Artikel

Zukunft, aus dem Wok gezaubert
Neue Zürcher Zeitung

Havannas Chinesenviertel erwacht zu neuem Leben

Das Chinesenviertel von Havanna war einst das bekannteste im ganzen lateinamerikanischen Raum. Nachdem es bereits vom völligen Verfall bedroht schien, zeichnet sich nun ein Aufschwung ab - doch liegt vorläufig das Hauptgewicht auf kommerzieller und nicht kultureller Entwicklung.

2. November 1999 - Knut Henkel
Jahrzehntelang überliess die kubanische Regierung Havannas Chinesenviertel dem Verfall: nun erstrahlt das barrio chino als weitere Touristenattraktion im neuen Glanz. Der Duft fernöstlicher Gewürze steigt in die Nase, es zischt und dampft aus allerlei Töpfen und Pfannen: gebackenes Gemüse, Frühlingsrollen, Chop-suey oder Nasi-goreng werden angepriesen und finden reissenden Absatz. Auf den Preislisten prangen neben den obligatorischen spanischen Lettern liebevoll gemalte chinesische Schriftzeichen. Die kann zwar kaum jemand lesen, aber schliesslich ist man im Chinesenviertel von Havanna, und das will deutlich gemacht werden.

Garküche reiht sich an Garküche, davor haben fliegende Händler, die ambulantes, ihre Verkaufswägelchen aufgebaut, umlagert von hungrigen Kubanern, die hier ihre Mittagspause verbringen. Dazwischen lugen die Eingänge der zahlreichen Restaurants hervor, die sich in der Calle Manrique angesiedelt haben. Kellner mit asiatischen Gesichtszügen empfangen die Gäste schon vor der Tür, reichen die Speisekarte, die für kubanische Verhältnisse reichlich bestückt ist. Über 100 preiswerte Gerichte bietet das «Tien Ta», nicht viel weniger der «Templo del Cielo» oder das «Flamboyant».

Viele Kubaner kommen jedoch nicht allein wegen der kulinarischen Genüsse ins barrio chino, denn auch Gewürze, Ginseng und Heilkräuter werden feilgeboten. Tritt man aus dem Gewühl der kleinen Flaniermeile auf die nächste Strasse, weist eine Leuchtreklame den Weg in eine der ältesten Zeitungsredaktionen des Landes - hier wird in mühevoller Kleinarbeit die einzige chinesischsprachige Zeitung Kubas hergestellt: die «Kwong Wah Po». Was einstmals eine Tageszeitung mit beachtlicher Auflage war, ist heute nur noch ein vierseitiges zweisprachiges Blättchen, das alle zwei Wochen in einer handgesetzten Ausgabe erscheint. In den zwanziger Jahren für die rund 4000 chinesischen Haushalte in Havanna gegründet, trug sich das Blatt über Jahrzehnte selbst, erinnert sich Alfonso Y. Chao Chiu, der Präsident der chinesischen Gemeinde; deren Zentrum ist das «Casino Chung Wah», von welchem auch die Zeitung gesponsert wird.

Viele Käufer finden sich nicht mehr für das dünne Blatt, denn das barrio chino, in dem früher bis zu 30 000 Chinesen lebten, ist verwaist. Maximal 300 gebürtige Chinesen leben noch im Chinesenviertel Havannas - landesweit sind es vielleicht 3000. Bei einem Durchschnittsalter von 79 Jahren reduziert sich diese Zahl allerdings von Jahr zu Jahr. «Wir sterben aus, und unsere 150jährige Geschichte auf Kuba geht zu Ende», konstatiert der 71jährige Chao Chiu traurig.


Anfang im Elend

Die ersten von insgesamt rund 150 000 Chinesen setzten 1847 ihren Fuss auf die Insel: 206 Bauern waren es, die für die Zuckerrohrernte angeworben wurden. Acht Jahre sollten sie auf den Plantagen für 4 Pesos im Monat schwitzen. Wer die Tortur überstand, musste sich eingestehen, dass mit den wenigen Pesos, die am Ende übrigblieben, der Weg nach Hause nicht mehr möglich war. Also siedelten sich die Chinesen unter elenden Bedingungen rund um Havannas Abwasserkanal, die Zanja, an.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wuchs auch das Chinesenviertel. Neuankömmlinge aus den Nachbarländern, vor allem den USA, investierten: eine Importgesellschaft entstand, genauso wie Theater, Kinos, Apotheken, Opiumhöhlen oder das Casino. Nicht nur im Handel spielten die Chinesen eine Rolle, auch an den kubanischen Unabhängigkeitskriegen nahmen sie teil. Bekanntestes Beispiel ist der Teniente Tankredo, der es bis zum General im zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien brachte. Nach der kubanischen Revolution von 1959, die von den Chinesen mit einem eigenen Milizbataillon unterstützt wurde, verblassten die Zeugnisse des chinesischen Einflusses, die im Casino lebendig gehalten werden, zusehends.

