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Spittelau Wien: Die Stadt in der Müllfalle
Spectrum

Das Märchen von der umweltfreundlichen Wärmegewinnungaus Müll ist entzaubert: 60.000 Wiener Haushalte stecken in einer Systemfalle. Wie steht es um die Utopie einer abfalllosen Gesellschaft, und warum hat der Umweltaktivist Hundertwasser sich einst auf so eine Greenwashing-Aktion eingelassen?

20. Juni 2022 - Harald Gründl
Als die Wien Energie kürzlich mit einer geplanten Preiserhöhung des Fernwärmetarifs um 92 Prozent in die Schlagzeilen kam, entzauberte sich das Narrativ der umweltfreundlichen Wärmegewinnung aus Müll in Wien. Das Märchenschloss in Form der von Friedensreich Hundertwasser vor 30 Jahren umgestalteten Müllverbrennung Spittelau überstrahlte als Architektur-Ikone und Wiener Wahrzeichen die Wärmegewinnung aus Erdgas, die mehr als die Hälfte des Wärmebedarfs im Fernwärmenetz deckt. 60.000 Wiener Haushalte sind in einer Systemfalle, sie können den Lieferanten nicht wechseln; die Politik muss jetzt die Preisexplosion abfedern, da sie auch viele Haushalte mit niedrigen Einkommen trifft. Beim Spaziergang durch die Stadt kann man auf Werbetafeln die Müllverbrennung im dunstigen Hintergrund eines Sujets erkennen, das die Klimaschutzaktivitäten des Energieversorgers bewirbt: „Wir klimaschützen Wien. Für unsere sichere Energieversorgung.“ Müll verbrennen, um das Klima zu schützen? Warum hat der Umweltaktivist und Naturschützer Hundertwasser sich auf so eine Greenwashing-Aktion eingelassen?

Die Müllverbrennung Spittelau wurde 1969 bis 1971 unweit des AKH Wien errichtet, um dessen Wärmeversorgung zu gewährleisten. Nach einem Großbrand 1987 wurde die Anlage an derselben Stelle wieder errichtet. Um die Involvierung von Hundertwasser durch den damaligen Bürgermeister, Helmut Zilk, und seinen Vize, Hans Mayr, ranken sich Mythen, wie Einführung der Mülltrennung in Wien, und Belegbares. Belegt sind jedenfalls die zögerliche Haltung Hundertwassers zur Müllverbrennungsanlage und seine Bedenkzeit, die sich über ein Jahr erstreckte. Zilk urgierte im wöchentlichen Rhythmus die Annahme der architektonischen Neugestaltung der Spittelau, während sich Hundertwasser über die technischen Fakten informierte und mit seinem Freund, dem Umweltschützer Bernd Lötsch, die Unausweichlichkeit einer solchen Einrichtung abwog.

Schon 1971: die Erde im Notzustand

Die frühe Protestschrift Hundertwassers – „Verwaldung der Städte“ (1971) – ist ein poetischer Lösungskatalog für die Herausforderungen der Klimakrise und der nötigen Anpassungen unserer Städte. Überall, wo Schnee hinfällt, sollen Bäume wachsen: „DIE WAAGRECHTE GEHÖRT DER NATUR, DIE SENKRECHTE DEM MENSCHEN.“ Die Erde im Notzustand war schon vor 50 Jahren Anlass, die Menschen aufzurütteln und ihnen eine alternative, lebenswerte, „verwaldete Stadt“ anzubieten, in der sie in Terrassenhäusern leben und sich jeder und jede um 100 Kubikmeter Humuserde kümmert, indem biologische Abfälle und menschliche Ausscheidungen vor Ort ausgebracht werden.

