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Lang lebe das Plastik!
Spectrum

Ein Plastiksessel als Vorzeigeobjekt der Weltrettung: Die Möbelindustrie nähert sich der Kreislaufwirtschaft mit dem Argument der langen Lebensdauer. Aber ist das der richtige Weg, wenn Plastikmüll erst anfallen muss, um weiterverwendet zu werden?

21. April 2021 - Harald Gründl
Ein grauer Kunststoffstuhl steht leicht nach vor geneigt vor einer durchsichtigen runden Säule, die auch ein Tischbein aus der legendären Ära des italienischen Memphisdesigns aus den 1980er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sein könnte. In dieser befinden sich bunte Plastikschnipsel. Das Bild wirbt für den ersten Stuhl der Designfirma Vitra, der aus rezykliertem Kunststoff gefertigt ist. Das Design stammt von Edward Barber und Jay Osgerby und ist zehn Jahre alt. Das Thema ist die Kreislaufwirtschaft. Dazu gibt es unterschiedliche Zugänge – in der Möbelindustrie ist der geläufigste die Argumentation einer langen Lebensdauer. Möbelklassiker ist das zugehörige Stichwort. Das ist prinzipiell ein ganz guter Zugang, wird aber durch die heutigen Konsumgewohnheiten allzu oft nicht eingelöst. Das Argument der Langlebigkeit hat auch in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in der Konstruktion und Materialität nur unzureichend auf den Paradigmenwechsel von der linearen zur Kreislaufwirtschaft durch Innovationen reagiert wurde.

Besagter Stuhl, der nun den alten Namen „Tip Ton“ mit dem neuen Beinamen „Re“ führt, ist im Gegensatz zu seinen Ahnen, die aus neuem („virgin“), leuchtend buntem, fossilem Plastikgranulat gefertigt sind, aus Kunststoffmüll. Er ist aus dem Inhalt des deutschen „Gelben Sacks“, der dem Verpackungsmüll der kommunalen Abfallentsorgung entstammt. Im Gelben Sack sind zahlreiche verschiedene Kunststoffe, die unsere Lebensmittel ins rechte Licht rücken und deren Haltbarkeit und Transportsicherheit herstellen. Aber auch andere Verpackungen wie zum Beispiel Reinigungsmittelbehälter. Sie haben meist nur ein kurzes Leben. Ein Joghurt ist schnell ausgelöffelt, genauso wie der Brimsen in der durchsichtigen Plastikverpackung aus dem Biomarkt.

Polypropylen heißt das Material, aus dem der Stuhl gemacht wird. Wenn man den Joghurtbecher umdreht und gut ohne Lesebrille sieht, dann erkennt man, dass ein Dreieck unter dem „PP“ steht. Eventuell ist auch nur der Recycling-Code „05“ im Dreieck angegeben. Als mündiger Konsument sollte ich den Aluminiumdeckel vom Becher reißen, den Becher darf man löffelrein in die Sammlung geben. Die Trennung der unterschiedlichen Materialien übernimmt dann ein Schredder, die kleinen Teilchen werden in unterschiedlichen Trennverfahren sortenrein zur Wiederverwendung aufbereitet. Das Joghurt wird in einem Waschvorgang von den „Flakes“ getrennt.

Wer schon einmal mit Wasserfarben gemalt hat, erinnert sich vielleicht an das Wasserglas, das durch das Auswaschen der unterschiedlichen Farben langsam grau wurde. Genau dasselbe passiert auch, wenn man die rezyklierten Kunststoffkonfettis einschmilzt. Bei Vitra hat man sich dazu entschlossen, dieses Farbmischresultat als Statement für die neue Ära der Kreislaufwirtschaft beizubehalten. Es folgt der neuen Ethik der Transparenz und Ehrlichkeit. Grau als die „natürliche“ Farbe der Kreislaufwirtschaft. Es ist dem Hersteller bewusst, dass diese Form der ästhetischen Enthaltsamkeit dauerhaft wohl kaum großer kommerzieller Erfolg beschienen sein wird. Systemisch betrachtet mutet es auch seltsam an, dass der im Supermarkt repräsentierte Verpackungswahnsinn mittelfristig in Stühlen zwischengespeichert wird.

