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Ende einer Utopie des modernen Wohnungsbaus
Neue Zürcher Zeitung

Abbruch von Problembauten als Programm der sozialen Stadtentwicklung in Chicago

4. Februar 2000 - Philipp Meuser
Wie nach einem Atomschlag sieht es zwischen den verlassenen Blöcken zwar nicht aus, doch unwirtlicher könnte sich die einst intakte Nachbarschaft im Schatten des Sears Tower kaum präsentieren. Fünf Autominuten von downtown Chicago entfernt offenbart sich das dunkelste Kapitel der lokalen Stadtentwicklung: die Robert Taylor Homes, bis vor kurzem Heimat von knapp 20 000 Sozialhilfeempfängern. Nach der Theorie der funktionalen Stadt wurden die 16stöckigen Hochhäuser Anfang der sechziger Jahre entlang der South State Street errichtet. Keine vierzig Jahre später werden nun die «Sozialpaläste» abgerissen; die Hälfte von ihnen ist bereits geräumt und von Bauzäunen umzingelt. Chicago will die Armut aus dem Stadtbild ausradieren.


Chicago als Versuchslabor

Der Untergang einer längst überholten Utopie begann im Dezember 1998. Was Chicago an jenem Wintermorgen erlebte, steht beispielhaft für eine neue Strategie auf dem amerikanischen Wohnungsmarkt: Die Sozialburgen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Boston und Los Angeles hoffnungsvoll aus dem Boden wuchsen, haben ausgedient und werden - wie schon 1972 Minoru Yamasakis Siedlung Pruitt Igoe in Saint Louis - gesprengt. In den nächsten drei Jahren will das Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung rund 100 000 Sozialwohnungen abreissen. Damit stirbt eine Vision, die das soziale Leitbild für eine ganze Generation darstellte: staatliche Wohnungsfürsorge als Garant für ein sorgenfreies Leben. Denn aus den einst gepflegten Nachbarschaften sind im ganzen Land Ghettos geworden, auch in Chicago.

Seit die Mieter an der South State Street mitunter recht widerwillig ausziehen, werden die Fenster mit roten Brettern vernagelt. Übrig bleiben leblose Baukörper, denen man eine schnelle Sprengung wünscht. Jenen Bewohnern, die sich erfolgreich gegen eine Umquartierung in einen anderen Stadtteil gewehrt haben, hat die zuständige Wohnungsbehörde drei Blöcke vorbehalten, die sich U-förmig um einen neu gestalteten Hof mit Rasen und Spielgeräten gruppieren. Dort ist das gesamte Gelände mit einem neuen Zaun und Pförtnerhaus versehen, so dass unkontrollierte Besuche und Lieferungen von Waffen und Drogen - zuvor bitterer Alltag - unmöglich sind. Über den Hauszugängen weisen Schilder auf Metalldetektoren hin, die jeden Besucher automatisch scannen. Und ganz in der Nähe hat die Polizei einen Fuhrpark eingerichtet. Seitdem übt sie permanente Präsenz.

Die Szenerie vor der Silhouette von Chicago ist grotesk. Denn die abgestorbenen Wohnzellen werden von zweigeschossigen Villen gesäumt, die vor mehr als achtzig Jahren errichtet und schon vor Jahrzehnten verlassen wurden. Die Stadtgeschichte Chicagos ist hier in der Near South Side eine Zerstörungs- und Abrissgeschichte. Bis in die fünfziger Jahre war die Nachbarschaft noch gutbürgerlich - und mehrheitlich von Weissen bewohnt. Doch mit dem sozialen Wohnungsbau, der in Chicago unweit vom Geschäftszentrum realisiert wurde, verfielen die einst intakten Viertel nach und nach. Aus dem Süden zogen ärmere - zumeist farbige - Bevölkerungsgruppen Richtung Norden. Downtown Chicago, Synonym für wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung, war nur noch durch Industrie- und Gleisanlagen von der neuen Wohngegend getrennt. Doch was für die sozial schwächeren Migranten einen emanzipatorischen Sieg im Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung darstellte, stürzte die Mittelschicht in eine Identitätskrise. Aus dem niedlichen Vorort Chicagos war eine Übergangsstation für Sozialhilfeempfänger geworden. Wer es sich von den Alteingesessenen leisten konnte, verliess seine angestammte Nachbarschaft und zog weg.


Stadtgeschichte als Abrissgeschichte

Diesen Exodus durchlebten vor allem die Robert Taylor Homes. Als grösstes Sozialquartier, das je in den USA errichtet wurde, zählte es 1962 nach seiner Fertigstellung 4200 Wohnungen. Doch auch hier musste die Utopie bald begraben werden, ärmere Bürger durch die temporäre Einquartierung in eine Wohnung mit Heizung, Strom und fliessendem Wasser auf ein geregeltes Leben in der Grossstadt vorbereiten zu können. Das ambitiöse Projekt sollte sich in einen sozialen Bumerang verwandeln: Bald schon wurden die ursprünglichen Pauschalmieten den Einkommen ihrer Bewohner angepasst. Wer arbeitete, musste nun mehr für seine eigenen vier Wände zahlen; wer von der Sozialhilfe lebte, profitierte weiterhin von den Billigmieten. Die amerikanische Variante der deutschen «Fehlbelegungsabgabe» vertrieb die Besserverdienenden innerhalb weniger Jahre. Zurück blieben nur die Schwächsten.

