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Die alte Kaiserstadt auf Marktwirtschaftskurs
Neue Zürcher Zeitung

Denkmalschutz und Stadterneuerung in Peking

Peking, die politische und kulturelle Hauptstadt Chinas, rüstet sich für die Marktwirtschaft. Als Vorbilder dienen die Metropolen Südostasiens wie Kuala Lumpur oder Singapur. Die vielfältigen Eingriffe hinterlassen im kleinteiligen städtebaulichen Geflecht deutliche Spuren. Zum Fünfzigjahrjubiläum der Volksrepublik China zeigt sich die Stadt gewandelt.

1. Oktober 1999 - Corinne Elsesser
Entlang der Chaoyangmen Nandajie reihen sich auf der einen Strassenseite die traditionellen Wohnviertel Pekings, auf der anderen neue, in den letzten Jahren entstandene Bürohochhäuser. Zwei Welten treffen hier so unvermittelt aufeinander wie die Radfahrer, die zwar noch das Strassenbild bestimmen, aber zunehmend vom Autoverkehr verdrängt werden, der zu Geschäftszeiten für Stunden alles zum Erliegen bringt. In den schmalen Strassen der inneren Stadt, in denen sich zurzeit Baustelle an Baustelle reiht, schlängelt man sich aneinander vorbei, und das geht oft schneller als auf den staugeplagten Umfahrungsstrassen, die sich stadtplanerischen Jahresringen gleich um die Stadt legen. Die Chaoyangmen Nandajie ist eine solche Ringstrasse, die der alten Stadtbefestigung Beijings folgt.


Historisches Stadtgefüge

Einst gab es zwei von Mauern befestigte Städte, eine nördliche, die 1272 nach Plänen von Liu Bingzhong auf quadratischem Grundriss angelegte Hauptstadt Da-du der mongolischen Yüan- Dynastie (1271-1368), und eine südliche, äussere Stadt der Ming-Dynastie, unter Kaiser Chia-ching 1521-1566 erbaut. Für die Stadtanlage typisch ist ihre Symmetrie. Auf einer Nord-Süd-Achse, die sich von einem Trommel- und einem Glockenturm im Norden bis zu dem heute nicht mehr existierenden Yung-ting-Tor der südlichen Umfassungsmauer erstreckt, sind - mit dem Kaiserpalast in der Mitte - alle wichtigen offiziellen Gebäude aufgereiht. Diese axiale Ausrichtung setzte sich im regelmässig rechteckigen Raster des Stadtgrundrisses bis in die um den Kaiserpalast angesiedelten Hofhäuser der Beamten- und Händlerfamilien fort. Jede neue Dynastie schloss an diese städtebauliche Tradition an.

Die Marktwirtschaft heute, und sei es auch die sogenannt sozialistische chinesischer Prägung, kommt in grösseren Schritten und nimmt keine Rücksicht mehr auf das feine Geflecht der Bebauungsstrukturen. Obwohl die Begrenzung der Bauhöhe für neue Gebäude in der inneren Stadt auf 30 Meter festgelegt wurde, die sich erst ausserhalb des 1. Rings auf 9 Stockwerke staffeln soll, entstanden Anfang der achtziger Jahre im Zentrum bis zu 80 Meter hohe Hotelbauten, die zeigen, wie diskutierbar stadtplanerische Regeln sind.

Heute stehen 520 der für Peking typischen Hofhäuser - Hu-t'ongs - aus der Ming- (1368-1644) und Ch'ing-Dynastie (1368-1911) unter Denkmalschutz. Nur diejenigen allerdings wurden bisher restauriert, die als historisch wertvoll gelten. Seit 1949 wurde der Umbau der grösseren Hu-t'ongs für die Aufnahme mehrerer Familien gefördert, womit die einzelnen Höfe zu engen halböffentlichen Nutzräumen wurden. In den ärmeren Hofhäusern nördlich der Gulou Dongdajie werden die Höfe nicht mehr von einer eleganten Trennwand gegen die Strasse abgeschirmt. Statt dessen führt der Weg vorbei an der Seite eines der den Hof umstehenden Wohnhäuser. Die über den Eingangstoren aufgehängten Spruchbänder erinnern hier an «sozialistischere» Zeiten. Und die relative Vernachlässigung der Wohneinheiten deutet darauf hin, dass die Stadt keinen Anlass zu einem Restaurierungsprogramm sieht.


