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Alzheimer im Kollektiv
Alzheimer im Kollektiv, Foto: Gert Chesi
Spectrum

Städte existieren nicht zuletzt durch kollektive Erinnerung. Bei deren Überlieferung verschwindet Altes permanent hinter Neuem, Identität ist gefährdet. Wien leidet unter Symptomen progressiver Raumvergeßlichkeit: eine stadtneurologische Diagnose.

15. Januar 2000 - Walter Chramosta
Einmal gesetzt den Fall: Wien wäre eine weitreichende, wieder expandierende Stadt, Wien wäre also kein überblickbares, konzentrisches, Siedlungsgebilde mehr, sondern zu einer pulsierenden, in Großteilen unübersichtlichen, mancherorts sich anarchisch in die Region ausbreitenden Agglomeration im westeuropäischen Maßstab geworden.

Was würde ein solches hypothetisches, von manchem ersehntes radikalisiertes Wien noch mit dem heutigen verbinden? Was wären räumliche Kernbestände an Stadtidentität, die auch und gerade in einem solchen Stadtentwicklungsszenario mit höchster Dynamik unverzichtbar wären?

Wer wäre überhaupt aufgerufen, diese Identitätsreliquien zu deklarieren und sich für sie einzusetzen? Offenbar alle Bürger, unterstützt und angefeuert von wenigen Fachleuten, in einer öffentlich ausgetragenen Diskussion sich des Unverzichtbaren vergewissernd. Denn die Vorstellung von einer Stadt ist nur tragfähig, wenn sie Allgemeingut ist. Stadtidentität unterliegt der grundsätzlichen Kompetenz ihrer Bewohner. Stadtplanung kann die Rahmenbedingungen der Identitätsentwicklung setzen, vollzogen wird sie in den Köpfen der Bürger, in Schlüsselelementen präzisiert von Architekten.

Aldo Rossi, zu früh verstorben, als Architekt und Designer wie als Theoretiker und Lehrer einflußreich, hat sich mit den Entstehungsbedingungen der Stadt auseinandergesetzt und dabei „Architektur als städtebauliches Phänomen“ aufgefaßt, umgekehrt die Stadt schlechthin als Architektur verstanden, um sie einer kritischen Analyse zu unterziehen: „Kompositionsprinzipien und der Stil einer Architektur, wenn sie der Ausdruck für die politische und Kulturgeschichte einer Zeit sind, spielen auch für den Städtebau eine Rolle. Nur deshalb können wir von einer gotischen, einer barocken oder klassizistischen Stadt sprechen.“ Er geht in seiner 1973 auf deutsch erschienenen Schrift „Die Architektur der Stadt - Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen“, aus der diese Zitate stammen, davon aus, daß Stadt aus einer architektonischen Haltung, einem „Stil“, ableitbar ist, der „auf rationalen und daher lehrbaren Prinzipien“ beruht.
Rossi sah zwar die Gefahr, daß derart entstehende städtebauliche Phänomene zu „ästhetizistischen“ Lösungen verkommen, wenn sie „nicht den konkreten Gegebenheiten einer Stadtsituation“ entsprechen. Aber andererseits war er - zeitbedingt verständlich, aber deswegen heute nicht weniger relevant - von der begrenzten Leistungsfähigkeit technokratischer Stadtplanung überzeugt: „Denn bei der Stadtplanung im modernen Sinn versucht man eine homogene, koordinierte, zusammenhängende Umgebung zu schaffen, deren Gesetze, Motive und Ordnungsprinzipien sich nicht aus der historisch gewordenen Realität der bestehenden Stadt ergeben, sondern einen Plan dessen darstellen, wie die Stadt sein soll.“

A ldo Rossi weiter: „Derartige Stadtplanungsprinzipien mögen allenfalls angehen, wenn es sich um einen Stadtausschnitt, einen zusammenhängenden Gebäudekomplex handelt. Auf eine ganze Stadt angewandt führen sie zu keinem positiven Ergebnis, sondern zerstören häufig eine vorhandene Ordnung und damit die Kontinuität der Stadtgestalt.“

Bei aller Vorsicht, die die seit der Mitte der sechziger Jahre, als die Schrift entstand, eingetretenen Erkenntnisgewinne über stadtplanerische Methodik einbezieht, wird hier die Rossi folgende These vertreten, daß - zumindest in Wien - ein spezifisches Defizit an architektonischem, somit städtebaulichem Gedächtnis besteht. Sektorale Gedächtnisse der Gesellschaft sind derzeit ein haussierendes Desideratum in den Kulturwissenschaften, in Städtebau und Stadtforschung sind sie es noch nicht, obwohl längst vonnöten. Der warnende Verweis auf die Geschichte der Stadtarchitektur, auf die konkreten Entstehungsbedingungen von Stadt und Stadtteilen, ist nicht als Argument für einen historisierenden Umgang damit zu verstehen, als Akt ängstlicher Beharrung, der beschädigte Jahresringe städtischen Wachstums rekonstruiert wissen will. Vielmehr sollen radikalere Eingriffe in den Stadtkörper im Sinne der Kontinuität präziser argumentierbar werden.