Die Chicago Housing Authority (CHA) musste einsehen, dass Stadtplanung als kollektives Erziehungsinstrument ungeeignet war. Die Folgen waren in der gesamten Umgebung zu spüren. Innerhalb von vierzig Jahren sank die Einwohnerzahl der sogenannten Douglas and Grand Boulevard Communities von knapp 200 000 Personen auf weniger als ein Drittel. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt die Angst vor der hohen Kriminalität, die bis heute von den Sozialghettos ausgeht. Auf diese Weise entwickelte sich die gesamte South Side zu einem städtebaulichen Bermudadreieck, in dem die Bürgerhäuser nach und nach aus dem Stadtbild verschwanden. Sie wurden verlassen, geplündert oder gar abgebrannt.


Vorbildliche Sprengung

Auch wenn der Abriss von Sozialwohnungen in Europa immer wieder zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit führt, gilt die Methode der kommunalen Wohnungsverwaltung in Chicago als vorbildlich. Die Stadtplaner haben erkannt, dass die Ästhetik des Stadtbildes wesentlich zur Wohnqualität beiträgt. Hässliche Gebäude werden von der CHA aus dem Stadtgrundriss ausradiert. Seit 1996 geschah dies knapp 70 Mal; bis 2003 sollen weitere zwanzig Standorte folgen. Für die Umsiedlung der knapp 20 000 Betroffenen sind sogenannte Relocation Manager zuständig. Ein fünfköpfiges Team der CHA muss dabei zunächst Nachhilfeunterricht im Umgang mit der Verwaltung leisten. Denn die Erfahrung der Bewohner mit Behörden reicht in der Regel nicht über Kontakte mit dem Sozialamt oder der Polizei hinaus. Für diejenigen, die auf dem freien Wohnungsmarkt eine Bleibe finden wollen, stellt die Wohnungsbehörde ein offizielles Zertifikat aus. Dieses Ticket in ein neues Leben garantiert dem Vermieter, dass die CHA für sämtliche Kosten aufkommt, die über die vom Bewohner zu zahlende Sozialmiete hinausgehen. Wer bis vor kurzem noch in einer verdreckten Kammer lebte, geniesst heute einen bescheidenen Luxus - selbst wenn dieser nur darin besteht, auf die aufwendige Sicherheitstechnik am Türschloss verzichten zu können oder im Vorgarten grünen Rasen und Blumenbeete pflegen zu dürfen.

Doch der gesellschaftliche Aufstieg hat seinen Preis: Während sich die 16stöckigen Wohnsilos der Robert Taylor Homes in den vergangenen 40 Jahren zu regelrechten Familien-Clustern entwickelt haben - nicht selten leben bis zu 50 Verwandte unter einem Dach -, droht den Umsiedlern in ihrer neuen Nachbarschaft die Vereinsamung. Betroffen sind davon vor allem die jungen Mütter, die in der Bewohnerstruktur die grösste Gruppe einnehmen: In den Mieterlisten der CHA sind zu über 80 Prozent Frauen eingetragen. Dass bereits 22jährige drei und mehr Kinder von verschiedenen Vätern haben, ist keine Seltenheit, sondern Ausdruck für die völlige Auflösung traditioneller Lebensformen. In der vaterlosen Gesellschaft zählen deshalb Tanten, Cousinen, Grossmütter und Mütter, die in derselben Etage oder wenige Stockwerke entfernt wohnen, zu den eigentlichen sozialen Stützen. Probleme bereitet der CHA daher auch, die Bewohner von den Vorteilen einer neuen, sauberen und sicheren Wohnung zu überzeugen. Schliesslich ist es Teil der Strategie, die Bewohner dezentral auf die gesamte Stadt zu verteilen. Und dazu zählt auch die Integration der Umsiedler in das Sozialgefüge der neuen Nachbarschaft.

In den Jahren 1960 bis 1962 wurden die anonymen Blocks aus gelben und roten Ziegeln an der South Michigan Avenue von den Architekten Shaw, Metz & Associates parallel zum Interstate Highway errichtet. Benannt wurde das neue Wohnviertel nach dem ersten farbigen Präsidenten des CHA, Robert Taylor. Die Auswahl dieses Namens hätte allerdings ironischer kaum ausfallen können. Während sich Taylor in seinen Dienstjahren 1943 bis 1950 stets für die Integration der schwarzen Bevölkerung in weissen Nachbarschaften eingesetzt hatte, förderte sein Nachfolger im CHA-Amt und zugleich Bürgermeister, Richard J. Daley, die Entflechtung der Bevölkerung. In Chicago entstand mit den Robert Taylor Homes die grösste Sozialsiedlung in den USA. Sie blieb bis heute ohne Nachahmung.

Aber statt für eine ethnische Mischung steht der Name bis heute für die urbane Ghettoisierung im Süden von downtown Chicago - unmittelbar südlich des renommierten Illinois Institute of Technologie (IIT), wo die Theorie des neuen Städtebaus seinerzeit in konkrete Architektur umgesetzt wurde. Ein planerisches Eigentor: Die Eliteschule IIT liegt heute inmitten eines sozialen Schlachtfeldes und städtebaulichen Niemandslandes, das Rem Koolhaas durch ein kombiniertes Studentenzentrum mit Bahnstation aufwerten will. Einen Steinwurf entfernt hat die Chicagoer Polizei bereits ein neues Headquarter eingerichtet. Seitdem fahren auch Taxifahrer wieder ohne Zögern Richtung Süden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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