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Die Schönheit der Fabriken
Neue Zürcher Zeitung

England entdeckt die Zeugen des frühen Industriezeitalters

23. September 2000 - Silvia Kobi
Die rund 200-jährige Ditherington Flax Mill in den englischen West Midlands bietet einen trostlosen Anblick. Nach ihrer Stilllegung hat sie als Bierbrauerei, dann als Kaserne gedient. Seit dem Auszug der Soldaten vor mehr als einem Jahrzehnt sind weder die zerbrochenen Fensterscheiben noch das lecke Dach repariert worden. Doch nun soll die Flachsmühle saniert werden, und zwar wegen ihrer architekturgeschichtlichen Bedeutung: Als erstes Gebäude mit einer Eisenstruktur ist sie gleichsam der Vorläufer des modernen Wolkenkratzers. Das Renovationskonzept sieht eine kommerzielle Umgestaltung vor. Ausser Wohnungen sind Restaurants, Läden und Büros geplant. Eine solche Umnutzung hat in London bereits Schule gemacht: In den beiden aus viktorianischer Zeit stammenden Bahnhöfen Paddington und Liverpool Street sind im Rahmen der Sanierung der Eisenbahninfrastruktur ebenfalls Verkaufsflächen und Büroräumlichkeiten geschaffen worden. Eine solche Umwandlung ist nach Meinung der Fachleute für die öffentliche Hand vorteilhafter als die international häufig praktizierte Transformation in ein Museum, kann doch ein kommerziell orientiertes Renovationsprojekt mit Kapital aus der Privatwirtschaft rechnen. In Grossbritannien, wo es Hunderte von stillgelegten Minen, Giessereien und Textilmühlen gibt, würden die öffentlichen Gelder ohnehin nur zur Rettung von wenigen ausgewählten Bauten reichen.

Geht es darum, unter den ehemaligen Produktionsstätten eine Wahl zu treffen und ein Erneuerungskonzept auszuarbeiten, kann die Regierung auf das Know-how von English Heritage zählen. Im Inventar dieser Organisation figurieren rund 150 unmittelbar vom Zerfall bedrohte Gebäude, hauptsächlich aus dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert. Die Ditherington Flax Mill ist nur eines davon. Für einige mag die Rettung zu spät kommen, denn English Heritage musste zehn Jahre Vorarbeit leisten, bis grünes Licht für die Umwandlung der Flachsmühle gegeben wurde. Doch solche Hartnäckigkeit dürfte sich langfristig bezahlt machen. Der Präsident von English Heritage, Sir Neil Cossons, geht davon aus, dass die Zeugen der Industrialisierung in naher Zukunft wachsende Besucherscharen anziehen werden. In der Eröffnungsrede auf dem vor wenigen Tagen in den Londoner Lokalitäten der Royal Geographical Society zu Ende gegangenen Millenniumkongress des International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage (ICCIH) hat Cossons sogar den Vergleich mit den Ruinen der Antike gewagt: «Grossbritanniens Textilmühlen und Giessereien werden eines Tages genau so besichtigt werden wie heute die Ruinen von Rom.» Für Cossons gilt es, diese von einem einst florierenden Industriesektor zeugenden «Prosperitätsrelikte» für kommende Generationen zu erhalten, seien es interessierte Landsleute oder ausländische Besucher. Die stillgelegten Betriebe befinden sich hauptsächlich in heute wirtschaftlich benachteiligten Gegenden wie Nordostengland, den West Midlands und Wales. Industrietourismus könnte hier neue Verdienstmöglichkeiten für die Lokalbevölkerung schaffen.

Am Millenniumkongress konnte der ICCIH auf seine 25-jährige Tätigkeit zurückblicken. Seit der ersten Zusammenkunft des ICCIH in den siebziger Jahren ist das Interesse an der Industriekultur enorm gewachsen. Heute beschränkt es sich nicht mehr auf den engen Kreis der im ICCIH vertretenen Historiker, Geographen und Archäologen. Als Indiz für einen Paradigmenwechsel ist die Tatsache zu werten, dass kürzlich drei britische Textilmühlen als Kandidatinnen für die Unesco-Liste des Weltkulturerbes aufgestellt wurden, darunter auch die Ditheringtoner Flachsmühle. Was bei dieser Auswahl sicher eine Rolle gespielt hat, ist der architektonische Wert der Gebäude. Zudem ist ihr Potenzial für eine künftige kommerzielle Nutzung grösser als dasjenige von Relikten der Industrialisierung mit rein technologischem Wert. Für diese interessieren sich meist nur Ingenieure, ehemalige Arbeiter oder deren Nachkommen. Was ebenfalls zugunsten der Textilmühlen gesprochen haben mag, ist deren Umweltverträglichkeit. Zahlreiche ehemalige Werkanlagen anderer Produktionsbereiche haben eine verwüstete oder mit Altlasten verunreinigte Umgebung hinterlassen. In solchen Fällen besteht die Gefahr, dass sich die betroffenen Standortgemeinden für einen raschen Abbruch einsetzen. Dies allerdings will der English Heritage mit rechtzeitigem Eingreifen verunmöglichen


[Am 23. und 24. September finden in London die «Heritage Open Days» statt. Zugänglich sind bedeutende Beispiele historischer, moderner und zeitgenössischer Architektur. Informationen sind unter www.londonopenhouse.org abrufbar.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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