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Ein riesiger Tempel für moderne Kunst macht dem Louvre vor dessen Haustür Konkurrenz
Neue Zürcher Zeitung

Jean Nouvel hat für die Fondation Cartier an der Rue de Rivoli ein kolossales Gebäude in lichtdurchflutete Räume verwandelt. In ihrem Kern ermöglichen schwebende Ausstellungsräume flexible Konfigurationen.

23. Oktober 2025 - Hubertus Adam
Einen attraktiveren Standort in Paris kann man sich kaum vorstellen. Die Fondation Cartier pour l’art contemporain hat ihr neues Domizil bezogen: mitten im Herzen der Stadt, neben dem Palais Royal, direkt gegenüber vom Louvre. Paris festigt damit seinen Ruf als zeitgenössische Kunstmetropole. Wenn an diesem Wochenende die Art Basel Paris im Grand Palais stattfindet, eröffnet auch der neue Museumsstandort an der Rue de Rivoli.

Die beiden Institutionen sind auch personell miteinander verflochten: Chris Dercon hat als Präsident der Vereinigung der staatlichen Museen und Hausherr des Grand Palais den Weg für die Kunstmesse aus Basel an die Seine geebnet. Und seit Ende 2022 lenkt er als Managing Director auch die Geschicke der Fondation Cartier.

Die 1984 gegründete Kunststiftung des Schmuck- und Uhrenherstellers Cartier, der heute zur schweizerischen Richemont-Gruppe gehört, veranstaltete ihre ersten Ausstellungen in Jouy-en-Josas bei Versailles, bevor sie zehn Jahre später einen Neubau am Boulevard Raspail in Paris bezog.

Der gläserne Schrein, den der Architekt Jean Nouvel von der vielbefahrenen Strasse abrückte und mit einem opulenten Garten umgab, setzte Massstäbe im Museumswesen: So transparent, so hell, ja so immateriell hatte man Ausstellungsräume noch nie gesehen. Auf diesen Ort musste man sich als Künstler einlassen, und so entstanden viele der Arbeiten eigens für dieses wie eine grosse Vitrine erscheinende Haus im Viertel Montparnasse. Nicht wenige Exponate wurden dann auch für die wachsende Sammlung der Fondation Cartier erworben.

1200 Hotelzimmer

Jean Nouvel, der in diesem Jahr seinen achtzigsten Geburtstag feiern konnte, ist der prominenteste Architekt Frankreichs und Cartier seit langem verbunden. Schon für Jouy-en-Josas hatte er einen Neubau geplant; zwischen 1989 und 1992 realisierte er eine Fabrik für den Mutterkonzern in Saint-Imier im Berner Jura. 2018 konzipierte er einen Erweiterungsbau für sein inzwischen legendäres Gebäude am Boulevard Raspail. Indessen wurden die Pläne zu Makulatur, als sich der Fondation die Gelegenheit bot, an die Rue de Rivoli umzuziehen.

Das dortige Gebäude, das sich über 150 Meter entlang der Strasse erstreckt, mag gegenüber dem Louvre fast bescheiden wirken. 1855 anlässlich der ersten Weltausstellung in Paris fertiggestellt, umfasste es, um mehrere Innenhöfe gruppiert, in den Obergeschossen seinerzeit sensationelle 1200 Hotelzimmer.

Aus den Ladenlokalen im Erdgeschoss ergab sich schliesslich eine neue Geschäftsidee: Von 1887 bis 1974 diente der Gebäudekomplex als Magasin du Louvre, als riesiges Warenhaus, das seinerzeit sogar mit einer internen Eisenbahn für den Waren- und Besucherverkehr auftrumpfte. Nach völliger Entkernung des Inneren wurde später eine neue Nutzung realisiert: Le Louvre des Antiquaires, ein Shop-in-Shop-Konzept mit Antiquitätenläden. Das Haus wirkte jedoch zunehmend verstaubt und wurde 2019 endgültig geschlossen.

Durchsichtige und bewegliche Räume

Nun ist Jean Nouvel erneut für die Fondation Cartier tätig geworden. Es sind drei Strategien, mit denen er den Komplex umgestaltet hat: Zunächst öffnete er die Fassaden hinter den Arkaden an der Rue de Rivoli und die rückwärtigen zur Rue Saint-Honoré mit riesigen, das Erdgeschoss und das Mezzanin übergreifenden Fenstern. Damit gelangt Licht in das Innere. Passanten können in das Gebäude hinein und durch das Gebäude hindurchsehen, während die Ausstellungsräume im Inneren sich optisch mit der Stadt verbinden.

