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Durchmischung aus der Retorte
Der Standard

Prinz Charles gilt als schärfster Kritiker moderner britischer Architektur. In Poundbury, einem neuen Stadtteil von Dorchester, hat nun der Thronfolger seine eigenen städtebaulichen Vorstellungen verwirklicht. Unser Großbritannien-Mitarbeiter Peter Isenegger hat sich in Poundbury umgesehen.

19. August 2000 - Peter Isenegger
Ich hatte den Gestank, den Verkehr, den Lärm und all das, was andere Leute in London ,das pulsierende Leben' nennen, schlicht und einfach satt", sagt der Rentner Peter Bryant. Seinen Lebensabend wollte der ehemalige Seebär, der auf Versorgungsschiffen der britischen Flotte „einen schönen Teil der Welt“ gesehen hat, an einem sauberen und friedlichen Ort verbringen. Dass er schließlich in Poundbury vor Anker ging, ist eher Zufall.

Trotz eingehender Haussuche waren die Bryants in Weymouth, einer kleinen Hafenstadt in Dorset und dem Ort ihrer ersten Wahl, nicht fündig geworden. Auf dem Nachhauseweg kamen sie durch Dorchester, einer Kleinstadt zwölf Kilometer landeinwärts. „Meine Frau entdeckte das Schild eines Häusermaklers. Wir hielten an und ließen uns eines der Häuser im neuen Stadtteil Poundbury zeigen. Auf Anhieb waren wir uns beide einig: Dieses und kein anderes Haus musste es sein.“ Die Bryants verkauften ihr Haus in London und zogen nach Poundbury. Und dort leben sie, wie in einem englischen Märchen, „happily ever after“.

„Poundbury ist ein sehr persönliches Projekt des Prinzen von Wales“, erklärt Simon Conibear, der Projektmanager von Poundbury. Es ist die Antwort von Prinz Charles auf „die Sünden der Architektur des 20. Jahrhunderts“. Der Prinz gilt als einer der schärfsten Kritiker moderner britischer Architektur. Schon Mitte der Achtzigerjahre legte er sich mit der Gilde der Architekten an, als er in einer Rede behauptete, die modernen Häuserbauer hätten „in Großbritannien mehr Schaden angerichtet als die deutsche Luftwaffe während des ganzen Zweiten Weltkrieges“.

Im südenglischen Städtchen Dorchester - in der Grafschaft Dorset gelegen - lässt nun Prinz Charles eine Siedlung ganz nach seinem städtebaulichen Gusto erstehen. Eigentlich handelt es sich um eine Erweiterung von Dorchester, das heute rund 14.000 Einwohner zählt. In verschiedenen Etappen soll in Poundbury in den nächsten beiden Dekaden Lebensraum für rund 5000 zusätzliche Einwohner geschaffen werden.

Der Prinz von Wales, der zusätzlich den Titel Herzog von Cornwall führt, ist seit alters her aufs Engste mit Dorchester verbunden. Gut 1000 Hektar Land in der Umgebung von Dorchester gehören dem Herzogtum von Cornwall. Aus den Ländereien des Herzogtums wiederum stammt - und das schon seit dem 14. Jahrhundert - die Apanage für den englischen Thronfolger. Die beträgt zur Zeit mehrere Millionen Pfund Sterling pro Jahr.

158 Hektaren seiner Dorchester-Pfründe hat der Prinz für die 1993 begonnene Stadterweiterung freigegeben. Natürlich klemmte sich Charles nicht selber hinters Reißbrett. Aber in Stadtplaner Leon Krier fand er einen Seelenverwandten, der seine Liebe zum romantischen Konservatismus - respektive seine Abneigung gegen moderne Architektur - teilt. Über 240 Häuser und Wohnungen sind in der Zwischenzeit fertiggestellt. Rund 450 Personen sind in Poundbury eingezogen.

Und wie sieht nun die städtebauliche Vision des Prinzen für das 21. Jahrhundert aus? Ungefähr so wie ein Dorf in der Grafschaft Dorset im 17. und 18. Jahrhundert. Im Dorset dieser Jahrhunderte holten sich die Schöpfer von Poundbury, das von einigen Spöttern bereits „Charlesville“ genannt wird, auch ihre Anleihen. „Jedes der erstellten Häuser in Poundbury ist anders. Allen aber ist gemeinsam, dass sie in einem Stil erbaut wurden, wie man ihn hier in der Grafschaft Dorset findet“, erläutert Simon Conibear auf unserem Rundgang durch die erste Etappe von Poundbury. Und: „Wir haben auch ganz bewusst nur Baumaterialien verwendet, die zwar nicht unbedingt aus unserer Gegend stammen, die aber von alters her in der Grafschaft Dorset verwendet wurden.“