Für die 3,6 Kilogramm Stuhl sind das beispielsweise 7200 fein säuberlich vom Karton getrennte Bio-Joghurt-Becher. Ein Stuhl als Endlager für Plastikmüll? Mitnichten, natürlich ist die so kaskadierte Plastikmasse wieder zu „100 Prozent“ rezyklierbar. Dann sind wir ja beruhigt. Eine Rücknahme der Stühle wird vom Hersteller angeboten. Weitere graue Stühle darf man sich allerdings nicht erwarten – so wie der Produktionsabfall gehen diese Stühle dann an ein Abfallunternehmen anstatt wieder in den Stuhlproduktionsprozess. Irgendwas wird daraus schon werden. Vielleicht ist in fünf oder zehn Jahren dann der Joghurtbecher grau, und die Stühle sind wieder weiß. Wir werden sehen.

Eine andere Möglichkeit, aus Plastikabfall Stühle zu machen, ist der vom englischen Lifestylemagazin „Wallpaper“ mit dem Design Award 2021 ausgezeichnete „Bell Chair“ von Konstantin Grcic für den italienischen Hersteller MAGIS. Anstatt „post-consumer“ wird hier „post-industrial“ Material verwendet. Dabei handelt es sich um Kunststoffmaterial, das in der Produktion abfällt. Das erklärt dann wohl auch die Preiskategorie „Best Use of Material“, bei dem der Stuhl in guter Gesellschaft mit anderen Kunststoffstühlen sich den Podestplatz teilt.

Es mutet seltsam an, dass Plastikstühle in Zeiten der Klimakrise zum Vorzeigeobjekt der Weltrettung geraten. Solcherart hat auch ursprünglich der Designer reagiert, als ihm das Projekt angetragen wurde. Der „Bell Chair“ spielt eine Gewichtsklasse unter dem „Tip Ton RE“ und ist typologisch ein „Monobloc“. Das sind die weißen, blauen oder grünen Billig-Gartenkunststoffstühle aus dem Baumarkt, die zumeist an ihre Urahnen aus Teakholz erinnern wollen. Die Zuschreibung, dass es sich hierbei um den meistverkauften Stuhl der Welt handelt, ist wohl eher ungenau, denn wenn man genau hinsieht, variiert das Genre dann doch ein wenig.

Große Stückzahlen sind jedoch Voraussetzung, damit die erheblichen Spritzgusswerkzeugkosten entsprechend schnell abgeschrieben werden können. Im Minutentakt wird von einem Roboterarm ein „Bell Chair“ aus einer gigantischen Maschine gehoben und auf den Vorgänger gestapelt. Die Maschine wird ebenfalls mit Polypropylen gefüttert, hier allerdings mit Material, das ein italienischer Autozulieferer und die Firma MAGIS selbst als Produktionsabfall haben. Wenn man den Stuhl umdreht, dann sieht man die stolze Inschrift des neuen Zeitalters: „Made from industrial waste. Designed for a circular economy.“

Es gibt noch einen dritten Weg des Greenwashing: Plastik aus den Ozeanen. Wem der Müll vom Supermarkt nicht dreckig genug ist, der greift zu dem Kunststoff, der in den Ozeanen treibt oder von Sandstränden aufgesammelt wird. Die Entfernung dieser Umweltsünde ist ehrenhaft, als Materialquelle der Zukunft ist sie nicht geeignet. Die Reparatur der Welt kann wohl nicht dadurch gelingen, dass zuerst Mengen an Müll erzeugt werden, die wir in die Umwelt bringen, um sie dann heroisch in Stühle und andere Artefakte, die etwas länger leben, zu transformieren.

Wer einen Gartenstuhl braucht und sich Distinktionsgewinn durch das Plastik erhofft, das schon in großen Mengen in Walen und kleinerem Getier aus den Meeren gefischt wurde, der kann zu einem anderen Vertreter der Kategorie nachhaltige und verantwortungsvolle Möbel greifen: der Neuauflage eines dänischen Gartenstuhlklassikers von Nanna & Jørgen Ditzel aus dem Jahr 1955. Der Stuhl posiert in der Neuauflage von 2019 mit den Netzen, die für Überfischung der Weltmeere und die Dominanz des globalen Nordens bei der Nahrungsbeschaffung stehen.

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