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Tradition als Passion
Neue Zürcher Zeitung

Neue Sicht von Albert Richardsons Œuvre in London

1. Oktober 1999 - Hubertus Adam
1988 bezog die «Financial Times» ihr neues, von Nicholas Grimshaw entworfenes Produktionszentrum in den Londoner Docklands. Das als «Bracken House» bekannte, 1956-59 in unmittelbarer Nähe der St. Paul's Cathedral errichtete alte Verlags- und Druckhaus gelangte in die Hände eines japanischen Investors und wäre abgerissen worden, hätte man das Gebäude nicht - als ersten britischen Nachkriegsbau überhaupt - unter Denkmalschutz gestellt und damit vor der Zerstörung bewahrt. Michael Hopkins gelang schliesslich mit der Einfügung eines Traktes in die bestehende Substanz der überzeugende Dialog zwischen Alt und Neu. Indes war «Bracken House» schon zur Zeit seiner Entstehung umstritten. Der Elemente von Guarinis Turiner Palazzo Carignani entlehnende Bau mit seiner strengen Ziegelfassade, deren rosafarbener Klinker an das Papier der «Financial Times» erinnern sollten, galt zwar manchem Kritiker als Versuch, die Architektursprache des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Moderne zu erneuern, wurde damals jedoch von der Avantgarde rundweg abgelehnt. Nicht anders ist zu erklären, dass Albert Richardson, dem Architekten von «Bracken House», langjährigen Professor an der Bartlett School (1919-47) und zeitweiligen Präsidenten der Royal Academy 35 Jahre nach seinem Tod nun erstmals eine schmale Retrospektive in der RIBA Heinz Gallery in London eingeräumt wird.

Richardson, 1880 geboren, wandte sich nach seinen architektonischen Anfängen in diversen Büros vornehmlich urbanen Projekten zu - auf das New Theatre in Manchester (1911/12) folgte eine Reihe von Geschäftshäusern in der Londoner Innenstadt, später auch eine Anzahl von Kirchenbauten. Ohne in einen eklektizistischen Historismus zu verfallen, blieb die massvoll modernisierte Tradition der georgianischen Architektur für ihn gleichwohl bestimmend. Als Verfechter des handwerklichen Erbes und einer evolutionären Entwicklung der Formensprache blieb er ein Mann des beginnenden Jahrhunderts, der mit seinem Neoklassizismus dem Siegeszug der Moderne ablehnend gegenüberstand.

Manchmal komme es ihm vor, als sei die Nation von einer Krankheit infiziert, die sie zwinge, alles Schätzenswerte zu verachten und nach dem Wertlosen zu streben, äusserte er 1936. Die Kritik an der Industrialisierung, wie sie schon Carlyle, Emerson oder Ruskin vorgetragen hatten, wurde von Richardson aktualisiert; seine satirische Zeichnung «Progress» von 1931 zeigt das zukünftige London als ein sich babylonisch aufgipfelndes Arrangement aus Hochhäusern. Dass die Realität Richardsons Befürchtungen längst eingeholt hat, lässt den Rückblick auf sein Werk überfällig erscheinen. Neben seiner Tätigkeit als Architekt und Lehrer widmet sich die Ausstellung auch dem Autor Richardson, der eine Reihe von Standardwerken vornehmlich zur britischen Architekturgeschichte des 18. Jahrhunderts publizierte. (Bis 23. Oktober)


[ Katalog: Sir Albert Richardson 1880-1964. Hrsg. Alan Powers. RIBA Heinz Gallery, London 1999. 96 S., £ 9.95. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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