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Suche nach der verlorenen Zeit
Neue Zürcher Zeitung

Ein Thema der zeitgenössischen Architekturtheorie

23. Dezember 1999 - Ursula Seibold-Bultmann
Friedrich Schellings Beschreibung der Architektur als erstarrte Musik hat laut häufigem Urteil lange zu einer verengten Wahrnehmung zeitlicher Dimensionen in Bauten und urbanen Gefügen beigetragen. Inzwischen gilt diesem Problem viel Interesse: So fand 1998 in Ankara ein internationaler Kongress zur Frage temporaler Faktoren in der heutigen Architektur statt. Die Ergebnisse liegen jetzt in einem Sammelband vor. «Anytime» - so der Buchtitel - heisst «jederzeit» und «irgendwann». Da entsteht der Verdacht des Beliebigen. Doch die Vorsilbe «any» dient dem Grossteil der Autoren weniger als erkenntnistheoretischer Weichzeichner denn als heuristisches Werkzeug. Der Städteplaner Ilhan Tekeli (Ankara) betont das am klarsten, indem er in seinem Beitrag fragt, bis zu welchem Grad das intellektuelle Experiment einer Entspezifizierung von Zeit produktive Distanz zu bestehender Gesellschaftsordnung und Architekturpraxis schafft.

Wo der Glaube der Moderne an Kausalität und Fortschritt zusehends von einer Sensibilität für das Zufällige und Unvorhersagbare abgelöst werde, öffne - so Tekeli - eine «anyfication of the future» Raum für soziale und gestalterische Neuerungen, die es zu entwickeln gelte. Für die Architektur avisiert er eine offene Dynamisierung bei Erhalt gewisser statischer Elemente. So böten sich künftig die Verwendung austauschbarer Symbole am Bau oder ein Geflecht wandelbarer Bezüge zwischen den einzelnen Gebäuden eines Komplexes an; zudem liesse sich an Architektur denken, die per se einen ständigen Wandel späterer Interpretationen nahelegt.

«Any» steht aber nicht nur für postmoderne Ideen, sondern zugleich als Akronym für «Architecture New York». Bei der für «Anytime» verantwortlichen Anyone Corporation handelt es sich um eine Organisation, die - von Peter Eisenman präsidiert - den Platz neuer Architektur in ihrem kulturellen Umfeld zur Diskussion stellt. Das geschieht mit der Zeitschrift «Any», mit Buchpublikationen und mit einer Serie von zehn interdisziplinären Kongressen («Anytime» war der achte). In früheren Jahren ging es um Begriffe wie «Anyplace» oder «Anybody»; zum Abschluss der Reihe steht vom 1. bis zum 3. 6. 2000 in New York «Anything» auf dem Programm.

Führt der Zusammenprall der Kulturen heute zur Herausbildung neuer Zeitbegriffe? Formt sich im Zuge ökonomischer Globalisierung eine transkulturelle Zeit, oder kollabiert jeglicher einheitliche Zeitbegriff in virtuellen Räumen? Und welchen Einfluss haben solche Fragen und mögliche Antworten auf die Architektur? In Ankara folgten auf thematisch gebündelte Beiträge von Architekten sowie Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaftern zu verschiedenen Aspekten des Zeit-Sujets fünf kontroverse Diskussionen, die ediert auch in das Buch eingingen. So präsentieren Bernard Tschumi und der Philosoph John Rajchman ihre heiklen Ansätze zu einer Herauslösung des Erlebens von Zeit aus einer vorgängigen Verankerung in Geschichte, Religion oder in narrativen Entwürfen. Charles Jencks hingegen versteht letztere als «the human shape of time» und geht wie schon in seinem Buch «The Architecture of the Jumping Universe» von der Geschichte des Kosmos als ein alle anderen Erzählungen umspannendes Meta-Narrativ aus, auf das sich auch die Architektur beziehen lasse. Zaha Hadid verweist unterdessen für ihr «Hong Kong Peak»-Projekt und ihren Entwurf für das Museum für islamische Kunst in Katar auf geologische Zeiträume.

Menschliches Leben oszilliert zwischen vielen zeitlichen Ebenen: etwa solchen mit biologischen, astronomischen oder metaphysischen Parametern. Daran erinnert die Malerin Jale Erzen (Ankara). Die Suche nach Alternativen zu rein quantitativ verstandener Zeit sowie zu einer ausschliesslich abstrakt-linearen Zeitvorstellung eint viele der Autoren. Zeit kann aber nicht nur als Voraussetzung und Korrelat räumlicher Erfahrung verstanden werden, sondern überdies als Erzeugerin neuer Formen und Formsequenzen. Mark Goulthorpes experimentelle Linienkonfigurationen gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie Greg Lynns fliessende Formrhythmen, die von biologischen Prozessen inspiriert sind. Doch auch die für den Betrachter unüberschaubaren Niveauunterschiede in der Grundfläche von Eisenmans geplantem Berliner Holocaust- Mahnmal und ihre Spannung zur unterschiedlichen Höhe der darauf angeordneten Betonstelen werden vor diesem Hintergrund begreifbar: Der Architekt erklärt, wie im Raum zwischen den Stelen eine zeitlich unfixierbare Zone entsteht.

Ergab der Kongress trotz seinem Schwerpunkt bei Theoriedebatten auch Argumente für die politische Praxis? Man findet da einiges: Der New Yorker Architekt Michael Sorkin etwa begründet seinen Ruf nach Privilegierung optimal energiesparender und damit zwangsläufig langsamer Fortbewegungsarten als Ziel künftiger Verkehrsplanung mit einem ethischen Anspruch aller Bürger auf gerechte Verteilung von Zeit. Angesichts der Fülle von Anregungen, die «Anytime» bietet, wird man das unscharfe Vorwort des Buches, seinen Mangel an Systematik und den modischen Gestus einzelner Autoren nicht allzu übel nehmen.

Ursula Seibold-Bultmann

[ Anytime. Hrsg. Cynthia C. Davidson. MIT Press, Cambridge/Mass. und London 1999. 296 S., £ 24.50. Im Internet firmiert «Anyone» unter http://www.anycorp.com/ ]

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