Artikel

Die Wiederentdeckung des Broadway
Neue Zürcher Zeitung

Denkmalpflegerische Restaurierung historischer Filmtheater

Der Broadway in downtown Los Angeles war lange vor dem Hollywood Boulevard Schauplatz glanzvoller Filmpremieren: 12 Filmtheater wurden hier zwischen 1910 und 1931 gebaut. Die meisten der alten Kinopaläste sind heute geschlossen. Sie sollen jetzt restauriert werden. Ausserdem ist am Broadway, der Einkaufsstrasse der Latino-Gemeinde, ein neues Künstlerviertel geplant.

15. September 1999 - Christa Piotrowski
Charlie Chaplin und Mary Pickford waren unter den Gästen, die 1918 die Eröffnung des Million Dollar Theatre feierten. Das an der Ecke von Broadway und Second Street in downtown Los Angeles gelegene Filmtheater war eines der ersten Kinos der Stadt. Mit seiner Stuckfassade und der grossen Bühne, auf der Filmstars wie Rudolph Valentino und Gloria Swanson als Live- Entertainer auftraten, galt es damals als architektonisches und technisches Meisterwerk. Am Eröffnungsabend lief ein Film mit dem Titel «The Silent Man».

Mehr als 150 Filme wurden in der folgenden Dekade im Million Dollar Theatre uraufgeführt. Charlie Chaplin und Mary Pickford, die 1927 das Filmstudio United Artists gründeten, eröffneten im selben Jahr am Broadway ihr eigenes Kino. Das United Artists Theatre war vom Million Dollar Theatre nur sechs Strassenblöcke entfernt. Vier Jahre später wurde das Kino Los Angeles Theatre eingeweiht. Es war mit Chaplins finanzieller Hilfe fertiggestellt worden, der hier seinen Film «City Lights» uraufführte. Albert Einstein nahm als Ehrengast an der Premiere teil. - Zwölf Filmtheater wurden zwischen 1910 und 1931 am Broadway gebaut. Das Stadtzentrum von Los Angeles war bis Mitte der zwanziger Jahre der einzige Stadtbezirk, in dem Filme vorgeführt wurden. Der Hollywood Boulevard entwickelte sich erst ab 1926 mit der Eröffnung des Chinese und des Egyptian Theatre zum Premierenschauplatz. Architekten wie G. Albert Landsburgh und S. Charles Lee haben die Broadway-Kinos als opulente Filmpaläste entworfen. Das Palace Theatre zum Beispiel ist dem Casino Municipale in Venedig nachempfunden. Theatermasken und die vier Musen des Vaudeville schmücken die vom spanischen Bildhauer Domino Mora geschaffene Aussenfassade. Das Orpheum Theatre, ein Marmorbau mit überdimensionalen Kronleuchtern, ist eine Reminiszenz an die Pariser Oper.


Opulente Monumente

Das Los Angeles Theatre mit seiner Rokoko- Fassade ist das pompöseste unter den Kinos. Sein Foyer ist eine Imitation des Spiegelsaals in Versailles. Eine geschwungene Marmortreppe führt zu den Logenplätzen. In einem Ballsaal konnte zwischen den Vorstellungen getanzt werden. Nach der Vorstellung traf man sich im «Alexandria», das Chaplin in seiner Autobiographie als das «grossspurigste Hotel in der Stadt» beschrieben hat. Oder man dinierte im «Biltmore», wo 1927 die erste Verleihung der Academy Awards stattgefunden hatte.

Anfang der dreissiger Jahre, als in anderen Stadtbezirken immer mehr Kinos eröffnet wurden, traten in den Theatern am Broadway zunehmend Live-Entertainer auf: Big Bands und Vaudeville standen bis in die fünfziger Jahre auf dem Programm. Der Broadway entwickelte sich zur bevorzugten Einkaufsstrasse der Mittelschicht. Zwei grosse Warenhäuser, Spezialgeschäfte und Coffee Shops wie «Clifton's» (für seine grosszügigen Portionen während der Depressionsjahre bekannt) säumten den Boulevard. Zahlreiche junge Künstler, unter ihnen die fünfjährige Judy Garland, wurden in den Theatern von Hollywood-Agenten entdeckt. Entertainer wie Jack Benny, Bob Hope und die Marx Brothers feierten hier Erfolge. Auch schwarze Künstler, die in «weissen» Klubs damals unerwünscht waren, erhielten am Broadway Engagements. Billie Holiday, Nat King Cole, Duke Ellington, Count Basie und Lena Horn sind im «Orpheum» vor ausverkauftem Haus aufgetreten.

Besucherschlangen gibt es am Broadway schon lange nicht mehr. Zwar ist keines der Kinos abgerissen worden. Die meisten der alten Paläste sind jedoch geschlossen, ihre Leuchtreklamen und zerbröckelnden Stuckfassaden mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Sie sind vergessene Zeitzeugen, von Skid Row, dem Obdachlosenviertel von Los Angeles, nur ein paar Gehminuten entfernt. Der Broadway liegt heute in einer der vernachlässigtsten Gegenden der Stadt. Sein Verfall hatte in den fünfziger Jahren mit der Abwanderung der weissen Bevölkerung in die Suburbs begonnen. Mit dem Fernsehen war das Interesse am Vaudeville erloschen. Viele Verkaufsläden hielten der Konkurrenz der neuen Einkaufszentren in den Vororten nicht stand. Geschäftsunternehmen verlegten in den sechziger und siebziger Jahren ihre Büros in die neugebauten Hochhäuser im Stadtteil Bunker Hill.


