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Informelles Stadtdesign
Neue Zürcher Zeitung

Die Weltkonferenz zur globalen Verstädterung, «Urban 21»

Das Fachgespräch über Stadtentwicklung wird heute global geführt. «Urban 21», die Anfang Juli in Berlin veranstaltete Weltkonferenz über die Zukunft der Städte, wollte als Folgeveranstaltung von «Rio» und von «Habitat II» in Istanbul nicht nur eine Diskussion über Stadtentwicklung auslösen, sondern auch die Basis legen für kommende Entscheide der Uno, die mithelfen könnten, die Urbanisierung in erfolgversprechende Bahnen zu lenken.

4. August 2000 - Ursula Rellstab
Im Städtebau gilt wieder: «Small is beautiful.» Der Mensch rückt erneut ins Zentrum. Partizipation und Hilfe zur Selbsthilfe feiern ein Come- back. Anfang Juli konnte man an der «Urban 21» in Berlin zuweilen den Eindruck bekommen, in einer Veranstaltung der späten siebziger Jahre zu sitzen. Doch je länger die Referenten sprachen, zum Beispiel Kofi Annan, Gerhard Schröder, Tommy T. B. Koh aus Singapur oder Richard Rogers, umso klarer wurde, wie sehr sich der Weltkongress «Urban 21» von der Stadterneuerungskampagne des Europarates (1980-82) unterschied. Thema war nicht mehr nur die europäische Stadt, sondern alle Stadttypen dieser Welt. Sie wurden in Berlin in drei Kategorien eingeteilt: die Städte des Hyperwachstums, die dynamischen Städte mit ihrem frappanten Nebeneinander von Hütten- und Villenquartieren sowie die reifen Städte mit viel alter Bausubstanz und wenig jungen Menschen. Das Wort Stadt (city) wurde an der Konferenz für alle ihre Erscheinungsformen verwendet - für Kernstädte mit Agglomerationen, für Metropolen, Städtenetze oder urbane Landschaften - und oft als Überbegriff für «das Urbane» schlechthin.

Heute liegen die Schwerpunkte der Stadtentwicklungsdiskussion anders als vor 25 Jahren. Selbst der Architekt Richard Rogers zählte «good design» nur unter anderen Punkten auf, als er festhielt, was ihm an der Stadt wichtig sei: Dichte, Vielfalt der Aktivitäten, gute Verbindungen, Ökologie, ökonomische Kraft, gute Verwaltung und soziale Integration. Die ästhetischen Aspekte und die Schönheit der Stadt werden im Schlusspapier, der «Berliner Erklärung zur Zukunft der Städte», fast verschämt erwähnt, und der pathetische Ausruf eines Teilnehmers am Podium der Weltverbände der Architekten und Planer, die Architekten müssten wieder die Führung übernehmen, verhallte im eher schwach besetzten Saal. Der Begriff «informell» hingegen hatte Konjunktur. Neben der informellen Ökonomie und den «informal settlements», also den Slums oder Spontansiedlungen, muss man heute wohl auch von einem informellen Stadtdesign sprechen. Stehen doch dem bewussten Gestaltungswillen komplexe Sachzwänge entgegen, die als «hidden designers» wirken. An der Konferenz hat denn auch kaum jemand die Stadtgestalt als wesentlichen Faktor der Stadtentwicklung abgehandelt.

Armut und Migration
«Urban 21» gab Gelegenheit, nach den wichtigsten Kräften zu fragen, die das Gesicht urbaner Landschaften prägen. Dabei kristallisierten sich Armut, Umweltfragen und politische Reformen als Schwerpunkte heraus. Armut und die damit verbundene Migration vom Land in die Ballungsräume führten in vielen Teilen der Welt zur Entstehung weitläufiger Slums. Das Zerstören der Spontansiedlungen und das Vertreiben oder Umsiedeln der Bewohner in Hochhäuser brachten keine befriedigenden Resultate, sondern führten zur einer Überlastung der nicht zerstörten informellen Siedlungen und zu «vertikalen Slums». In den siebziger Jahren war noch die Rede vom Architekten, der den Slumbewohnern helfen sollte, ihre armseligen Behausungen wenn nicht «schön», so doch menschenwürdig zu gestalten. Davon hört man heute kaum mehr etwas. Vielmehr sollen nun die Behausungen und Infrastrukturen der Slums legalisiert und von den Bewohnern selber verbessert werden.

Dazu braucht es mehr als eine Parzellierung der spontanen Quartiere und ein paar Kurse für die Bewohner. Legalisieren sei ein erster Schritt, hiess es in Berlin, dann müsse aber den Bewohnern geholfen werden, Initiativen zu ergreifen, um ihre Häuser und die Umgebung gesund und lebenswert zu gestalten. Nötig ist finanzielle, technische und rechtliche Soforthilfe, und diese wiederum ist nur nachhaltig, wenn zugleich auf nationaler Ebene auch mittel- und langfristige Massnahmen eingeleitet werden, wie das Eindämmen der Bevölkerungsexplosion und die dazu notwendige Schulung der Frauen, die Ermöglichung eines bescheidenen Verdienstes, die Aufklärung über Wasserqualität und Hygiene oder das Initiieren von Organisationsstrukturen in Nachbarschaften und Quartieren, die später als Basis für die lokale Demokratie dienen können. Es gibt nicht genügend Geld und Fachkräfte für den Bau von Strassen, Wasserleitungen, Regenauffangbecken und Grünanlagen, aber auch für die Förderung von lokaler Kultur, Schulung und sozialer Infrastruktur in den informellen Siedlungen.

