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Das durchlässige Haus
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Toyo Ito im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen

Vor zwei Jahren wurde eines der ersten Häuser, die 1976 entstandene «White U»-Villa, des japanischen Architekten Toyo Ito abgebrochen. Nun wurde es im Rahmen einer Ito-Ausstellung im Aachener Suermondt-Ludwig-Museum in Zusammenarbeit mit Ito massstabsgetreu rekonstruiert. Das raumfüllende Modell wird ergänzt durch Zeichnungen, Modelle und Simulationen.

1. November 1999
Der Avantgarde-Architekt Toyo Ito beruft sich gerne auf Banzan Kumazawa, einen Philosophen der Edo-Zeit. Dieser dachte sich den kosmologischen Zusammenhang in Form von «Ki». Das gasförmige «Ki» des Geistes beseelt das feste oder flüssige «Ki» der Körper. Er entwarf aber keineswegs das Bild einer ausgewogenen Ganzheitlichkeit. Vielmehr versetzte er seine Welt in eine Bewegung des ständigen Wandels durch ein «Ki», das nicht nur alle Aggregatzustände des Lebens stellt, sondern auch alle Kreaturen durchströmt und so das eigentliche Subjekt bildet. Diese ursächliche Zusammengehörigkeit sieht Ito durch den Individualismus der Moderne in Frage gestellt. Rettung und Gegenbewegung erkennt er in der Erfindung des Computerchips: Das grosse Fliessen - diesmal von Informationen - hat in unserer Zeit der Vereinzelung eine Trendwende herbeigeführt und abermals einenden Charakter bewiesen. - So wie Ito die Gegenwartsbewältigung mit zusammengesuchten Philosophien und Technologiegläubigkeit zu meistern versucht, hat die japanische Architektenschaft von heute mit einer inneren Ambiguität leben gelernt.

Wieder also steht Metablh, Veränderung, ins Haus. Unter dem Schlagwort Metabolismus war die Vätergeneration 1960 angetreten, um mit modular zusammengesteckten Riesenbauten den Stadtraum neu zu definieren. Was damals als Befreiung gedacht war, löst heute eher Beklemmung aus. Gebaut wurde davon kaum etwas, doch die megalomanen Zukunftsträume als Symbol technokratischer Fortschrittlichkeit stehen seitdem im Raum. Architektur sollte nicht etwas endgültig Festgefügtes sein, sondern flexibel und prozesshaft.

Im Büro eines der Protagonisten dieser Bewegung, bei Kiyonori Kikutake, sammelte Ito zwischen 1965 und 1969 seine ersten Praxiserfahrungen. Bei Kikutake gab es den ewigen Wandel aller Dinge zu erfahren: beispielsweise seine transportablen Wohnkapseln. Vom grossen Kenzo Tange lernte Ito, wie man solche bautechnische Revolutionen mit dem Shintoismus in Verbindung bringt. Doch am lehrreichsten war für ihn schliesslich das Scheitern des Metabolismus: Neue Lebensformen für die Gesellschaft sollten geschaffen werden, doch hatte man es versäumt, die Gesellschaft selbst nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Die Neuordnung der Stadt war im grossen Massstab nicht zu lösen. Das Projekt lief sich tot, scheiterte an den Partikularinteressen, war schlicht nicht praktikabel. Jeder zog sich danach auf sein kleines Grundstück zurück und versuchte dorthin etwas von den himmelstürmenden Ideen zu retten. So auch Ito, der 1971 - dreissigjährig - mit einem eigenen Büro einen Neuanfang wagte. Immer im Glauben, in einer «Stadt ohne Eigenschaften» Identität herstellen zu können, schlug er wie Tadao Ando und Kazuo Shinohara den Weg der inneren Emigration ein. Ihre frühen Bauten spiegeln denn auch die bewusste Abkehr von der Stadt, die sich nicht helfen lassen wollte.

Wie das Innere einer solchen Defensivarchitektur den Menschen birgt, ist derzeit im Suermondt- Ludwig-Museum zu erfahren. Im Zentrum der Itos Arbeit gewidmeten Schau ist als wichtigstes Exponat die «White U»-Villa aus dem Jahr 1976 massstabsgetreu wiederaufgebaut. U-förmig umfängt sie einen Hof: den Ort der Stille und der Leere. Nur an wenigen Stellen öffnet sich das Gebäude zu diesem Grünraum, der nicht betreten werden will. Nach aussen verschliesst sich diese Architektur der harten Schale: Die Tür ist das einzige Loch in der rohen Betonfassade. Das Innere des Us zeichnet sich durch ein Raumkontinuum aus, das nur an den Enden durch abgetrennte Zimmer beschnitten wird. Dennoch ergibt sich eine völlig singuläre Raumerfahrung: Licht, Schatten und Geräusche transportiert dieser geschwungene Schlauch. Konsequent in Weiss gehalten, erweist sich der Innenraum im Gegensatz zum starren Äusseren als entmaterialisiert. Ohne das Haptische zu bemühen, ist Ito eine sinnliche Architektur gelungen.