In der Mitte des Gebäudes schuf Nouvel sodann einen 85 Meter langen, 11 Meter hohen, 13 Meter breiten und flexiblen Hohlraum. Die dritte und spektakulärste Intervention: In diesen Hohlraum sind fünf gigantische Hubpodien eingelassen, die mit Seilzügen bedient werden. Insgesamt 1250 Quadratmeter Ausstellungsfläche lassen sich unabhängig voneinander je nach Belieben nach oben und unten bewegen und an elf möglichen Fixierungspunkten arretieren. Im Vergleich zum alten Standort am Boulevard Raspail haben sich die Ausstellungsflächen verfünffacht. Und sie liegen nun in der Pariser Innenstadt, die damit zum Epizentrum der zeitgenössischen Kunstszene geworden ist.

Architektur ist schwer und immobil. Das Statische wieder in Bewegung zu bringen, fasziniert Architekten indes seit langem. Eines der historischen Beispiele für ein wandelbares Gebäude, auf das sich Nouvel bezieht, steht in Clichy, einem nordwestlichen Vorort der Kapitale. Die Maison du Peuple (1939) gilt als Ikone der Architektur des 20. Jahrhunderts: Markthalle unten, Veranstaltungssaal oben, in einer Hülle mit verschiebbaren Wänden, Böden und Decken. Nach Jahren der Verwahrlosung wurde das Gebäude von der Firma des Sternekochs Alain Ducasse übernommen und soll im kommenden Jahr nach denkmalgerechter Restaurierung wiedereröffnet werden.

Ein aktuelleres Beispiel: die Fondation Lafayette, die 2018 unweit des Centre Pompidou eröffnet hat. In den Innenhof des historischen Bestands integrierte Rem Koolhaas eine turmartige Stahlkonstruktion, in der sich zwei nebeneinander befindliche Ausstellungsflächen ebenfalls nach oben und unten bewegen lassen.

Die Eröffnungsausstellung versammelt 600 Werke von hundert Künstlerinnen und Künstlern.

In der neuen Fondation Cartier hat Jean Nouvel diesen Gedanken gewissermassen in einen grösseren Massstab übertragen. Die Eröffnungsausstellung zeigt souverän die Potenziale der Räume, welche den unterschiedlichen Exponaten gerecht werden. Sie ermöglichen spannungsvolle Durchblicke im Inneren und können bei der nächsten Ausstellung wieder ganz anders konfiguriert werden. So schwer die Stahlplattformen mit ihren Terrazzoböden auch wirken: Die Mechanik mit ihren gewaltigen Seilen und Umlenkrollen bleibt überall sichtbar und gibt eine Vorstellung von den Gewichten, die bewegt werden. Das ist nicht zuletzt auch eine Verneigung vor der technischen Moderne des 19. Jahrhunderts, die sich gerade in Paris Bahn brach.

Eine Verneigung vor der Vergangenheit

«Exposition Générale» nennen die Kuratorinnen Béatrice Grenier und Grazia Quaroni ihre Eröffnungsausstellung und knüpfen damit an die Idee der Weltausstellungen und Warenhäuser an, ein Universum von Waren oder Kunstwerken zu präsentieren. Tatsächlich vermittelt die Ausstellung einen suggestiven Überblick über die Sammlung der Fondation Cartier. 600 Werke von 100 Künstlerinnen und Künstlern sind zu sehen, ungefähr ein Achtel des Gesamtbestands.

Die vier Kapitel der Schau sind beim Rundgang nicht trennscharf zu unterscheiden. Das ist indes nicht von Nachteil, denn diese Wunderkammer an Werken, welche die Fondation Cartier in den vierzig Jahren ihres Bestehens erworben hat, fasziniert durch ihre Vielgestaltigkeit. Neben den klassischen Disziplinen wie Malerei, Grafik und Skulptur finden sich hier auch Exponate aus den Bereichen Kunsthandwerk, Architektur, Performance, Fotografie und Digitalkunst.

Vor allem beeindruckt die Präsentation durch eine intelligente kuratorische Auswahl, die in diesem wandelbaren Raum hervorragend zur Geltung kommt. Von einer «Maschine zum Sehen» sprach Chris Dercon anlässlich der Vorbesichtigung.

Nicht alle Projekte, mit denen sich Jean Nouvel in den Stadtraum von Paris eingeschrieben hat, vermögen gleichermassen zu überzeugen. Mit der neuen Fondation Cartier indes ist ihm, nach dem visionären Glasbau am Boulevard Raspail, erneut ein Meisterwerk der Metamorphose gelungen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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