Dem Untergang des barrio chino und dem Vergessen der chinesischen Kultur wird seit einigen Jahren allerdings nicht mehr tatenlos zugesehen. Einige engagierte Nachkommen chinesischer Einwanderer haben sich vor sechs Jahren zusammengefunden, um zu retten, was zu retten ist. An die eigene Tradition will man anknüpfen, das Viertel wiederbeleben und zu neuer Grösse aufpäppeln, erklärt Elisa Leon, Mitglied der «Gruppe der Förderer des Chinesenviertels». Die 47jährige chinesischstämmige Biologin arbeitet seit fünf Jahren in der Organisation. Aus der Suche nach der eigenen Identität, mit der für sie alles begann, ist längst ein neuer Beruf geworden. Ihre Arbeit an einem Forschungsinstitut hat sie aufgegeben, was ohne die Hilfe der Regierung, welche die Arbeit der Gruppe zu unterstützen beschloss, kaum möglich gewesen wäre.

Die Gruppe wurde zur Regierungsorganisation befördert und erhielt recht weit gehende Autonomie, erinnert sich die vielbeschäftigte Frau. Sämtliche Steuereinnahmen, die in den Strassen mit so klangvollen Namen wie Dragones, Rayo oder Sol y Villages erwirtschaftet werden, fliessen in die Kasse der Organisation. Die kulturelle Arbeit, mit der die Gruppe begann, ist zugunsten der Kommerzialisierung des Viertels in den Hintergrund getreten. Sprachkurse und Seminare zur Geschichte der Gemeinde werden zwar nach wie vor organisiert, aber im Fokus der Gruppe steht der Aufbau einer leistungsfähigen Dienstleistungsstruktur im barrio chino. Für die Eröffnung von Restaurants, die Gründung kleiner Familienbetriebe, aber auch für die Planung von Hotels und Pensionen zeichnet die Gruppe verantwortlich. Das Angebot soll, so Elisa Leon alias Mayei Kui, kontinuierlich erweitert werden.


Neue Betriebsamkeit

Die Handschrift der Gruppe ist in den noch vor wenigen Jahren durch Apathie und Verfall gekennzeichneten Häuserschluchten rund um die Zanja deutlich zu erkennen. Was 1968 während der zweiten kubanischen Verstaatlichungswelle enteignet wurde, scheint über dreissig Jahre später wieder aufzuerstehen. Alte Geschäftsschilder erstrahlen in neuem Glanz, Rolläden werden hochgezogen, Türen öffnen sich, hinter denen kleine Geschäfte, wie die Wäscherei an der Ecke Manrique, zum Vorschein kommen. Neue Betriebe entstehen, die von chinesischen Familien geführt und von der Gruppe der Förderer verwaltet werden.

Grundlage für den bescheidenen Boom ist die Legalisierung der «Arbeit auf eigene Rechnung», die im September 1993 verabschiedete gesetzliche Grundlage für die wirtschaftliche Selbständigkeit in Kuba. Damit war es erstmals seit 1968 wieder möglich, Handel zu treiben, wenn auch in engen Grenzen, was von der chinesischstämmigen Bevölkerung schnell genutzt wurde. Das Viertel begann aufzublühen. Ein Trend, der sich über die Eröffnung des freien Bauernmarkts im Oktober 1994 bis heute fortsetzt, erläutert Antonio, Rikschafahrer im barrio chino. Er ist zufrieden mit dem neuen Treiben in seinem Viertel, denn an Kundschaft, die nach Hause transportiert werden will, fehlt es ihm nicht. Symbolisiert wird das Erwachen des Chinesenviertels durch ein überdimensioniertes Eingangstor, welches einer chinesischen Seifenoper entstammen könnte. Das 13 Meter hohe Kitsch-Ungetüm markiert den Eingang zur kleinen Meile chinesischer Restaurants und Garküchen, die das Herz des ehemals bekanntesten Chinesenviertels Lateinamerikas bilden.

Die Einflüsse chinesischer Kultur sind jedoch auch abseits des Viertels sichtbar. So darf die Corneta china, die chinesische Trompete, auf keinem Karneval fehlen, und sowohl der Reis als auch die zahlreichen Gemüsesorten sind aus der kubanischen Küche kaum mehr wegzudenken. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der traditionellen chinesischen Medizin zuteil. Die Akupunktur, aber auch die Verwendung traditioneller Heilkräuter sind in Kuba zu einer echten Alternative angesichts der chronischen Engpässe bei der Medikamentenversorgung geworden.

Für Chao Chiu kommen die vielfältigen Aktivitäten im barrio chino jedoch recht spät. «Zwar ist es schön und gut, dass hier etwas passiert, aber die Mitglieder unserer Gemeinde werden davon nichts mehr haben. Unser Viertel droht, ganz auf den Tourismus ausgerichtet, ein wenig künstlich zu werden - ein Chinesenviertel ohne Chinesen.»

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: