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Blick ins urbanistische Räderwerk
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Alphonse Laverrière in Lausanne

Die Archives de la construction moderne der ETH Lausanne widmen dem Architekten Alphonse Laverrière, der Lausanne in der ersten Jahrhunderthälfte mit prominenten Bauten entschieden mitgestaltet hat, eine Ausstellung und einen Katalog. Diese sind das Ergebnis einer zehnjährigen Auseinandersetzung mit Laverrières mehr als 50 000 Dokumente umfassendem Archiv.

13. Oktober 1999 - Roger Friedrich
Letzte Ruhestätte vieler Bewohner von Lausanne ist der Cimetière du Bois-de-Vaux. Dieser Friedhof gilt gemeinhin als das ausgereifteste Werk von Alphonse Laverrière (1872-1954). Mit der als Hauptachse durch die ganze Anlage geführten Allee ist dem Architekten hier ein überzeugendes Beispiel für die von ihm geforderten «grandes ordonnances» gelungen, denen sich Lausannes Topographie so sehr widersetzt. Von Laverrière stammen auch der Pont Chauderon (1901), der jüngst restaurierte Bahnhof (1908-16), das heutige Bundesgericht (1922-27) mit seinem neoklassizistischen Zug und das Hochhaus Bel- Air/Métropole (1929-31), neben der Kathedrale das bekannteste Bauwerk der Stadt, dessen Erstellung eine heftige Polemik (mit Ramuz an vorderster Front) auslöste, ein Waadtländer Wellenschlag der amerikanischen Wolkenkratzer.


Ein halbes Jahrhundert Lausanne

Das Werk, das den Namen des in Carouge geborenen Laverrière zuerst bekannt machte, war das Reformatoren-Denkmal (1908-17) in Genf. Laverrière war - auch auf eidgenössischer Ebene - vielfältig aktiv und engagiert, lehrte an der Zürcher ETH und gehörte zu den Gründern der 1913 nach dem Vorbild des Werkbundes ins Leben gerufenen welschen Vereinigung für Kunst und Industrie, «Œuvre», die sich allerdings progressiveren Ideen nur wenig öffnete (was Le Corbusier veranlasste, sich nach anfänglichem Engagement zurückzuziehen). Laverrière fand Zugang zur Neuenburger Uhrenindustrie. Die Zusammenarbeit mit Favre-Jaccot («Zenith») erstreckte sich in den zwanziger Jahren vom Projekt für eine Fabrik in Le Locle über die Gestaltung von Uhrengeschäften in verschiedenen Städten - im Sinne eines einheitlichen Markenauftritts - bis zu Entwürfen für Pendulen. Den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bildete aber Lausanne, wo sich Laverrière 1901 einrichtete; sein letztes Projekt, ein Verwaltungsgebäude neben dem Bahnhof, wurde in den Jahren 1948 bis 1950 ausgeführt. Nicht nur die Anzahl seiner Bauten ist bedeutend; er konnte vor allem an städtebaulich wichtigen Standorten sowohl im Zentrum als auch in den Entwicklungszonen projektieren. Selten hat ein Architekt eine Stadt in dieser Weise mitgestaltet.

Seine Arbeiten hörten über die Polemiken zu Lebzeiten hinaus nicht auf zu irritieren, und das nicht nur der verwirrlichen Stilvielfalt des Eklektikers wegen. Man hat schlicht Mühe, den ausgewogenen Payot-Bau hinter der Kirche Saint-François, der über Jahrzehnte die Buchhandlung dieses Namens beherbergte, und den Bel-Air-Turm unter einen Hut zu bringen, von den nicht realisierten Verwaltungstrakten ganz zu schweigen, die er hinter der Kathedrale projektierte und denen die halbe Cité geopfert werden sollte.

