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Der Architekt als Plastiker
Neue Zürcher Zeitung

Entwurfsstrategien von Frank O. Gehry in Rotterdam

Die gebauten Formphantasien des kalifornischen Architekten Frank O. Gehry werden weltweit viel beachtet. Die Arbeitsweise seines Büros in Santa Monica ist dagegen kaum bekannt. Das Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam widmet sich zurzeit in einer Studioschau dem Entstehungsprozess dieser Architektur und dem Geheimnis ihrer schulbildenden Kraft.

29. September 1999 - Johann Christoph Reidemeister
Nach den spektakulären Erfolgen, die der Architekt Frank O. Gehry mit seiner Baukunst in den letzten Jahren feiern konnte, liess die Frage nach den Anfängen nicht lange auf sich warten. In Rotterdam stellt das Nederlands Architectuur Instituut (NAI) mit einer Studioschau Gehrys Entwurfsstrategien im Kontext von Los Angeles vor - der Stadt, «in der die Freeways immer verstopft und alle Menschen im Showbusiness tätig sind». Dass sich über die Angelenos und ihre Stadt problemlos Hunderte von Seiten mit Sankt- Andreas-Graben-Katastrophen, Buschbränden und sozialen Unruhen füllen lassen, hat Mike Davis mit seiner Analyse «Ökologie der Angst» (NZZ 7. 9. 99) unlängst bewiesen.

In dieser Stadt der Engel genannten Hölle begann Gehry als Lastwagenfahrer, entschied sich für ihr Leben und ihre architektonische Anarchie. Nach abgeschlossenem Architekturstudium erkor er einen schlichten Backsteinkasten im Industriegebiet von Santa Monica zum Atelier. Dort entwarf er bald Gebäude, die nicht nur in seinen Augen aussahen «wie ein Rauschenberg»: Collagen aus Billigmaterial vom Baumarkt um die Ecke. Diese Architektur der Instabilität kam einer Ohrfeige gleich, die all jene traf, die mit weiss strahlenden Bungalows und niedlichen Walmdachhäuschen die Illusion einer geordneten Gesellschaft aufrechterhalten wollten. Sie trug Gehry das Etikett «Dekonstruktivist» ein und wurde für junge Talente zum Auslöser, nach Los Angeles zu gehen, um dort Architektur zu machen. Deshalb aber Gehry die Vaterschaft einer solchermassen zusammengewürfelten «LA School» zusprechen zu wollen, ist nicht zuletzt deshalb problematisch, weil sich Gehry von seinen Ursprüngen weit in eine vom Pop inspirierte Formensprache vorgewagt hat, um sich anschliessend zu einer organischen Expressivität zu steigern. Die Rotterdamer Gegenüberstellung mit den Arbeiten des Büros Morphosis als eines der wichtigsten Exponenten der «LA School» unterstreicht weniger die Seelenverwandtschaft als vielmehr Gehrys baukünstlerische Singularität.


Denken in Pappmodellen

Angesichts der Überfülle von Modellen, die im NAI auf Regalen scheinbar zufällig abgestellt sind und zwischen die aus Gründen der Authentizität rollenweise milchig trübes Zeichenpapier als Insignie des schöpferischen Chaos gestopft wurde, mag man sich fragen, ob hier nicht ein allzu nostalgisches Bild von Gehrys Entwurfsarbeit gezeichnet wird. Dessen fulminant ineinandergewirbelte Formexplosionen sind jedenfalls längst nicht mehr ohne spezielle Software zu planen, geschweige denn zu realisieren. Was, so mag der fragen, der sich inmitten der Pappexperimente nur schwer zurechtfindet und dem das geschäftige Rascheln in den für Besucher ausgelegten technischen Zeichnungen nichts erzählt, hat das alles mit dem architektonischen Entwurfsprozess heute zu tun? Hat nicht der Computer Zeichnen und Basteln aus den Büros verdrängt?

Nicht bei Gehry. Nach der für ihn so wichtigen Kontaktaufnahme mit dem Bauherrn und dem Ort hält er erste Ideen zeichnerisch fest. Schnell füllen Linien das Blatt. Mit seinem Stift scheint Gehry über das Papier zu hetzen, als gelte es, eine fliehende Idee einzuholen. Fast immer wird nicht mehr als die Atmosphäre festgehalten, in ungezählten Varianten allerdings. Hoffnungslos, hier mit ungeübtem Auge Gewichtverlagerungen erkennen zu wollen. Während die Zeichnungen die Gebäude von aussen zeigen, entwikkelt Gehry am Modell das Gebäude von innen heraus. Mittels Fragmentierung des Modells werden die räumlichen Beziehungen erforscht und in einer wahren Modellflut durchgespielt. Anhand der Modelle trifft Gehry seine Entscheidung, und erst dann werden technische Zeichnungen und Computeranimationen erstellt.

