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Die Engel fliegen in Spiralen, der Teufel nur geradeaus
Der Standard

Francesco Borromini war der Dekonstruktivist des Barock. Seine Architekturen scheinen zu singen, er selbst beging Selbstmord. Eine Ausstellung dokumentiert Leben und Werk des depressiven Barockgenies.

24. Dezember 1999 - Ute Woltron
Alles an dieser Kirchenfassade war falsch. Zum Beispiel die Türme. Sie begannen über dem Erdgeschoss viereckig, wie es sich gehört, doch weiter oben endeten sie rund. Dazwischen ein eigenartiges Gesimse mit Schwüngen und Auskragungen. Oder die Seitenportale. Die umgab eine besonders seltsame Einfassung, die sich bis über die ovalen Fenster darüber stülpte. Aber all das war nichts im Vergleich zum gesamten Aufbau der Angelegenheit, denn die Fassade krümmte und bog sich wider jeder Architekturgesetzmäßigkeit. Die Bürger Roms des Jahres 1653 staunten. War so etwas schon da gewesen?

Nein, war es nicht. Ein gewisser Francesco Borromini hatte der Piazza Navona gerade eine Kirche verpasst, wie sie Gott und die Welt noch nicht gesehen hatten. Die einzelnen Architekturelemente, Säulen, Gesimse, Pfeiler, Kuppeln, die sich hier zum Gotteshaus der Santa Agnese verklärten, waren bekannt. Die Baumeister der Antike hatten sie erfunden, die Künstler der Renaissance wieder ausgegraben und nach dem Verständnis ihrer Zeit raffiniert. Doch nun, hundertfünfzig Jahre später, war der Tessiner Baumeister und Bildhauer Borromini (1599-1667) dahergekommen, hatte all das in die Luft gesprengt und in locker leichter Komposition wieder herniederrieseln lassen.

Seine Zeitgenossen standen dem üppig-extravaganten, reich geschwungenen und verzierten Werk des Meisters meist zweifelnd gegenüber. Der Begriff „Barock“ war noch nicht erfunden; was man hier sah, war die extreme Ausformung einer neuen Strömung, die gerade im Begriff war, ganz Italien zu erfassen. Die Wohlwollenderen versuchten zu verstehen, die Bösartigeren zerrissen sich das Maul, und die meisten zogen dem - angeblich - verschlossenen, depressiven Finsterling Borromini seinen diplomatisch geschliffenen Erzkonkurrenten Lorenzo Bernini vor.

Bernini! Der Sargnagel des Borromini. Sie beide buhlten im Rom des 17. Jahrhunderts um die Gunst der Päpste und deren wohlgefüllte Schatullen. Bernini, der Geschicktere der beiden, gewann. Aus den ehemaligen Freunden wurden Feinde. Bernini durfte mit den Kolonnaden auf dem Petersplatz das Hauptwerk des Italienischen Barock schaffen. Borromini, der räumlich wahrscheinlich Talentiertere von beiden, auf jeden Fall aber der Belesenere, Gebildetere und Extremere, fühlte sich verkannt und beging 1667 Selbstmord, indem er sich in sein Schwert stürzte. Eine griechische Tragödie vor der Kulisse katholischer Üppigkeit des 17. Jahrhunderts.

Vor seinem Freitod hatte der missachtete Avantgardist sorgfältig alle Pläne, Skizzen und Architekturzeichnungen verbrannt, die er in seinem Haus über dem Tiber aufbewahrt hatte. Zum Glück für die Nachwelt handelte es sich dabei nur um einen geringen Teil seines zweidimensionalen Baumeisterwerks. Viele Skizzenblätter Borrominis blieben erhalten, der Großteil davon lagert heute wohlbehütet in der Graphischen Sammlung der Albertina in Wien. Anlässlich des Jubiläumsjahres - der Barockarchitekt wäre heuer im September 400 Jahre alt geworden - reiste dieser Skizzenschatz nun nach Rom zurück, wo er seit vergangener Woche im Rahmen einer großangelegten Borromini-Ausstellung im Palazzo delle Esposizioni gezeigt wird.

Die Schau „Borromini und das barocke Universum“ ist noch bis 21. Februar kommenden Jahres geöffnet und versucht, das Phänomen Borromini anhand seiner Zeit und seiner Zeitgenossen zu erfassen. Zu sehen sind nicht nur rund 250 Originalzeichnungen des Architekten, sondern auch Architekturmodelle, 1:1-Abgüsse, Porträts und eine Vielzahl dreidimensionaler Computerzeichnungen, die dem Betrachter die kühnen Raumkonstruktionen und Raumabfolgen gebauter, aber auch unausgeführter Projekte Borrominis näherbringen wollen. Alte Architektur wird hier mit hochmodernen Mitteln aktuell aufbereitet.

Im April 2000 wird die Ausstellung nach Wien übersiedeln, wo sie bis 25. Juni in der Albertina zu sehen ist. Parallel dazu findet eine Reihe von Forschungsaktivitäten statt, die das Werk dieses seltsamen, nur mangelhaft dokumentierten und so schwer zu greifenden Künstlers zum Zentrum haben.

Am Leben Borrominis und seinen symbolreichen, verschlüsselten Gebäuden kiefeln bereits Generationen von Kunstgeschichtlern. Im Gegensatz zu Bernini, dessen Vita als Leiter der Bauhütte von St. Peter und somit wichtigster Architekt Roms fast lückenlos dokumentiert ist, weiß man über Borrominis Lebenslauf nur Ungenaues. Fest steht, dass er am 27. September als Francesco Castelli in Bissone am Luganersee geboren wurde. Ob sein Vater allerdings wirklich als Architekt im Dienste der Visconti in Mailand stand, wie Borromini später angab, oder ob er sich doch eher als Wasserbautechniker verdingte, ist nicht gesichert. Wie auch immer - Borromini entstammte jedenfalls einem Geschlecht von Steinmetzen und Bildhauern, und als solcher wurde auch er ausgebildet.

Mit neun Jahren kam er zu diesem Zweck an die Dombauhütte von Mailand, mit Zwanzig reiste er zur wohl wichtigsten Bildhauerwerkstatt seiner Zeit, zur Bauhütte von St. Peter in Rom. Die leitete sein Verwandter Carlo Maderno, und unter dessen Führung arbeitete der junge Borromini Hand in Hand mit dem jungen Bernini am Palazzo Barberini sowie am Baldachin von Sankt Peter. Doch nicht Borromini, sondern Bernini beerbte den Meister der Bauhütte, und ein lebenslanger erbitterter Konkurrenzkampf begann. Die wichtigsten Auftraggeber der damaligen Zeit waren naturgemäß die Päpste. Der regierende Kirchenfürst Papst Urban VIII. Barberini favorisierte Bernini.

Erst 1644, als ihm Papst Innozenz X. Pamphilij nachfolgte und Borromini zum Günstling erklärte, brach dessen goldenes Zeitalter an. Er wurde mit dem Umbau von San Giovanni in Laterano beauftragt und entwarf ein ganzes Gebäudeensemble für den Papst an der Piazza Navona, von den Römern rasch „Forum Pamphilium“ genannt.

Eines der wohl wichtigsten Werke Borrominis stammt ebenfalls aus dieser Zeit: Die Kirche von Sant'Ivo alla Sapienzia schließt mit einer extrem komplizierten Kuppelkonstruktion ab, über der sich eine spiralförmige Laterne in den Himmel schraubt. Was, fragen sich Kunsthistoriker seit Jahrhunderten, wollte er uns damit sagen? Handelt es sich um eine Anspielung auf die geschraubten Säulen des Tempels Salomos, ist es ein Zitat des Turmes von Babel? Und welche Rolle spielt die Heiliggeisttaube in der Mitte? Die Bedeutungen der vielen Symbole, mit denen Borromini seine hochkomplizierten, die ausführenden Baumeister zur Verzweiflung bringenden Konstruktionen bestückte - von der wie nebenbei angebrachten Eidechse über kecke Eselsohren bis zum herausfordernd emporgereckten Phallus - werden sich wohl nie mehr vollends offenbaren.

Als 1655 Alexander VII. Chigi zum Papst gewählt wurde, war Borrominis kurze Hochzeit vorbei. Erzrivale Bernini übernahm wieder die Macht um die Stellung als wichtigster Architekt der Christenheit, Borromini blieben die Brosamen privater Stifter und adeliger Auftraggeber. Er verkraftete die Demütigungen nicht und brachte sich schließlich um.

Für die Nachwelt bleibt er rätselhaft. „Krankhaft“ nannte ihn die klassische Kunstgeschichte, „wunderlich“, „ungewöhnlich“ und von „lästiger Unklarheit“. Warum, das liegt auf der Hand: Borromini verstieß gegen Konventionen, brach mit Theorien, sprengte die Architektur zu einer neuen Form. Heute gilt er als wichtigstes Barock-Vorbild des mitteleuropäischen Raumes. Doch so geht es meistens in Kunst und Architektur. Die Wilden, Ungezähmten, die Vordenker werden erst verspottet und gehöhnt. „Die Engel“, hatte Hildegard von Bingen gesagt, „fliegen in Spiralen, der Teufel nur geradeaus.“

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