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Nordische Mythen
Neue Zürcher Zeitung

Finnische Architektur des 20. Jahrhunderts in Frankfurt

Einen Überblick über die Architektur Finnlands im 20. Jahrhundert bietet zurzeit eine Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt am Main. So gehaltvoll das Gezeigte auch ist, der Veranstaltung fehlt doch ein überzeugendes Konzept, das den Besuchern helfen würde, das Gesehene in einen grösseren baukünstlerischen Kontext einzuordnen.

3. Februar 2000 - Christoph Affentranger
Im Rahmen seiner Veranstaltungsreihe zur Architektur des 20. Jahrhunderts zeigt das Deutsche Architektur-Museum (DAM) in Frankfurt gegenwärtig einen Überblick über das baukünstlerische Schaffen in Finnland in Form einer Perlenkette von Meisterwerken: Mehr als 140 Bauten und Projekte werden mittels Originalzeichnungen, Modellen und vieler sehr guter Photos auf allen vier Geschossen des DAM präsentiert. Die Auswahl ist ausgewogen - wenn auch mit einem leichten Übergewicht von Beispielen aus den achtziger und neunziger Jahren. Diese Ausgewogenheit ist nicht ganz selbstverständlich, war doch die Integration der Ikonen Alvar Aaltos keine einfache Sache. Wer allerdings Erklärungen und Hintergrundinformationen zum Gezeigten erwartet, wird enttäuscht. Kleingeschriebene Texte erläutern zwar mitunter Einzelbauten oder das Lebenswerk einzelner Architekten. Auch sind poetische Notizen von Erkki Kairamo oder sachliche Überlegungen zur Architektur von Marja-Riitta Norri zu lesen, doch gehen die wenigen Worte in der Flut der Bilder und Modelle völlig unter. Weder erfährt man etwas über die weltweite Ausstrahlung finnischer Architektur, noch wird deren mit dem Werk Aaltos eng verbundener Mythos hinterfragt.

Damit wurde nicht zuletzt die Gelegenheit verpasst, Aaltos Schaffen im Quervergleich die richtigen Proportionen zu verleihen. Mitunter lassen die Bilder und Modelle gewisse Bezüge erahnen, doch ein mit der finnischen Architektur nicht wirklich vertrauter Besucher kann sie kaum nachvollziehen. Ob hier der Katalog die nötigen Ergänzungen nachreichen kann, wird sich Anfang Februar erweisen, wenn er - wie andere Kataloge dieser Länderreihe - mit Verspätung erscheinen wird. Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass sich viele Photos und Modelle auf Grund der spärlichen Beschriftungen kaum zuordnen lassen und in einzelnen Fällen Beschriftungen fehlen oder ganz einfach falsch sind. Zieht man den Vergleich mit früheren Ausstellungen dieses Zyklus, so wird man den Eindruck nicht los, dass den Machern die Lust an einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Thema fehlte.

Allein an den finanziellen Schwierigkeiten, unter denen das DAM seit Jahren leidet, kann es diesmal nicht gelegen haben, wurde die Ausstellung doch von Finnland mitgetragen und zusammen mit dem 1956 gegründeten Finnischen Architekturmuseum, dem zweitältesten seiner Art weltweit, organisiert. Dieses Museum, das immer wieder mit gut aufgemachten und inhaltlich überzeugenden Ausstellungen auf sich aufmerksam gemacht hat und im Besitze eines umfassenden Archivs mit Nachlässen und Bildmaterial zur finnischen Architektur ist, wird im Frühjahr die Ausstellung von Frankfurt übernehmen.


Suche nach Identität

Gerade im Falle Finnlands wäre der Versuch, Architektur in den Kontext von Geschichte und Landschaft einer Nation zu setzen, relativ einfach zu bewerkstelligen gewesen. So hätte dem Publikum gezeigt werden können, weshalb sich in den vergangenen 100 Jahren eine derart selbständige, in sich geschlossene Baukultur entwickeln und halten konnte. Die moderne Geschichte Finnlands beginnt im Jahre 1809, als das damalige schwedische Grossherzogtum an Russland fiel. Daraus resultierte für die Finnen eine langwierige Suche nach der eigenen Identität, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert erste Blüten trieb: Der Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1900, ein Wettbewerbserfolg der jungen Architekten Herman Gesellius, Armas Lindgren und Eliel Saarinen, kann zusammen mit den Kompositionen von Jan Sibelius und den Gemälden von Akseli Gallen-Kallela (dessen «Nybygge» kommentarlos an den Anfang der Frankfurter Schau gestellt wurde) als Auftakt zu einer weltweit wahrgenommenen kulturellen Eigenständigkeit betrachtet werden. Die Zeit der Nationalromantik und des Jugendstils endete mit dem Ersten Weltkrieg schlagartig. Lenin anerkannte 1917 die Unabhängigkeit Finnlands, was nach heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und Bürgerlichen 1919 zur bis heutige gültigen Verfassung führte.

