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Bauerbe aus Stahl und Beton
Neue Zürcher Zeitung

Frankreich und die Architektur des 20. Jahrhunderts

16. September 2000 - Marc Zitzmann
Lange Zeit gab es in der französischen Kulturverwaltung zwei Abteilungen, die sich gegenseitig befehdeten: «Patrimoine» und «Architecture». Der erste Begriff lässt sich schwer übersetzen: «Patrimonium» ist zu diffus und «Bauerbe» zu einseitig, weil zum «patrimoine» alles zählt, was unter Denkmalschutz gestellt werden kann, vom Ziergarten bis zum Panzer. In der Praxis war die erste Abteilung - grob gesagt - für alte Gemäuer zuständig, die zweite für jüngere Bauten. 1998 fusionierten sie zur Direction de l'Architecture et du Patrimoine (DAPA). Diese hat unter der Leitung von François Barré und mit der eher rhetorischen als finanziellen Rückendeckung der beiden letzten Kulturministerinnen das «patrimoine du XXe siècle» entdeckt, wobei das Konzept sowohl Konservative als auch Kreative anspricht. Barré hat nun aber vor zwei Wochen das Tuch geworfen, wohl auch, weil Ende März ein gleichfalls für das «Patrimoine» zuständiger Staatssekretär ernannt worden ist und weil mit einer nur halbherzigen Rückendeckung auf Dauer nicht viel Konkretes zu machen ist (das Budget der DAPA beträgt derzeit mit rund 2,2 Milliarden Francs knapp 14 Prozent des staatlichen Kulturbudgets).

Die am 16. und 17. September stattfindenden «Journées du Patrimoine» werden nun also von einem Zeremonienmeister geleitet, der nur noch im Amt ist, weil sein Nachfolger noch nicht gefunden wurde. Das Ausscheiden des kompetenten, allseits geachteten Barré schmerzt um so mehr, als just an diesem Wochenende das Konzept, dem die DAPA ihre Existenz bzw. deren Legitimierung verdankt, Thema der «Journées du Patrimoine» ist. Unter dem Titel «Le Patrimoine du XXe siècle en France» wird kurz vor dem Ende des Millenniums nun (endlich) versucht, die Franzosen mit dem von ihnen eher gleichgültig betrachteten Bauerbe unseres Jahrhunderts vertraut zu machen. Dass in dieser Hinsicht starker Nachholbedarf besteht, zeigt unfreiwillig «Le Figaro», der dem Ereignis mehrseitige Artikel widmet, die vor Ungenauigkeiten nur so strotzen.

Auch in Sachen Denkmalschutz ist das 20. Jahrhundert mit 1300 Einträgen - gerade einmal 2,5 Prozent aller geschützten Objekte - eher stiefmütterlich bedacht. Ein Blaubuch mit 400 weiteren Anwärtern auf das Label «Monument historique» ist soeben erschienen; neu ist zudem ein Logo, das bemerkenswerte Bauwerke kennzeichnet. Dieses soll aber im Gegensatz zu den z. T. strengen Auflagen des Denkmalschutzes keine juristischen Folgen haben. Dass sich der Staat auf diese Weise ziemlich billig seiner Pflichten entledige, wäre nun allerdings ein ungerechter Vorwurf. Denn seit zwei, drei Jahren - und verstärkt seit dem Amtsantritt der neuen Kulturministerin Catherine Tasca im März 2000 - ist ein deutliches Interesse für das «Patrimonium» des 20. Jahrhunderts zu spüren.

Im Herbst 1998 hatte François Barré einen Plan in 13 Punkten angekündigt; etliche davon sind heute ganz oder teilweise verwirklicht. Wichtig sind die Erfassung des modernen Baubestands in Datenbanken wie Archidoc (www.culture.fr) oder Archires (www.archi.fr) und die Bereitstellung von Informationen für eine breite Öffentlichkeit, schriftlich (etwa in den Publikationen der Editions du patrimoine), aber auch multimedial (www.patrimoine-XX.culture.gouv.fr). Wichtig sind sodann internationale Projekte wie die Erstellung des ersten weltweiten Inventars des Architekturerbes unseres Jahrhunderts (in Zusammenarbeit mit der Union internationale des architectes) oder, im Rahmen des EU-Programms «Raphael», das Projekt «L'Europe de l'Air», dessen erste Veranstaltungen drei Flughäfen der dreissiger Jahre betreffen: Berlin-Tempelhof, Paris-Le Bourget und Liverpool-Speke. Wichtig ist schliesslich die im Gang befindliche Restaurierung von zwanzig emblematischen Bauwerken in ganz Frankreich.

Besondere Aufmerksamkeit erregten jüngst der Wiederaufbau von Jean Prouvés Pavillon de l'Aluminium (1954) im Parc des expositions de Paris-Nord Villepinte und der Erwerb der vom Verfall bedrohten Villa Cavrois von Robert Mallet-Stevens (NZZ 12. 9. 00). Renoviert werden ausserdem die 1900 von Henri Sauvage gebaute Villa Majorelle in Nancy, Mallet-Stevens' Villa Noailles in Hyères (1924-33) und Pierre Chareaus Pariser «Maison de verre» (1931), ferner die zwischen 1937 und 1939 errichtete Maison du peuple in Clichy, zwei Kirchen, in denen der Stahl bzw. der Beton dominiert (Sainte-Barbe in Crusnes und Sainte-Thérèse-de-l'Enfant-Jésus in Metz), sowie Le Corbusiers 1958 vollendeter Pavillon brésilien in der Pariser Cité internationale universitaire usw. Eine Fotoausstellung, die im Sommer in Berlin zu sehen war, soll demnächst in Zürich (und vielleicht auch in Bern und in Genf) dem Publikum auf 85 grossformatigen Tafeln ein Panorama der französischen Architektur im 20. Jahrhundert vorführen.

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