Wiederbelebung des Grand Boulevard

Nur zwei der historischen Kinos, das Orpheum und das Palace Theatre, führen noch Filme vor. Einige Filmtheater werden als Kirchen genutzt; in manche sind Nähfabriken eingezogen, die Immigrantinnen aus lateinamerikanischen Ländern beschäftigen. Kinos wie das Roxie und das Globe Theatre wurden zu Billigläden umfunktioniert, die all jene Produkte anbieten, wonach die lateinamerikanischen Einwanderer verlangen. Der Broadway ist tagsüber ein traditioneller lateinamerikanischer Paseo mit flanierenden Fussgängern, wie man sie in Los Angeles sonst kaum sieht. Am Abend wird er zu einer verlassenen, spärlich beleuchteten Häuserschlucht, in der zerlumpte Gestalten nach Schlafstellen suchen.

Der ehemalige Grand Boulevard soll nun nach dem Willen der Los Angeles Conservacy wiederbelebt werden. Die Behörde für Denkmalschutz will den alten Filmtheater-Distrikt, die grösste Ansammlung historischer Kinos in den USA, restaurieren. Ein neues Künstlerviertel soll hier nach dem Vorbild der Villages in New York entstehen. Das Restaurierungsprojekt wurde durch ein Geschenk der New Yorker Andy Warhol Foundation in Höhe von 100 000 Dollar sowie 10 Millionen Dollar in zugesicherten Bankkrediten initiiert. Die Kinos sollen wieder Filme vorführen, ausserdem sind Theater und Nightclubs geplant. Die oberen Etagen werden zu Loft-Apartments ausgebaut. Galerien, Kunst- und Architekturschulen sollen als Mieter gewonnen werden. Die Stadtplaner hoffen, dass Angelenos unter 30 an einem Leben downtown Gefallen finden werden. Einige Gebäude sollen abgerissen werden, und sogar der Bau eines Multiplexes wird in Erwägung gezogen. Seinen lateinamerikanischen Charakter soll der Broadway jedoch behalten. Schliesslich haben Latinos den Boulevard vor dem vollständigen Verfall bewahrt.

Einzelne Gebäude wie das Million Dollar Theatre und das 1893 von George Wyman entworfene Bradbury Building sind bereits mit Erfolg renoviert worden. Sie gelten als wegweisend für die Zukunft des Broadways. Im Million Dollar Theatre, das einst einer der gefragtesten Auftrittsorte für lateinamerikanische Künstler war, finden seit Anfang des Jahres wieder «Variedades» statt. In den oberen Stockwerken wurden 110 Apartments eingerichtet. Das Bradbury Building, das als düsterer Drehort des Kultfilms «Blade Runner» bekannt wurde, ist heute eines der elegantesten und originellsten Bürogebäude der Stadt.


Authentische Stadtgeschichte

Die Restaurierung vernachlässigter Stadtzentren ist ein neuer Trend in den USA. Er geht mit der zunehmenden Kritik am unbegrenzten Wachstum der Suburbs einher. Downtown Seattle und Battery Park in New York erlebten vor einigen Jahren eine Renaissance. Städte wie Denver, Dallas, Houston, Memphis und Detroit haben kürzlich ihre alten Zentren restauriert. Nicht alle Restaurierungsprojekte ernten jedoch Lob. Der Times Square in New York zum Beispiel hat nach seiner vielbeachteten Renovierung an Flair verloren, meinen Kritiker. Es werden aber nicht nur die Ruinen saniert; es entstehen auch Fussgängerzonen im Stil der «Old Word». Grosse Einkaufszentren am Rande der Städte sind heute weniger gefragt. Die sterilen, überall gleich aussehenden Malls werden immer häufiger durch nostalgische Imitationen amerikanischen Kleinstadtlebens - Mainstreet USA im Disneystil - ersetzt.

Die historischen Filmtheater am Broadway vermitteln authentische Stadt- und Kulturgeschichte, wie man sie im schnellebigen Los Angeles sonst nirgendwo findet. Dies hat die Filmindustrie bereits erkannt. Der Broadway mit seinen düsteren, verlassenen Nebenstrassen und seinen alten Theaterbühnen ist eine begehrte Kulisse für Kinofilme, Musikvideos und Werbespots. Vor drei Jahren wurde im Stadtzentrum ein eigenes Filmbüro eingerichtet, das die wachsenden Anfragen nach Drehgenehmigungen koordiniert. Filme wie «Armageddon» und «Godzilla» sind downtown entstanden. Im Orpheum wurden unter anderem Filmszenen aus «Chaplin», «Last Action Hero», «Ed Woods» und «Funny Girl» gedreht. Filme wie «L. A. Confidential», «Batman Forever» und «Air Force One» haben das Foyer und die Bühne des Los Angeles Theatre als Kulisse genutzt. Der Musikfilm «The Mambo Kings» wurde im Tower Theatre gedreht. Musikerinnen wie Jewel und Céline Dion, Rockgruppen wie Guns N'Roses produzierten ihre Musikvideos in den alten Kinos. Die Einnahmen aus den Dreharbeiten haben die Filmtheater in den letzten Jahren über Wasser gehalten. Jetzt wird es Sache der Angelenos sein, den Broadway, den die meisten nur aus dem Film kennen, im Original zu entdecken und lebendig zu halten.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: