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Nachhaltigkeit: Sind Pilze die Zukunft?
Spectrum

Sie können fast alles: Myzelien werden als Platten verarbeitet zur Wärmedämmung genutzt, es gibt Pilzleder und sogar Speckstreifen aus Pilzschaum. Doch können auf diese Art sämtliche (Design-)Probleme gelöst werden?

27. Januar 2023 - Harald Gründl
Wie heißt das größte Lebewesen der Erde? Der Blauwal kommt mit einer Länge von 33 Metern und 200 Tonnen auf den Podestplatz der Tiere. Der größte Organismus lebt in einem Naturschutzgebiet in Oregon und hat eine Ausdehnung von neun Quadratkilometern, ein Gewicht von 7500 Tonnen und ein Alter, das über 2000 Jahre geschätzt wird: Es ist ein Pilz, ein dunkler Hallimasch. Was aber oft fälschlich als Pilz bezeichnet wird, ist nur der Fruchtkörper des Pilzes. Unterirdisch befindet sich das Myzel, die schnell wachsenden Wurzeln. Pilze bilden neben den Pflanzen und den Tieren eine eigene Gruppe von Lebewesen. Sie sind zwar sesshaft wie Pflanzen, betreiben aber keine Fotosynthese; ihre Nahrungsaufnahme erfolgt wie bei Tieren durch organische Stoffe, die sie in gelöster Form aus der Umwelt aufnehmen. Daher sind sie eher Tier als Pflanze.

Im Designkontext tauchten schon vor einigen Jahren erste Experimente mit Myzelien auf. Die Biotechnologie eignet sich für das Heimlabor zumindest im kleinen Maßstab. Heute kann das Substrat schon fertig angeimpft online bestellt werden, fast so wie eine Fertigsuppe oder Backmischung. Für rund 40 Euro erhält man ein GIY-Kit (Grow It Yourself) nach Hause: ein Liter eingeschweißtes Substrat, blaue Gummihandschuhe und eine durchsichtige Plastikform, in die die Biomasse hineinkommt. Das Substrat kann aus unterschiedlichen biologischen Stoffen bestehen, zum Beispiel Strohresten aus der Agrarindustrie oder Holzspänen. Mit Ethanol wird eine Rührschüssel sterilisiert und das Substrat mit ein wenig Mehl vermischt, mit den sterilen Handschuhen die Masse aufgelockert und danach in die sterilisierte Form gegeben. Die Form wird mit Frischhaltefolie abgedeckt, in die ein paar kleine Löcher gestochen werden.

Nach drei bis fünf Tagen bei 24 bis 26 Grad wächst das Myzel und fixiert das lose Material. Der Wachstumsvorgang kann abgebrochen werden, wenn die Form außen homogen mit dem weißen Myzel überzogen ist. An der Stelle endet die freundschaftliche Kooperation mit dem Lebewesen, und es wird im Backrohr bei 40 Grad und offener Tür entfeuchtet (drei bis vier Stunden) und dann bei 80 Grad abgetötet (zwei Stunden Backzeit).

Die Haptik ähnelt einem Camembert

Die so entstandenen Gegenstände haben eine Ästhetik, die durch das Durchscheinen und haptische Abzeichnen des Substrats (Gräser, Fasern, Holzspäne) an der weißen, weichen Oberfläche geprägt wird. Die Gegenstände werden im Verhältnis zu Größe und Volumen als leicht wahrgenommen, sie wirken fremd und vertraut zugleich. Haptik und Ästhetik der Oberfläche sind sehr ähnlich einem Camembert: leicht flauschig und nachgiebig. Plattenmaterial, das nach diesem Verfahren hergestellt wird, hat für die Architektur zwei wertvolle Eigenschaften: akustische Dämpfung und gute Wärmedämm-Eigenschaften. Erste Anwendungen als Akustiksystem gibt es bereits: Etwa hat das Ingenieurbüro ARUP mit dem italienischen Hersteller Mogu ein sehr schönes Akustikwandsystem entwickelt, das aus dreieckigen Pilzplatten und einer Grundstruktur aus Holz besteht. Sehr schön, sehr teuer, aber richtig gedacht und Circular Design. Da die Oberfläche im Farbraum des Camemberts ist, gibt es die Paneele auch mit Farbe beschichtet – mit Abstrichen an die akustischen Eigenschaften.