Abgesehen von einem eklektizistischen Zwischenspiel triumphierte zwischen den Weltkriegen die finnische Moderne. Die Arbeiten von J. S. Sirén (Parlamentsgebäude, 1931), Pauli Blomsted (Bank in Kotka), Erkki Huttunen (Industriebau in Oulu) und Erik Bryggman, vor allem aber von Alvar und Aino Aalto (u. a. das Sanatorium in Paimio, 1932, und die Bibliothek in Viipuri, 1935) sind dieser Periode zuzuordnen. Der Zweite Weltkrieg begann für die Finnen 1939 mit dem ersten Winterkrieg, in dem sie sich gegen die angreifenden Sowjettruppen zur Wehr setzten, den Verlust Kareliens aber nicht verhindern konnten. Für das Land bedeutete dies eine schwere Belastung, mussten doch für Tausende von Flüchtlingen in Windeseile neue Wohnungen errichtet werden. Zwar konnten im zweiten Winterkrieg die verlorengegangenen Gebiete mit deutscher Hilfe kurzfristig zurückerobert werden, doch Finnland ging aus dem Krieg als Verlierer hervor und musste 1955 nicht nur den endgültigen Verlust Kareliens hinnehmen, sondern zusammen mit enormen Reparationszahlungen auch die sowjetische Besatzung gewisser Gebiete. Dazu kam der Wiederaufbau von ganz Lappland, das von den Deutschen auf ihrem Rückzug mit einer Politik der verbrannten Erde überzogen wurde.


Soziales und kulturelles Engagement

Die Zeit vom Weltkrieg bis in die sechziger Jahre war geprägt von einem hochtechnisierten Wohnungsbau. Gleichzeitig entstanden moderne Infrastrukturen mit Schulen, Universitäten, Bürohäusern, Fabriken und Kulturbauten. Aalto, Viljo Revell, Arne Ruusuvuori, Aulis Blomstedt, Reima und Raili Pietilä, Aarne Ervi sowie Kaija und Heikki Sirén sind einige der wichtigsten Vertreter dieser Zeit, deren Werke auch im Ausland mit grossem Interesse wahrgenommen wurden. Umgekehrt setzten sich die Finnen mit den neusten internationalen Tendenzen auseinander. Dabei entstanden keine Kopien, sondern immer wieder eigenständige Lösungen. Trotz schwierigen Umständen blieb auch in der Nachkriegszeit die Baukultur Träger der nationalen Identität, wenn auch nicht mehr so offensichtlich wie einst. In einem Land, in dem fast 90 Prozent der Gebäude nach 1917 entstanden sind, musste der Architektur im Zusammenklang mit Licht und Landschaft bei der Schaffung eines Ortes eine zentrale Rolle zukommen. Insofern steht in Finnland Neues dem Alten nicht als etwas Verdrängendes, Ablösendes gegenüber; vielmehr versteht es sich primär als die Fortsetzung einer langen Linie.

Nur so lässt sich erklären, weshalb auch in Werken der jüngsten Generation, etwa in dem von Studenten der Gruppe Monark entworfenen finnischen Pavillon in Sevilla oder in der kürzlich eröffneten finnischen Botschaft in Berlin, für die ebenfalls eine Gruppe von Studenten verantwortlich zeichnet (beide Arbeiten gingen aus Wettbewerben hervor), sich immer wieder Bezüge zur Landschaft und Kultur Finnlands finden lassen. Und nur aus dem Verständnis für eine Baukultur als Hort der nationalen Identität heraus lässt es sich erklären, dass in Finnland Architektur bis heute als Teil der auch politisch zu fördernden Kultur verstanden wird. Diese politischen und historischen Faktoren werden in der Ausstellung nicht erklärt, als gebaute Spuren aber lassen sie sich dank der guten Auswahl der Projekte sehr wohl nachvollziehen.


[ Bis 27. Februar im DAM in Frankfurt, anschliessend im Finnischen Architekturmuseum in Helsinki. Katalog: Finland. 20th Century Architecture. Englisch. Hrsg. Marja-Riitta Norri, Elina Standertskjöld, Wilfried Wang. Prestel-Verlag, München 2000. 380 S., Fr. 179.- (erscheint in den ersten Februartagen). ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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