Dieser vielfältigen Persönlichkeit widmen nun die Archives de la construction moderne (ACM) der ETH Lausanne eine Ausstellung, zu der ein gewichtiger Katalog erschienen ist. Ein Falzprospekt schlägt einen Rundgang durch die Stadt - vorbei an sechzehn Grünanlagen und Bauten Laverrières - vor. Ausstellung und Katalog sind die Frucht einer zehnjährigen Auseinandersetzung mit dem gut 50 000 Dokumente umfassenden persönlichen Archiv Laverrières, das die Nachkommen des Architekten 1989 den ACM anvertraut haben.

Laverrière dokumentierte sein Schaffen mit so viel Eifer und Akribie, wie er seine Karriere mit Geschick und Umsicht förderte und konstruierte. Eine Abteilung der Ausstellung zeigt, wie er mit besonders angefertigten Darstellungen an seinem Image arbeitete, für die Photos seiner Bauten mit Sorgfalt die fähigsten Photographen heranzog, in renommierte Fachperiodika Eingang fand und anhand des «Argus» Erfolgskontrolle betrieb. Das auch auf Selbstdarstellung angelegte persönliche Archiv wurde den jungen ACM zum Lehr- und Übungsstück, an dem sie, wie der Archivleiter, Pierre Frey, im ersten Beitrag des Kataloges darlegt, ihre Prinzipien und Methoden entwickeln konnten. In den weiteren Aufsätzen des Katalogs versuchen mehrere Autoren mit minuziösen Untersuchungen einzelne Aspekte der brillanten Architektenkarriere zu erhellen, die - wie Armand Brulhart in seinen Ausführungen über Laverrières Ausbildungszeit anmerkt - die ziemlich hilflosen Zeichnungen in der Jugend nicht vorausahnen liessen.


Mechanismen der Stadtentwicklung

ie Aufsätze analysieren die vielfältigen Beziehungsnetze, in denen sich Laverrière bewegte und die bei den verschiedenen Projekten wirksam wurden. Die Absolventen der Pariser Ecole nationale supérieure des Beaux-Arts, an der Laverrière zwischen 1892 und 1901 seine Ausbildung erhalten hatte, übten in der Westschweiz massgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Wettbewerbe aus und entwickelten eine beträchtliche Fähigkeit, diese auch zu gewinnen. Zeit seines Lebens blieb Laverrière mit Jean Taillens (Partner unter anderem bei den Projekten für das Reformatoren- Denkmal und den Bahnhof) befreundet; die Rolle, die Taillens in diesem Umfeld spielte, geht zwar nach Frey aus Laverrières Archiv nicht deutlicher hervor, doch dürfte der Beitrag seines Talentes beträchtlich gewesen sein. Auffällig sind die Begabung Laverrières zur Zusammenarbeit (z. B. mit Ingenieuren und Technikern beim Bahnhof oder beim Pont Chauderon) und auch die Bereitschaft zur Berücksichtigung von «Kundenwünschen», die bei dem vom Zürcher Unternehmer Eugen Scotoni gebauten Bel-Air-Turm offenbar weit reichte. Laverrière verstand es, die Fäden in der Hand zu behalten. Interessengruppen wie die Vereinigung «Œuvre», die er zwei Jahrzehnte lang präsidierte, waren ihm da ein nützliches Instrument.

Jedenfalls erfordert Laverrières Schaffen eine differenzierte Beurteilung, zu der dieser Katalog - im Sinne eines «offenen Systems» - kritische Anstösse geben will, ohne sie schon vorzunehmen. Indem die Aufsätze unter anderem in detaillierten Projektierungsgeschichten versuchen, das ganze Zusammenspiel der «building practitioners» in die Untersuchungen einzubeziehen, gewähren sie - fast mehr als ein Bild Laverrières entstehen zu lassen - Einblicke in das urbanistische Räderwerk einer Stadt, die eine komplexe Topographie vor ganz ausserordentliche städtebauliche Probleme stellt, seit sie um 1800 herum ihre alten Konturen zu überwuchern begann. (Bis 28. Oktober)


[ Katalog: Alphonse Laverrière. 1872-1954. Parcours dans les archives d'un architecte. Hrsg. Pierre Frey. Presses polytechniques fédérales de Lausanne, Lausanne 1999. 273 S., Fr. 49.50. ]

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