Die holländische Firma Grown Bio (von ihr stammt das GIY-Set) verkauft Prototypen von Myzel-Platten zur Wärmedämmung. Manche Platten haben nicht die weiße Camembert-Oberfläche, sondern schauen schon etwas überreif aus. Die Isolierplatte (120 mal 60 mal 6 Zentimeter) kommt im Zehnerpack und kostet 900 Euro. Bei dem Preis ist vielleicht das GIY eine Option?!

In den USA gibt es zwei Firmen, die den Umgang mit der Myzel-Technologie professionell und im großen Maßstab industrialisiert haben. Eines der ersten vielversprechenden Produkte ist ein Lederimitat aus Myzelien: Pilzleder. Hier wird auf einem Substrat das Myzel hauptsächlich an der Oberfläche kultiviert, es wird geerntet und zu einer dünnen Platte verarbeitet, diese wird dann mit einem Ledermuster geprägt und gegerbt. Die Firma Mylo lieferte das erste kommerziell gefertigte Pilzleder für eine prototypische Wäschekollektion der Modedesignerin Stella McCartney. Andere Modehäuser folgten mit Pilzledermänteln (Balenciaga) oder Handtaschenkollektionen (Vuitton, McCartney etc.). Adidas hat einen Schuhklassiker in Pilzleder, natürlich in einer Myzelium-Box. Verpackungsmaterial ist neben dem High-Fashion-Bereich die Hauptanwendung. Die hohen Preise des Materials sind aber nur abrufbar, wenn die Verpackung wie bei Naturkosmetik stil- und identitätsbildend wirkt.

Pseudo-Engineering und Basteln?

Ecovative, der andere große US-Hersteller, hat neben Leder auch Schaum im Programm. Damit lassen sich Babywiegen polstern oder Yogamatten veredeln, Schminkpads und biologisch abbaubare Beautysandalen herstellen. Ein Renner im Bereich Nahrungsmittel sind Speckstreifen: Aus der Schaumplatte werden (Speck-)Streifen geschnitten und gewürzt. Speck aus der Vertical Farm, eine interessante Perspektive für urbane Produktion ohne Tierleid.

Der spanische Designanthropologe Octavi Roves hat 2022 in seinem Buch „Design without Project“ (Corraini Editioni) kein gutes Haar an „Design mit Myzelien“ gelassen. Er ist gelangweilt von den ewig gleichen Versuchen, alle möglichen Probleme mit Myzel zu lösen. Pseudo-Engineering und Basteln sei das, mit einer Ästhetik des Vintage-Comic-Klassikers „Swamp Thing“ (DC Comics, ab 1971). Swamp Thing ist ein Superheld, der eine menschenähnliche Superheldenstatur aufweist, die aus Sumpfpflanzen besteht – es ist ein Lebewesen, das zwischen Natur und Mensch vermitteln kann und gut in den philosophischen Diskurs von Bruno Latour passen würde, der uns in einer Welt der sich überschneidenden Wesen sieht (Menschen mit Bakterien, Viren, Flechten, Pilzen etc.)

Das Bild oben stammt vom Londoner Blast Studio und scheint das von Roves zynisch beschriebene Genre zu bestätigen. Sieht man aber genauer hin, hebt sich der Pilzlampenschirm von anderen Designobjekten des Genres durch seine innovative Machart ab: Der mit generativem Design entwickelte Körper wurde im 3-D-Druck produziert und mit Myzel stabilisiert. Das Ausgangsmaterial: hauptsächlich gebrauchter Pizzakarton und Kaffeebecher aus Karton, vermengt zu einer Paste. Das bionische Design soll in selbsttragenden Strukturen produzierbar sein. Die Arbeit von Blast Studio geht über das Basteln hinaus und thematisiert zukünftige Materialströme, Fertigungsmethoden und ästhetische Fragestellungen des positiven Wandels – eine zeitgemäße Haltung.

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