Die Vorstellung von der Architektur als Garten oder Landschaft, die Ito in den neunziger Jahren besonders intensiv verfolgt hat, spielt auch in den Entwurf der Mediathek in Sendai (1995-2000) hinein. Die vor der Fassade im Wechsel aufgereihten Zelkova-Bäume, die Teil der örtlichen Hauptallee sind, demonstrieren Patenschaft für die Vegetativformen der Gebäudestatik. Auf sechs unterschiedlich hohen Stockwerken birgt der Bau Bibliothek, Museum und Veranstaltungsräume. In der schlichten Schichtung auf rechteckigem Grundriss werden Anklänge an den Prototyp modernistischer Ästhetik und modularer Kargheit, Le Corbusiers Dom-Ino-Haus, laut.

Als Klassiker empfiehlt sich ebenso das Element der curtain-wall, nur um den Blick darauf zu lenken, dass hier alles anders ist: Die Säulen sind hohl, dienen als Lichtschächte oder Treppenhäuser. Indem Ito die Säulen entkernt, beraubt er sie ihrer Tragkraft. Gleichzeitig konzipiert er eine Abfolge fragiler, sich durch die Geschosse in wechselnden Formen schraubende Säulenkränze, die in luftiger Skulpturalität jede tragende Aufgabe weit von sich weisen. Auf der zugig offenen Horizontalen nehmen sie raumgliedernde Aufgaben wahr, während sie in der Vertikalen über ihre mäandrierende Formvielfalt einen verbindenden Fluss aus Licht, Luft und Wegen herstellen. Ito zelebriert mit diesem Entwurf das durchlässige Haus, die Architektur als Hauch.

Seine Gedanken zu Flüchtigkeit und Fluss der Dinge hat er hier in den denkbar ephemersten Formen und Materialien formuliert. Der Weg dorthin führte über ausführliche zeichnerische Überlegungen, die in Aachen zu sehen sind: Bunte Skizzen der Säulenarrangements dokumentieren die Idee von einer Architektur, die von unsichtbaren Strömungen erfasst wie Meeresvegetation in sanfte Wellenbewegungen versetzt wird. Das Blatt hat Ito bis zum Rand ausgefüllt. Mit dem Zeichenstift tritt er gegen jede Begrenzung an, als wolle er seine schwingenden Linien über die Fläche des Papiers hinaus in den realen Raum verlängert wissen. Der Vergleich der Zeichnung mit dem Modell zeigt, dass er dabei vor Beschönigungen nicht zurückschreckt. Die dünnen Bleistiftstriche, mit denen die Etagen angedeutet werden, tatsächlich aber den Eindruck einer beiläufigen Linierung erwecken, wachsen sich im Modell und beim gebauten Resultat zu schweren Etagenscheiben aus. Die Zeichnung erlaubt den Blick in das Herz des Architekten: Sie zeigt seine Intention, einen Bau im Fluss zu kreieren.

Auf einem anderen Blatt wird Ito deutlicher. Unmissverständlich markiert er imaginäre Kraftlinien mit kräftigen roten Pfeilen, die sich in Schlangenlinien sowie im Zickzack um die Säulen legen oder völlig enthemmt die Fassade durchbrechen und über das Gebäude hinausschiessen. Anders aber als Rem Koolhaas bei seinem Entwurf für die Pariser Bibliothèque nationale aus dem Jahr 1989 - die Parallelen zu Itos Projekt der Mediathek aufweist - liegt es dem Japaner fern, aus solchen Überlegungen heraus den Boden in unfunktional gewölbte Betonlandschaften zu modellieren. Denn: der Mensch bleibt trotz modernem Schwung in aller Regel als linearer Wurm abhängig von der Fläche. Menschliche Erdenschwere ist dem Zeichner Ito eine Last, der Architekt Ito aber räumt ihr Platz ein und weiss mit ihr als gleichberechtigtem Kontrapunkt zum Ideal des «Alles fliesst» seine Bauten zu erden. - Die ebenso erhellende wie suggestive, umfangmässig aber nicht allzu grosse Schau wird durch den Katalog zu einer kleinen Retrospektive abgerundet.


[ Bis 23. Jan. Katalog (deutsch und englisch). Edizioni Charta, Mailand 1999. 237 S., DM 55.-. ]

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