Poundbury ist ein Retorten-Dorf. Die Gassen sind bewusst eng gehalten. Einerseits, um den Verbrauch von Land einzuschränken. Zum anderen, um den Straßenverkehr auf ein Minimum zu beschränken. „Das Konzept sieht eine Durchmischung vor. Poundbury soll nicht nur Wohnsiedlung sein, sondern auch Arbeitsplatz und Lebensraum“, erklärt Simon Conibear. Die soziale Durchmischung scheint bereits in diesem frühen Stadion recht gut geglückt zu sein. 20 Prozent aller Häuser und Wohnungen sind subventionierter sozialer Wohnungsbau. Und darauf ist Simon Conibear ganz besonders stolz: „Anders als in anderen Neubausiedlungen haben wir diese subventionierten Häuser und Wohnungen nicht in Gettos irgendwo am Rande zusammengefasst. Wir haben sie über die ganze Etappe verteilt. Was uns viele Besserwisser prophezeiten, ist nicht eingetroffen. Das Nebeneinander von Privathäusern und Sozialwohnungen hat sich nicht negativ auf die Liegenschaftspreise ausgewirkt.“ Dies führt Simon Conibear in erster Linie darauf zurück, dass die unterschiedlichen Häuser- und Wohnungstypen alle den gleichen Ausbaustandard haben. Man kann - zumindest von außen - gar nicht feststellen, wer in einer privaten Liegenschaft wohnt und wer in einer subventionierten.

Mit dem Oktogon, einem achteckigen Kaffeehaus, gibt es am Marktplatz auch einen Treffpunkt für die erste Generation von Poundbury-Einwohnern. „Das Pub gleich daneben soll noch in diesem Herbst aufgehen“, hofft Simon Conibear. Auch die Markthalle, ein auf dicken Säulen ruhendes Gemeindezentrum, wo die Bauern aus der Umgebung dereinst ihre Produkte anbieten können, ist im Rohbau fertig. Simon Conibear ist überzeugt: „All diese Einrichtungen werden die Bildung einer echten Gemeinschaft beflügeln.“

Die angestrebte Durchmischung Wohnen/Arbeiten ist hingegen noch nicht erreicht. Es gibt zwar Arbeitsplätze in Poundbury, aber die werden nicht ausschließlich von Poundbury-Bewohnern besetzt. Noch immer pendelt ein großer Teil der Einwohner zwischen Wohn- und Arbeitsort hin und her. Später, wenn einmal alle Etappen von Poundbury realisiert sein werden, so hofft Simon Conibear, werden die meisten Einwohner sowohl in Poundbury leben als auch arbeiten. Und dabei werden sie feststellen, dass man sich innerhalb von Poundbury schneller zu Fuß oder mit dem Fahrrad als mit dem Auto fortbewegt.

Gelöst ist bislang auch das Problem mit den Autos nicht. Zwar verfügen die meisten Häuser über Garagen oder Parkplätze, die meist in Hinterhöfen oder in den Hintergärten untergebracht sind. Doch die Besucher und die Bauarbeiter parken entlang der engen Straßen; was das Bild dieses musealen Dorfes doch empfindlich stört.

Und Besucher kommen viele nach Poundbury. Ihre Geister aber scheiden sich an den städtebaulichen Visionen des Thronfolgers. „Wunderhübsch“, schwärmt eine ältere Besucherin. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, hier meinen Lebensabend zu verbringen.“

„Walt Disney wäre stolz auf Poundbury“, glaubt hingegen ein Architekt, der einen Freund und Berufskollegen hierher gebracht hat. „Mir kommt das Ganze vor, als hätte man sich ein Bilderbuch angeschaut, die schönsten Bilder ausgeschnitten und sie zu einer Collage zusammengeklebt. Das alles ist etwas zu sehr Chichi für meinen Geschmack. Queen Mary, seine Urgroßmutter, sammelte Puppenhäuser. Prinz Charles hat sich ein ganzes Puppenhäuserdorf gebaut.“

Solche Kritik allerdings lassen die Einwohner von Poundbury nicht gelten. „Am Anfang hat mich solche Kritik noch verunsichert“, sagt Peter Bryant. „Doch jetzt leben wir hier. Und Sie können in Poundbury fragen, wen Sie wollen. Die Leute, die hier leben, sind alle begeistert. Bei der Kritik der Architekten spielt womöglich noch immer verletzter Stolz eine Rolle. Und bei vielen Kritiken, die von Besuchern geäußert werden, schwingt auch etwas Neid mit.“

Für ihn hat sich das Investment in Poundbury gelohnt: „Ich glaube an die Zukunft von Poundbury. Weil es sich um klassische Häuser handelt, werden sie nicht wie andere Neubauten in zehn oder zwanzig Jahren aus der Mode sein.“ Für Peter Bryant ist Poundbury eine schmucke Erweiterung des schmucken Städtchens Dorchester.

Fühlt sich Peter Bryant gegenüber Prinz Charles zu Dank verpflichtet? „Bewusst dankbar bin ich ihm nicht“, meint er lächelnd. „Dankbar bin ich ihm für die Idee, für diese wunderbare Idee.“

„Poundbury ist der Beweis, dass es eine mögliche Alternative zum schrecklichen Schandfleck der seelenlosen und vor sich hin wuchernden Ausbreitung unserer Vorstädte gibt“, steht im Jahresbericht des Herzogtums von Cornwall. Dass Poundbury allerdings als städtebauliche Vision für das 21. Jahrundert gelten kann, dagegen verwehren sich der besuchende Architekt und dessen Freund. „Poundbury als städtebauliche Version zu bezeichnen ist ungefähr so, wie wenn man in der Wiedereinführung der Körperstrafe an unseren Schulen einen Fortschritt im Erziehungswesen sähe.“ Nach einer längeren Pause fügt sein Freund bei: „Ich bin mir ziemlich sicher, es gibt Leute, die würden auch das so sehen.“

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