Ein Jahr später tritt der selbst ernannte „Architekturdoktor“, der so lautstark gegen die Nachkriegsmoderne wetterte, in der Fernsehsendung „Wünsch Dir was“ auf, in der er das „Fensterrecht“ und die „Baumpflicht“ erläutert. Das Fensterrecht ist die Rechtseinräumung zur individuellen Kreativität, so weit der Arm aus dem Fenster reicht, und somit vielleicht eine künstlerische Variante der heute viel beschworenen Partizipation in der Gestaltung unserer gebauten Umwelt. Die Baumpflicht (die Horizontale gehört der Natur) wird zur gestaltgebenden Konstante bei Hundertwassers Architekturprojekten. In der Fernsehsendung nimmt er das Satteldach vom Modell einer Mietskaserne ab und ersetzt es durch eine Dachbewaldung. Die Straßenfront bekommt ein begrüntes Vordach. „Der Staat muß ein Gesetz herausbringen, daß kein Haus mehr gebaut werden darf, ohne eine 1 Meter dicke Erdschicht über die ganze Fläche des Daches, über die ganze Fläche des ebenen Erdbodens, auf dem das Haus steht. Also muß ein Gesetz herausgebracht werden, und wenn es nicht sofort herausgebracht wird, so wird es sicher später herausgebracht werden“, wettert der Poet aus Venedig im März 1971. Hundertwasser entscheidet sich für die Müllverbrennungsanlage, nachdem er sich versichert hat, dass es keine Alternative dazu gibt, und weil er sich auch von den technischen Neuerungen der Abgasreinigung fasziniert zeigt. Unter Mithilfe von Architekt Peter Pelikan entsteht mit den „Arzneien gegen die massenhaft herumstehenden sterilen und kranken Architekturen“ wie Bewaldung der Dächer, Fensterrecht, „Verungradigung der Skyline und der geraden Kanten und Türmen und Erkern“ ein „Mahnmal für eine abfallfreie Gesellschaft“. Ein Mahnmal, kein Wiener Wahrzeichen für den Klimaschutz, wie es die Unternehmensprosa heute formuliert.

220 Mistautos täglich

Im „Friedensvertrag mit der Natur“ („Konkrete Utopien für die grüne Stadt“, 1983) fordert Hundertwasser die Menschen auf, wieder eine abfalllose Gesellschaft zu werden. „Denn nur wer seinen eigenen Abfall ehrt und wiederverwertet in einer abfalllosen Gesellschaft, wandelt Tod in Leben um und hat das Recht, auf dieser Erde fortzubestehen. Dadurch, dass er den Kreislauf respektiert und die Wiedergeburt des Lebens geschehen lässt. Es gibt keine Energiekrise. Es gibt nur eine maßlose Energieverschwendung. Hat die Natur eine Energiekrise? Haben die Vögel, die Bäume, die Käfer eine Energiekrise? Nur der Mensch bildet sich ein, eine Energiekrise zu haben, weil er wahnsinnig geworden ist.“

Wir sind auch 30 Jahre später unerfreulich weit von dieser Gesellschaftsutopie der schöneren, abfallfreien Zukunft entfernt. Noch immer steht dieses Mahnmal mitten in Wien, wo pro Tag 220 Mistautos unseren Siedlungsmüll in einen Bunker ungeheuerlichen Ausmaßes kippen. Über den Mistautos ist ein gewaltiges Vordach, auf dem die 30 Jahre alten Bäume als Zeugen für Hundertwassers Utopie den Feinstaub vom Müllabladen aus der Luft filtern. Steht man auf dem Vordach, fühlt man sich trotz der Bewässerungsschläuche wie im Wald. Nur gedämpft dringt das Treiben der Müllautos hinauf. Von der Besucherplattform blickt man auf gigantische Mengen Hausmüll. Zwei Riesengreifarme rühren den Müllberg um und beschicken die beiden Öffnungen zum Brennofen. Übrig bleiben von einer Tonne unseres Mülls 205 Kilo Schlacken, 25 Kilo Asche und 1,4 Kilo giftiger Filterkuchen, der in Deutschland unter Tag zwischengelagert wird. Die Restmenge von 55 Jahren Müllverbrennung türmt sich zur „höchsten Erhebung in der Donaustadt“, der Deponie Rautenweg, die im Endausbau 75 Meter in den Himmel ragen wird.

Auf dem Weg zum bewaldeten Vordach und zur Aussichtsplattform kommen die Besucher:innen an einer Hundertwasser-Ausstellung im Stiegenhaus vorbei, die einer Renovierung bedürfte. Ein von der Wand gefallenes Schild lehnt neben einer Tür: „Utopien und Träume sind realisierbar, sagt Hundertwasser. Wie sieht es aus mit dem Traum der abfallfreien Gesellschaft?“

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