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Ein Hoch auf Gebrauchsspuren
Ein Hoch auf Gebrauchsspuren, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Eine Sache kann radikal falsch oder einfach dumm sein - Radikalität oder Einfachheit sind keine Qualitäten an sich. Nach all den Tabulae rasae des Jahrhunderts, nach Moderne und Gegenmoderne: was können wir aus dem Novecento lernen

31. Dezember 1999 - Walter Zschokke
Der Begriff Novecento"leitet sich von den Jahrhundertbezeichnungen der italienischen Renaissance mit Quattrocento und Cinquecento her. Bestimmend ist die Ziffer des Hunderters. Das Novecento begann somit 1900 und endet heute. Die nordalpine Zählweise ist um ein Jahr verschoben und benötigt noch zwölf Monate, um das 20. Jahrhundert vollzumachen.
Jene, die schon immer gern vom Unerledigten ins Unabsehbare flüchteten, reden jedoch unverfroren vom Beginn des nächsten Jahrtausends. Als überzeugte Europäer dürfen wir jedenfalls in einem Jahr noch einmal von Herzen feiern. Daß die Werbeplaner diese doppelte Chance im Sinne eines Vorrohrkrepierers verjuxen, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus.

Doch bleiben wir bei der Architektur. Das Novecento startet mit lebensreformerischen Bestrebungen, dem Bruch mit Konventionen und der Besinnung auf frühbürgerliche Werte und Traditionen. Gestalter, Handwerk und Industrie finden sich in den Werkbünden und begründen das Industrial Design. Der Erste Weltkrieg mit den Schrecken von Grabenkampf und Gaskrieg erstickt die zarten Tendenzen. Angestauter sozialer Druck entlädt sich in Revolutionen.

In der Verzweiflung gedeiht der Glaube an absolute Lösungen, die Tabula rasa wird rechts und links zum beherrschenden Paradigma. Von Industrialisierung und Moderne überzeugte Gestalter propagieren den totalen Ersatz des Bisherigen durch den „modernen Zweckbau“. Die Bewahrer des Alten reagieren auch nicht zimperlich. Das flache Dach gilt als bolschewistisch. Vorsichtig reformerische Bestrebungen werden zerrieben.

Ein weiterer Weltkrieg und totalitäre Ideologien zerstören sowohl die Kultur des einzelnen durch Traumatisierung, Entwurzelung und Tod als auch die Kultur gewachsener Gemeinschaften durch Rassismus, Angriffskrieg und Massenmord. Der Bombenkrieg führt zu Architekturzerstörungen größten Ausmaßes. Diese Traumata behindern lange ein Wiedererstehen qualifizierter Architektur- kultur. Der Wiederaufbau erzwingt Pragmatismus, Mittelmaß herrscht vor. Es kommt zu einer abgeschwächten Weiterführung von Moderne wie Gegenmoderne. Beide Strömungen unterliegen dem Bauwirtschaftsfunktionalismus unter modernistischer Tünche.

Die zunehmende ökologische und demokratiepolitische Verunsicherung in den sechziger und siebziger Jahren provoziert ein Infragestellen unreflektierter modernistischer Dogmen und das Ausrufen der Postmoderne, die sich zwar in der Breite als formalistischer Flop erweist, aber ein Nebeneinander verschiedener Strömungen zuläßt, die teils untereinander in erbittertem Streit liegen und die Kämpfe der zwanziger und dreißiger Jahre noch einmal durchspielen. - Heute, am Ende des Novecento, gibt es einmal den relativ breiten Strom einer pragmatischen Weiterführung der Moderne, dem es weitgehend gelungen ist, die inhaltliche Kritik einzuarbeiten. Neben zahlreichen Einzelbauten sind da und dort ansehnliche Ensembles moderner Raum- und Gestaltauffassung entstanden.

Die Betonung der Konstruktion in High-Tech-Manier zeitigt einerseits attraktive Leichtbauten, welche die Einflüsse von Flugzeugbau und Seglerromantik nicht verleugnen. Das Material Glas hat im Novecento eine beispiellose technologische Entwicklung durchgemacht, die heute allgemein verbreitet ist. Doch findet sich zuweilen ein konstruktiver Formalismus, der unangenehm in den Vordergrund drängt.

Die Negation klassischer Konstruktionsprinzipien führt zu einem gegenteiligen Ausdruck. Allerdings erfordert gerade dies noch viel eingehendere fachliche Kenntnisse und enorme konstruktive Kreativität, da die Entwürfe ja „baubar“ gemacht werden müssen, ohne daß der Ausdruck des Unkonstruktiven, des Nichttragens, ja Unbelastetseins verlorengeht.
Relativ exakt auf Peter Zumthor - oder auf Tadao Ando - läßt sich eine Bewegung zurückführen, die das Wesen des Materials betont, Holz als Holz, Stein als Stein, Beton als Beton und sonst als nichts anderes zur Geltung bringen will. Wohldosiertes Pathos und gekonnte Auratisierung spielen eine gewichtige Rolle. Wie schmal dieser Pfad ist und wie rasch die Stimmung ins Peinliche oder gar Lächerliche abgleiten kann, führen uns gewisse epigonenhafte Großbüros in diszipliniert uninspirierter Weise vor.