Zentrum und Satellitenstädte

Die im Zuge des 1. Fünfjahresplans 1953 in die Wege geleitete Erweiterung bestehender Strassen in ostwestlicher Richtung orientierte sich zwar noch an den einstigen Stadttoren, durch die sie zu neuen Wohngebieten hinführten. Ihre Ausrichtung allerdings unterläuft die Nord-Süd-Axialität des Stadtgrundrisses. Das Ausmass eines solchen Einschnitts kann man an der Breite der am Cheng-tian-Tor (heute: Tiananmen-Tor) des Kaiserpalastes vorbeiführenden Chang'an Jie ermessen. Eine weitere, die den Tiananmen-Platz im Süden abschliessende Qianmen Dajie, verläuft zwar auf der Grenze zwischen Süd- und Nordstadt, wird aber auf Grund der sie flankierenden Wohnhochhäuser als «neue Mauer» inmitten der Stadt bezeichnet, da man die alte Befestigungsmauer dafür abgerissen hatte.

Gegen eine in den siebziger Jahren seitens der Stadt zur Verkehrsentlastung geplante weitere Achse durch die nördlichen Hu-t'ong-Gebiete wehrten sich schliesslich Architekten, Schriftsteller und Intellektuelle. Unter ihnen war der heute 76jährige Wu Liangyong, einer der bekannteren Architekten des Landes. In seinen Wohnkonzepten waren ihm humanistische Massstäbe wichtig. An einer Seitenstrasse der Sanlihe Donglu ausserhalb des 1. Stadtrings befindet sich eine von ihm Ende der fünfziger Jahre geplante Siedlung. Er interpretierte das Hofhaus um in einen drei- oder viergeschossigen Wohnhauskomplex, der, von der Strasse zurückgesetzt, mittels begrünter Vorgärten und offener Innenhöfe aufgelockert wird. Selbst Parkplätze stehen entlang der baumbestandenen Strasse zur Verfügung, was in Wohngebieten an der Peripherie noch keine Selbstverständlichkeit ist. Dort wird meist der Grünraum geopfert.

Die Projekte Wu Liangyongs setzten sich auf breiter Basis nicht durch. Angesichts rapide steigender Bevölkerungszahlen - von 1,6 Millionen im Jahre 1949 stieg die Einwohnerzahl auf heute rund 13 Millionen - musste in den Jahren nach 1958 mehr Wohnraum zur Verfügung gestellt werden. Viele der baufälligen Hu-t'ongs im Zentrum wurden abgerissen, mehrgeschossige Mietshäuser an ihrer Stelle erbaut und die Bewohner in neue Wohnanlagen umgesiedelt. Damit begann eine Entwicklung, die heute in Form von Hotels, Shopping-Centern und Bürohochhäusern in den alten Quartieren mehr und mehr Form gewinnt und die den über Jahrhunderte gewachsenen Stadtgrundriss allmählich auflöst.

Von der Erweiterung der Stadt in Ringen - der fünfte von sieben vorgesehenen Umfahrungsringen wird gegenwärtig realisiert - ist man inzwischen abgekommen, da diese die weiträumige Verstädterung zu sehr fördern. In Entfernungen bis zu 80 Kilometern sind statt dessen 10 neue Satellitenstädte geplant, die - nach dem Vorbild Hongkong - als «New Towns» mit bis zu 300 000 Einwohnern (Changping) die innere Stadt entlasten sollen. Mit der Ansiedlung von Industrie und Gewerbe, Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen sollen sie zu selbständigen Subzentren werden. Ihre Verkehrsanbindung lässt jedoch anders als in Hongkong zu wünschen übrig. Bis jetzt steht den meisten Neustädten lediglich eine Busverbindung zur Verfügung. Nur wenige haben einen direkten Bahnanschluss.


Umstrukturierungen

In der inneren Stadt wird indes das alte Marktviertel Dong-dan nach heutigen Standards umgebaut. So folgt der nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 forcierten Entwicklung Pekings zur Industriestadt, deren negative Folgen heute allenthalben spürbar sind, in diesem Jahrzehnt eine Umstrukturierung nach marktwirtschaftlichen Kriterien. Obwohl man stadtplanerisch der Symmetrie des Stadtgrundrisses Rechnung trägt und das ebenfalls im 16. Jahrhundert entstandene westliche Marktviertel Xi-dan auch modernisieren will, konzentriert sich die Bautätigkeit auf das östliche Quartier. In der Wangfujing Dajie entsteht zurzeit die erste Fussgängerzone Chinas. Baustellen wechseln sich hier mit bereits eröffneten multifunktionalen Büro- und Geschäftshäusern ab, für die Investoren verantwortlich zeichnen, die in Peking wiederholen, was in Hongkong bereits erfolgreich war. Dahinter liegen die notdürftig zusammengezimmerten Bauhütten der Wanderarbeiter und zum Abriss ausgeschriebene Hu-t'ongs.

Noch besitzt der als Monument frei gestellte, sorgsam restaurierte Kaiserpalast seine Funktion als Mitte der Stadt. Das Wohnen in seiner unmittelbaren Umgebung zwischen den spiegelverglasten Fassaden der Hotels und Einkaufszentren aber gleicht sich dem in jeder beliebigen Drittwelt-Metropole an.

Corinne Elsesser

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