Stadtplanung, also die Wahrung öffentlicher Interessen an der Stadt in Relation zu berechtigten privaten Anliegen, kann naturgemäß nicht zur Denkmalpflege verkürzt werden, sie darf rechtliche Normen und wirtschaftliches Kalkül nicht außer acht lassen, sie ist Ableitung aus einem politischen Konzept zu Raum und Gesellschaft, aber sie darf sich dabei nicht im Vertrauen auf das Neue der Geschichte entziehen. Letztere ist oft mühsamer wissenschaftlich zu verifizieren und baukünstlerisch zu würdigen, als sich von Stararchitekten den Flair der weiten Welt kurzschlüssig aufoktroyieren zu lassen. Ohne kritische, morphologisch-typologische Analyse der Stadtarchitektur, bleiben die übrigen eingeübten Felder heutiger Stadtplanung Fragment und Hindernis bei der Wahrung der Kontinuität der Stadtentwicklung.

Rossi hielt wegen der „Geschichtsträchtigkeit der Stadt die historische Methode für besonders geeignet, um jede Hypothese über sie zu prüfen“. Er sah zwei produktive Betrachtungsebenen von Stadt, mit der die Kontinuität als entscheidendes Merkmal der Stadtentwicklung entschlüsselbar ist: einerseits die materielle Ebene der Bauten, die von Fachdisziplinen wie Archäologie und Stadtbaugeschichte dokumentiert wird, andererseits die ideelle Ebene der Stadtvorstellungen, die durch „Kollektivimagination“ weitergetragen werden. Seine Darlegung gipfelt in der Gewißheit, daß „es eine Stadtidee von Athen, Rom, Konstantinopel oder Paris gibt, die mehr ist als eine physische Gestalt oder die historische Permanenz“.

S tadtideen wurzeln im Kollektivgedächtnis ihrer Bewohner; Rossi zitiert dazu Maurice Halbwachs: „Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich und paßt sich denjenigen materiellen Dingen an, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat. Das Bild des äußeren Milieus und der dauerhaften Beziehungen, die sie mit ihm unterhält, tritt in den Vordergrund der Vorstellung, die sie sich von sich selber macht.“

Diese Selbstbezüglichkeit des fortwährenden Stadtumbaus ist also an die Permanenz der mentalen Stadterneuerung gebunden. Der Bewohner muß und will wissen, was an der Stadt, die er schätzt, gut und behaltenswert ist, was die Qualitäten seines Lebensraums ausmacht und wo er für den unverzichtbaren Weiterbau der Stadt anknüpfen kann. Dieses kollektive Wissen über die Stadtstruktur, die per se „kollektiver Natur“ ist, also eine hinreichende Kenntnis der generellen Stadtidee, tradiert sich nicht von selbst. So wie man nicht davon ausgehen kann, daß die mündliche Überlieferung von Alltagsgeschichten eine offiziöse Geschichtsschreibung ersetzt, sondern nur die wissenschaftliche und persönliche Erschließung aus entgegengesetzter Richtung eine gesicherte Einsicht über historische Vorgänge zuläßt, so ist Gewißheit über Stadtbaugeschichte als Vorbedingung zur gelebten Stadtidee auf Forschung angewiesen.

Niemand wird in Wien noch den Rang der Ringstraße als unverzichtbare Stadtfigur bezweifeln. Ein beispielhaftes Opus magnum österreichischer Architekturhistoriographie unterlegt die mittlerweile populäre und damit andererseits auch wieder gefährliche Einschätzung, daß der Ring unantastbar ist. Wer alles behalten will, muß vieles ändern. Schon beim Gürtel, im Wiental, am Karlsplatz, am Donaukanal, also entlang der von Otto Wagner mit einer exemplarischen Planung verwirklichten Stadtbahn ist die Stadtidee diffus. Hermann Czech vermutet 1963: „Noch ein Jahrzehnt - dann wird die gesamte öffentliche Meinung hinter diesen Bauten stehen . . . Dann wird die Stadtbahn geschätzt werden als das, was sie ist: neben der Ringstraße die bedeutendste städtebauliche Leistung Wiens.“ Ende der neunziger Jahre ist klar: Diese Einschätzung ist nicht Allgemeingut geworden, oder vielmehr hat die nicht allein baulich lösbare Doppelnatur des Gürtels als Boulevard und als Stadtautobahn positive Bewertungen verdrängt.

Angesichts von situationistisch anmutenden, den Gürtel als klar geregelten Raumtyp befremdenden Vorhaben wie der Überdachung des Urban-Loritz-Platzes und der Errichtung der Hauptbibliothek ist mit Besorgnis zu diagnostizieren, daß das Kollektivgedächntis - zumindest zum Stadtbahnsystem und den begleitenden Räumen - von einer infektiösen, also epidemisch auftretenden Spielart des Morbus Alzheimer, der schleichenden Stadtvergeßlichkeit betroffen ist. Auch wenn Leopold Redl in einer 1988 begonnenen, nicht mehr vollendeten, gerade nun aktuellen Studie „Elemente der Stadt - Leitbild Wien“ feststellt: „Eine gültige Vision zur Stadt gibt es nicht . . . vielmehr vielfältige Strömungen die gleichzeitig bestehen: Moderne, Postmoderne, Rationalisten . . . die Stadt als Erlebnisraum, die segmentierte Stadt, die Stadt als Versorgungsmaschine, die Stadt als Erinnerung . . .“ - zumindest Teilstadtideen sind unverzichtbar und auch mit realistischem Aufwand zu generieren. Stadtsegmente hoher architektonischer Aufmerksamkeit wären zu definieren, zu untersuchen und die Erkenntnisse in die permanent praktizierte Stadtidee aufzunehmen.

Der Ernstfall ist gesetzt: Wien expandiert, der Gürtel ist spontan wichtig, aber keiner kennt ihn. Muß er erst eintreten?

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