Umweltprobleme
Die katastrophale Luftverschmutzung ist ein weiterer «hidden designer». Sie kann nur verringert werden durch abgasfreie, öffentliche Verkehrsmittel und den Verzicht auf weiträumige Überbauungen, die einzig durch individuelle Verkehrsmittel erschlossen werden können. Schienengebundene Verkehrsmittel und polyzentrische Stadtstrukturen mit sehr dichten Kernen nahe den grossen Haltestellen senken nicht nur die Luftbelastung. Sie prägen auch das Erscheinungsbild, indem sie kompaktere Stadtstrukturen fördern, die Zersiedelung vermindern und damit eine klarere Trennung zwischen Stadt und Land erreichen. Die Klage über Verkehrslärm führt zur Forderung nach mehr «human powered mobility», also nach mehr Fortbewegung zu Fuss und per Fahrrad. Diese verlangt nach kurzen Distanzen und führt damit indirekt zur Durchmischung der Nutzungen Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bilden. Eine funktional durchmischte Stadt bietet ein bunteres Bild als städtebauliche Monostrukturen. An der Pressekonferenz wurde denn auch die Frage gestellt, warum der Gedanke einer Gegencharta zur «Charta von Athen», die 1933 das Trennen der Funktionen propagierte, fallengelassen worden sei. Als Antwort wurde auf die «Berliner Erklärung» verwiesen.

Das grösste Stadtgebilde der Welt ist mit 27 Millionen Einwohnern Tokio, gefolgt von drei Städten mit etwas mehr als 16 Millionen Menschen: Mexico City, São Paulo und New York. Städte dieser Grössenordnung könnten nicht mehr von einer Zentralregierung aus gesteuert werden, wurde in Berlin gesagt, eine Dezentralisierung und eine Verlagerung der Kompetenzen in die Gemeinden sei unabdingbar. Davon verspricht man sich realitätsbezogenere politische Entscheide, mehr Verantwortung im lokalen Bereich und - unter anderem - eine bessere soziale Integration. Die soziale Zweiteilung der Gesellschaft ist am Erscheinungsbild von Städten wie Caracas gut ablesbar. Das krasse Nebeneinander der bewachten, zum Teil ummauerten Siedlungen der Reichen und der informellen Siedlungen der Armen gibt anschaulich Auskunft über die soziale Situation. Eine ökonomische Verbesserung, insbesondere die Integration der informellen in die herkömmliche Wirtschaft, wäre eine Voraussetzung, um das der soziale und geographische Auseinanderfallen Gesellschaft zu korrigieren.

Die Regionalisierung wurde an der Konferenz auch als Mittel propagiert, um von einer Architektur der internationalen und interkontinentalen Langeweile wegzukommen - nicht im Sinne eines neuen Heimatstils, sondern um aus lokalen Gegebenheiten neue Lebens- und Stadtformen zu entwickeln. Erwähnt wurden die drei Elemente, die viele afrikanische Städte prägen: die ursprüngliche Lebens- und Bauweise, das koloniale Erbe und die Einflüsse, die heute durch den Tourismus, den kulturellen Austausch und die Investoren nach Afrika getragen werden. Dieses Zusammenstossen von verschiedenen kulturellen Elementen sollte nicht zu einer Banalisierung führen, sondern für innovative Lösungen genutzt werden.

Die Städte werden von unterschiedlichen Situationen bestimmt und müssen deshalb verschiedene Massnahmen entwickeln. Sie können deshalb, wie die Erfahrung zeigt, kaum direkt voneinander lernen. Als mögliche Vorgehensweise wurde in Berlin immer wieder die «best practices» erwähnt: die Schilderung gelungener Beispiele in Teilbereichen, handle es sich nun um Interventionen in einem Quartier, um wirtschaftliche Massnahmen oder um Infrastrukturverbesserungen in einem Slumgebiet. Immer sind es Entscheidungen, die viele Lebensbereiche betreffen. Wohl deshalb sind sie theoretisch beschrieben allenfalls für Fachleute verständlich, nicht aber für Bewohner, Behörden und Investoren. Die Konferenz hat, wie erwähnt, eine Erklärung verabschiedet. Es handelt sich weder um ein Fachdokument wie die «Charta von Athen» noch um eine Erklärung von Regierungen. An der Konferenz nahmen neben Politikern auch Vertreter von Nichtregierungsorganisationen sowie Architekten und Planer teil. Das Papier ist zwar nicht verbindlich, gibt aber Auskunft über Inhalte und Stand der globalen Diskussion zur Urbanisierung auf unserem Planeten. Ähnliches gilt für die schlanke Broschüre des «Weltberichts zur Zukunft der Städte, ‹Urban 21›».

Ursula Rellstab

[ Weltbericht zur Zukunft der Städte, «Urban 21». Ausgearbeitet von der Weltkommission Urban 21. Hrsg. Peter Hall und Ulrich Pfeiffer. Erhältlich beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bonn. ]

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