Übertragung von Wirkungsweisen aus der Kunst, vornehmlich aus der Minimal Art, bestimmen eine weitere Richtung. Als „neue Einfachheit“ arbeitet sie mit dem Pathos von Sparsamkeit und der Auratisierung von Verzicht. Extrem anspruchsvoll in der Ausführung, erträgt sie nicht die geringste optische Störung, da diese sofort unerwünschte Bedeutung erlangen würde.
Seit den siebziger Jahren bewegt die Frage der Ökologie und der Nachhaltigkeit die Gemüter. Was als oft sektiererische Bewegung begann, ist heute tief in die Lehre von Konzeption und Detailkonstruktion eingedrungen. Auf den architektonischen Ausdruck kann dies Auswirkungen haben, ist aber nicht zwingend.

F ragen des verdeckten Energieverbrauchs und der Raumplanung werden wichtig. Das Nullenergiehaus auf dem Land bringt wenig, wenn zwei Erwachsene mit zwei Autos in die Stadt pendeln.

Neben diesen etablierten Strömungen finden sich da und dort experimentelle Tendenzen, die über formalistische Attitüden hinausreichen und an denen sich zeigt, daß die Debatte weitergeht.

In der zweiten Hälfte des Novecento wächst die Rolle der Medien bezüglich Information und Desinformation gewaltig an. Dabei soll nicht vergessen bleiben, daß sich Architektur am besten durch sich selbst vermittelt. Die Verselbständigung diverser medialer Wirklichkeiten, auch die der sogenannten virtuellen Architektur, zeigen nur umso deutlicher die Unersetzlichkeit der direkten Architekturerfahrung auf, die mit allen Sinnen, nicht bloß mit den Augen, erfolgt; wo nicht zuletzt reale Gebrauchsspuren vor dem Hintergrund kulturgeschichtlichen Wissens Bedeutung erlangen. Die neuen Medien kommen daher zu den bisherigen dazu und stehen mit diesen in Konkurrenz um Gunst und Zeitbudget des Publikums.
Da Gebautes eine längere Errichtungszeit voraussetzt und nicht pausenlos nach Opportunität veränderbar ist, ist Architektur nur bedingt populismus- tauglich. Man braucht sich daher nicht allzusehr zu sorgen, das aufgemotzte Pathos eines politischen Sattelbefehls ist kurzlebig. Architektur entfaltet ihre Breitenwirkung in nachhaltiger Verzögerung.

Wir sind also am Ende des Novecento angelangt. Als Bild dient uns eine Photographie des Theatersaals der Jesuiten, angefüllt mit dem Gerüst, das den provisorischen Boden für die Restaurierung der Deckenfresken trägt. Das dienende Raumgitter füllt den Großraum, macht Raum quasi sichtbar, neutralisiert ihn aber zugleich bezüglich seiner Benutzung. Das Gerüst gewinnt ästhetische Qualitäten. Der temporäre Zustand hat Dauer. Wir haben einen Zwischenstand vor uns. Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen.

Anstelle eines Ausblicks frage ich, was wir vom Novecento lernen können: Zuvörderst die Erkenntnis, daß das Prinzip der Tabula rasa nur selten zielführend ist. Das Neue leistet nicht vollständigen Ersatz des Bisherigen, es kommt vorerst einmal dazu, muß sich in der Praxis und unter sich verändernden Bedingungen bewähren, gegenüber noch neueren Ansätzen behaupten. Ein Prozeß, der weder logisch noch gerecht und ohne Garantien abläuft.

Soziale Fragen werden nicht mit Architektur gelöst, sondern müssen von der Politik vorbereitet werden und in taugliche Programme umgegossen werden. Die Architektur kann in der Folge Antworten anbieten. Vergessene Fragen und unterdrückte Antworten suchen sich dennoch ihre Räume, auch ohne Architekten. Es gilt daher vorab, die Bestellqualität auf Bauherrenseite zu verbessern und deren Verantwortlichkeit durch Repersonalisierung zu erhöhen.

Die immer wieder genährte Hoffnung auf einen „neuen Menschen“, der die neue Architektur richtig nutzt und empfindet, ist eine Illusion. Da wird auch Gentechnologie nicht weiterhelfen. Man wird mit Menschen, wie sie sind, arbeiten und kultivierend tätig sein. Nicht auf schnellen Vorteil bedacht, sondern auf nachhaltige Entwicklung. In der Rückschau wird man es dann Hochkultur nennen.

B edeutungen haften nur bedingt und zeitlich begrenzt an Formen und Bauwerken. Es ist die Nutzung, die ihnen mittelfristig ihre Bedeutung zuschreibt. Eine geistige Entideologisierung der Formen bietet daher neue gestalterische Freiräume, eine bewußte Übernahme von Formen samt Ideologie engt sie ein.

Nicht in Architekturzeitschriften sind neue Ideen zu suchen, sondern aus der Problemstellung heraus zu erarbeiten. Die Architekten sollen selber denken und nicht zirkelschließend im bedingten Reflex den Pawlowschen Hunden der Architekturkritik folgen. Radikalität oder Einfachheit sind nicht Qualitäten an sich. Eine Sache kann radikal falsch oder einfach dumm sein. Ob radikal oder behutsam richtig ist, folgt aus der Analyse der Aufgabe; ob ein Konzept einfach oder komplex sein soll, wird auch vom Kontext mitbestimmt.

Das Zwischenjahr mit den augenfälligen Nullen bietet somit genügend Stoff zum Überdenken - um dann weiterhin zu bauen.

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