Je nach Stadium des Entwurfsprozesses bestimmt so jeweils ein Medium die Formfindung. Gehry selbst meidet jede Arbeit vor dem Bildschirm und bezeichnet sich als technologisch ungebildet. Dass er den Schwerpunkt auf das Modellieren von Architektur legt, beweisen die 90 Modellbauer in seinem 120 Mitarbeiter zählenden Team. Gedacht wird vorzugsweise in Pappe. Deren Qualitäten erfährt der Besucher, wenn er auf dem «Wiggle Side Chair» Platz nimmt, einem Kartonmöbel aus dem Jahr 1972. Natürlich ist auch dieser Sessel wie alles, was Gehry aus seiner Gestaltungswut heraus erzeugt, eine Grenzerfahrung. Das vermeintlich weiche Material ist zu einem massiven Klumpen Stabilität zusammengeleimt. Die aufgeschnittene und geknickte Wellpappe verbreitet ein Gefühl der Rastlosigkeit - als würde man in einem staubigen Umzugskarton sitzen. Damit vermittelt Gehry dem Platznehmenden das genaue Gegenteil dessen, was er gemeinhin mit Sitzen verbindet: Aufbruch statt des wohligen Gefühls, angekommen zu sein.


Tanz der Formen

Was aus der Arbeit an Geländemodellen hervorgegangen ist, kann als Sinnbild von Gehrys Genialität gelten. Ein Weg, Kontakt mit seinen Ideen aufzunehmen, ist der, den Tanz der Formen über Tische und Regale zu verfolgen. In der Schau von Kuratorin Kirsten Kiser ist zu sehen, was Gehrys Atelier noch nie verlassen hat. Selbst Entwürfe zu noch nicht beendeten Projekten wie der DG Bank am Pariser Platz in Berlin hat der Baumeister herausgegeben. Mit diesem unverstellten Blick in die Kreativküche des Studios vermittelt sich eine Auffassung vom Modellieren als der eigentlichen Tätigkeit des Architekten. Nur selten findet sich ein funkelnd glattes Präsentationsstück wie das in einer Plexiglasvitrine eingesargte Modell des Düsseldorfer Neuen Zollhofs. Statt dessen überwiegen Arbeitsmodelle, die ausnahmslos dem Suchen nach der Form und dem Experiment Gebäude dienen. Gezeichnet vom bildhauerischen Drang, alles zu verformen, stellen sie mehrmals auseinandergerissene und wieder geflickte Etappen auf dem Weg zum endgültigen Haus dar. Die Aufstellung solcher Arbeitsmodelle erzählt die Geschichte von Gehrys Formfindungsprozess, rückt sie in den Mittelpunkt und verweist die gebauten Resultate an den Rand einer tagtäglichen Emanation von Pappskulpturen.

«Wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass es die Entstehungszeit der Bauten ist, die mir wirklich Spass macht», meint Gehry. Durch all seine Projekte hindurch ist er an einer oft stürmisch-spielerischen Zusammenarbeit mit seinen Bauherren gewachsen. Vom Geschäftsmann Peter Lewis ist behauptet worden, dass er Gehrys Entwurfsarbeit über fünf Jahre hinweg finanzierte, nicht um ein Haus zu bekommen, sondern um eine Beziehung zu Gehry zu haben. Die Faszination Bauen steigert dieser um die spannungsreiche Interaktion mit seinen Auftraggebern. Im Falle Lewis sind so zwischen 1989 und 1995 Konzeptionen entstanden, die die Grundlage für Gehrys spätere Erfolge bildeten. Der zentrale Konferenzsaal der Berliner DG Bank ist ein solcher Direktimport aus den Überlegungen für Lewis. Durch die Konzentration der Rotterdamer Ausstellung auf die Entwurfsarbeit werden diese Zusammenhänge sichtbar. Unsichtbar aber bleiben die den Ideenfluss speisende Intuition und der labile Gleichgewichtssinn, auf den aufbauend ein solches Werk errichtet ist. (Bis 14. November)


[ Begleitpublikationen: Frank O. Gehry. The Architect's Studio: Hrsg. Kirsten Degel. Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek 1998. 128 S., hfl. 39.50. - Morphosis. Building and Projects. 1993-1997. Rizzoli-Verlag, New York 1999. Ohne Seitenzählung, hfl. 199.90. Die Morphosis-Ausstellung dauert noch bis zum 16. Januar 2000. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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