“ Während Venedig in Touristenmassen untergeht, hat Bhutan etwa die Corona-Krise dazu genutzt, den Tourismus im eigenen Land neu aufzustellen: Reisende müssen eine Sustainable-Development-Fee (SDF) in der Höhe von 250 US-Dollar pro Tag entrichten. Das Geld kommt nachhaltigen Projekten in den Sektoren Kultur, Bildung, Tourismus, Infrastruktur und Landwirtschaft zugute. Ein Weg von vielen.

Die Ausstellung „Über Tourismus“ ist bis 9. September 2024 zu sehen.

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag