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Kriegswirtschaft und Siedlungsbau
Neue Zürcher Zeitung

Sanierung der Salvisberg-Siedlung in Piesteritz


Kriegswirtschaft und Siedlungsbau
Sanierung der Salvisberg-Siedlung in Piesteritz
Mit dem Bleicherhof und dem ETH-Fernheizkraftwerk in Zürich, dem Lory-Spital und dem Suva-Haus in Bern sowie dem Komplex für Hoffmann-La Roche in Basel ist Otto Rudolf Salvisberg der Hauptvertreter einer gemässigten Moderne in der Schweiz. Seine Karriere begann indes mit einer Siedlung im mitteldeutschen Piesteritz.

6. September 2000 - Hubertus Adam
Anders als in England, wo die «Garden City Association» seit 1903 in Letchworth die von Ebenezer Howard fünf Jahre zuvor formulierten sozialreformerischen Ziele des «Peaceful Path to Real Reform» nach einem genossenschaftlichen Modell zu realisieren suchte, vermochten es die Protagonisten der Gartenstadtbewegung in Deutschland kaum, sich vom Kalkül des aufgeklärten Unternehmertums zu emanzipieren. Die Siedlung Margarethenhöhe in Essen war eine Krupp-Werkssiedlung in neuer Gestalt; und die 1907 gegründete erste deutsche Gartenstadt in Hellerau bei Dresden, vielfach als Prestigeprojekt des Deutschen Werkbundes und der Deutschen Gartenstadtgesellschaft interpretiert, verdankte ihr Entstehen den expandierenden «Deutschen Werkstätten» des liberalen Industriellen Karl Schmidt, der als Gesellschafter der «Gartenstadt Hellerau GmbH» fungierte; sein Freund, der Werkbundsekretär Wolf Dohrn, sprach vom «Idealismus des echten Geschäftssinns».

Staatliche Initiative führte während des Ersten Weltkriegs zum Bau der von Paul Schmitthenner entworfenen Gartenstadt Staaken, einer Siedlung für die Arbeiter der nahen Spandauer Munitionsfabriken. Der Nationalökonom Franz Oppenheimer, als einer der Vordenker der Bodenreform nicht nur an der Vegetarischen Obstbaukolonie Eden bei Oranienburg beteiligt, sondern auch auf Initiative des Zionistischen Kongresses an der Gründung einer Siedlung in Palästina, feierte 1917 zum Entsetzen seiner pazifistischen Weggefährten im Vorwort zur offiziellen Publikation Staaken als Erfolg des Deutschen Reichs und Mittel zur Volksgesundung. Im Gegensatz zu Hellerau mit seiner Vielfalt von Haustypen zeigte die westlich von Spandau gelegene Siedlung eine Tendenz zur Rationalisierung; lediglich fünf verschiedene Haustypen verbergen sich hinter den Fassaden, die das Bild einer überschaubaren Kleinstadt evozieren und zum Teil die Glockengiebel des «Holländischen Viertels» in Potsdam adaptieren.

Produkt des staatlichen Dirigismus
Ohne das Vorbild Staakens kaum denkbar ist die ebenfalls in staatlicher Regie während des Ersten Weltkriegs ausgeführte Siedlung Piesteritz bei Wittenberg, mit der der 1882 in Köniz bei Bern geborene Architekt Otto Rudolf Salvisberg zum beruflichen Durchbruch gelangte. Nach Ausbildungsjahren in Biel, München und Karlsruhe übersiedelte der junge Architekt 1908 nach Berlin, wo er sechs Jahre später sein eigenes Büro eröffnete. Zwar hatte Salvisberg Schmitthenner schon während des gemeinsamen Studiums in Karlsruhe kennen gelernt, doch beteiligt an der Siedlung Staaken war er - folgt man den neuesten Forschungsergebnissen - nicht. Das Bindeglied stellt vielmehr Otto Brechbühl dar, der 1910 von Salvisberg als Mitarbeiter nach Berlin geholt worden war und nach Schmitthenners Einberufung die (nicht ausgeführte) weitere Planung von Staaken übernahm. Brechbühls Pläne wurden dann, ohne dass der Verfasser namentlich erwähnt worden wäre, in Piesteritz ausgeführt.

Wie auch Staaken ist Piesteritz Produkt des staatlichen Dirigismus und der massgeblich von Walter Rathenau installierten Kriegswirtschaft. Da die englische Blockade den Import überseeischer Rohstoffe für die Stickstoffproduktion verhinderte, mussten binnen kurzer Frist in Deutschland Fabriken für die technische Herstellung von Stickstoffdünger errichtet werden, um die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu garantieren. Die 1916 in Betrieb genommenen Mitteldeutschen Stickstoffwerke AG in Piesteritz bedienten sich allerdings nicht der Luftverflüssigung, sondern eines energieaufwendigen karbochemischen Verfahrens, das zugleich die Produktion von Sprengstoff ermöglichte. Das vor wenigen Jahren abgerissene AEG-Grosskraftwerk im nahe gelegenen Zschornewitz, eines der eindrucksvollsten Ensembles der deutschen Industriebaukunst, lieferte den nötigen Strom.

Die Reihenhaussiedlung mit mehr als vierhundert Häusern für Arbeiter und Angestellte entstand östlich des Werksgeländes, ungefähr vier Kilometer vom Stadtzentrum Wittenbergs entfernt. Salvisberg gelangte zu dem Auftrag durch die Bekanntschaft mit Georg Haberland, dem Direktor der Berlinischen Bodengesellschaft, die nach Staaken auch die Planung für Piesteritz übernahm. Dabei gelang es dem Schweizer Architekten auf Grundlage eines schon bestehenden Bebauungsplans, souverän mit jenen Themen umzugehen, welche deutsche und englische Gartenstädte seit Beginn des Jahrhunderts prägten. Piesteritz zeigt einen axial angeordneten, von orthogonaler Bebauung umrahmten zentralen Bereich ebenso wie die gekurvten Strassenzüge und malerisch sich entwickelnden Plätze in der Tradition Camillo Sittes und Theodor Fischers. Hinzu treten beruhigte, sich zur Strasse öffnende Wohnhöfe, wie man sie aus Raymond Unwins Planungen für Letchworth und die Hampstead Garden Suburb bei London kennt.

Auch der Wechsel von giebel- und traufenständigem Haustyp hat in England seine Vorbilder, wurde dann jedoch schon in Hellerau übernommen. Mit einem Kaufhaus am Markt, einer Schule, einer Kirche, zwei Ledigenheimen sowie dem (erst 1925 fertiggestellten) Rathaus war Piesteritz ein autonomer Siedlungsorganismus; mit Gartenparzellen und Ställen war den Arbeitern überdies die Möglichkeit zur Selbstversorgung gegeben. Obwohl 80 Prozent der Häuser von Arbeitern bewohnt wurden, gibt die lange Reihe der Angestelltenhäuser, welche die Siedlungskante zur Hauptstrasse Wittenberg-Coswig bildet, dem Ensemble ein eher mittelständisches Gepräge. Auch an exponierten Punkten im Inneren des Siedlungsgefüges entstanden Angestelltenhäuser. Diese waren weniger das Resultat urbanistischer Überlegungen als ein Indikator für den Wunsch nach sozialer Kontrolle.

Modellhafte Sanierung
Die Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft, für die Vermarktung von Werk und Siedlung nach dem Ende der DDR zuständig, favorisierte eine Einzelprivatisierung der Häuser, welche die Geschlossenheit des vernachlässigten, aber 1987 unter Denkmalschutz gestellten Ensembles vernichtet hätte. Dass es dazu nicht kam, ist einem gemeinsamen Vorgehen der Stadtverwaltung Wittenberg, der Piesteritzer Werkssiedlungsgesellschaft sowie des Dessauer Bauhauses zu verdanken. Der in München ansässige Energieträger Bayernwerk AG - im Übrigen Rechtsnachfolger der einstigen Mitteldeutschen Reichswerke - erwarb nicht nur das Fabrikareal, sondern auch die Siedlung. Damit war die Voraussetzung gegeben für eine von der Denkmalpflege begleitete Gesamtsanierung, die 1997 begann und derzeit kurz vor dem Abschluss steht.

Oberstes Ziel war es, den historischen Eindruck der Siedlung wiederherzustellen: Farbfassung entsprechend dem Originalbefund, Rekonstruktion der historischen Fenster, Erhalt der Türen und Fensterläden, Deckung der Dächer mit Biberschwanzziegeln. Durch Dämmung des Dachs und der Kellerdecke konnte auf eine die Fassade verunstaltende Wärmedämmung verzichtet werden; im bisher nicht genutzten Dach wurden überdies die Raumreserven gefunden, welche die bescheiden dimensionierten Häuser auch heute attraktiv machen. Wer offenen Auges durch ostdeutsche Städte geht und registriert, wie billige Baumarktprodukte das Antlitz einheitlicher Siedlungen entstellen, wird die Vorbildlichkeit der vom Münchner Architekten Fritz Hubert geleiteten Sanierung von Piesteritz zu schätzen wissen. Dass es zudem gelungen ist, auch den ruhenden Verkehr weitgehend aus der Siedlung zu verbannen und einen Mieterwechsel grösseren Umfangs zu vermeiden, verstärkt den Modellcharakter. Zu Recht ist Piesteritz denn auch einer der Korrespondenzstandorte der Expo 2000.

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