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Gebaute Entwicklungshilfe
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Dieser Beitrag von Eyal Weizman und Carola Dietrich erschien in der Originalfassung in Architektur aktuell.

3. Oktober 2000 - Carola Dietrich
Die momentane infrastrukturelle Situation in Gaza ist dermaßen desolat, dass die Instandsetzung wahrscheinlich bis zu einer Milliarde US-Dollar kosten wird. Mit Hilfe von Spenden ausländischer Staaten konnte mittlerweile die Wasser- und Kanalisationsversorgung palästinensischer Gebiete in Gaza City auf 80 Prozent erhöht werden. In den Sanddünen des Gaza-Streifens und auf den Straßen der Stadt entsteht im Moment ein Netz moderner Infrastruktur. Diese Grundlagen modernen Lebens entstehen unterirdisch, als Vorahnung einer Architektur, die sie benützen wird.


Strukturelle Gewalt

Der Gaza-Streifen ist in relativ kleine Parzellen geteilt; meist gehören sie privaten Personen. Was es an „staatlichem“ Land gab, war Israel bis zum Rückzug 1994 für militärischen Nutzen und für Siedlungsaktivitäten vorbehalten. Die Besitzverhältnisse zeigen ein unglaublich komplexes Puzzle an Absprachen und Aufteilungen. Die Grenzmarkierungen, kurvige und verflochtene Linien, mögen äußerst irrational erscheinen, erzählen aber die lange Geschichte der nachbarschaftlichen Beziehungen und des Handels.

Jedes Mal, wenn die Regierung Land für neue Straßen oder öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Moscheen oder soziale Wohnungen braucht, wird das zu einem Problem. Ohne den legalen Mechanismus der Enteignung muss die Regierung (teilweise zahlt sie für das Land, teilweise verspricht sie zu zahlen) mühsam Parzelle für Parzelle sammeln, um Raum für öffentliche Einrichtungen zu schaffen. Kombinierte Landparzellen haben so komplexe Konturen, dass ihre Gebäude ein Zelebrieren an architektonischen Formen hervorrufen können.


Dichte Besiedlung

Von den 1,5 Millionen Einwohnern am Gaza-Streifen sind 700.789 Flüchtlinge oder Nachkommen derer, die während des Krieges 1948 aus ihrem Land vertrieben wurden. Allein im Flüchtlingslager Shaty leben 70.000 Menschen auf nur 0,77 km2, eine Dichte, die sonst nur in Gebieten mit Hochhäusern erreicht wird. In Shaty aber ist diese hohe Populationsdichte auf einstöckige Backstein- oder Wellblechhäuser verteilt.

Einfamilienhäuser sind überall über das Land verstreut und verdichten sich an der Peripherie von Gaza City. Auf Pilotis erhoben und mit flachen Dächern wirken sie wie die lokale Variation einer modernistischen Villa aus den 1920er Jahren.


Rotes Statussymbol

In den besetzten Gebieten sind die roten Dächer ein überall zu findendes Symbol für jüdische Siedlungen. Rote Dächer sind ein Zeichen für ihren fremden Luxus, eine Ikone „westlicher“ Architektur, die dazu benützt wird, das „wir“ von „ihnen“ zu unterscheiden.

Umgeben von Betonmauern, Stacheldraht, elektronischen Meldesensoren und patrouilliert von einem Bataillon bewaffneter Infanterie, strahlen diese Siedlungen den ruhigen Vorstadt-Charakter eines nahezu bürgerlichen Lebensstils aus, dabei stehen sie inmitten eines der ärmsten Gebiete der Welt.

Die jüdischen Siedlungen in Gaza sind strategische „Festungen“ und folgen der israelischen Regierungspolitik, mit der Besiedelung die Grenzen zwischen dem Staat Israel und den besetzten Gebieten zu verwischen und die Bildung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Ihre Lage zwischen Gaza City und Khan Younis schneidet buchstäblich den Gaza Streifen in zwei Teile mit verheerenden Folgen für die weitere Entwicklung.

Vielleicht durch den tragischen Prozess des Nacheiferns oder um ein wenig das Gefühl des Luxus' zu erhaschen, adaptieren die arabischen Häuser auf der anderen Seite des Siedlungszaunes manchmal den Phänotypus der Siedlungen und platzieren ein rotes Dach (meist rot gestrichener Asbest) auf ihre Flachdachhäuser.

Die Gestaltung der sozialen Wohnbauprojekte in Gaza richtet sich, ähnlich den Entwicklungen im Nachkriegseuropa, am Versuch aus, die große Wohnungsnot in den Griff zu bekommen. In den nächsten drei Jahren hofft das Wohnbauministerium, 83.000 der 200.000 benötigten Wohnungen fertig zu stellen.


Westliche Hilfe

Scherzhaft wird oft gesagt, dass das wichtigste Gerät in jedem lokalen Architekturbüro die Faxmaschine ist. Und tatsächlich wird die meiste Planungsarbeit von ausländischen Architekten gemacht, dann im Maßstab 1:200 gefaxt oder per e-mail gesendet und von den örtlichen Büros detailliert und spezifiziert für die Ausführung.

Als Produkt ausländischer Spendenpolitik, die dementsprechende visuelle Präsenz sucht, sind die Wohnprojekte meist groß angelegt und autonom in ihren Einrichtungen. In ihrer Entlegenheit vermeiden sie traditionelle Straßen und ersetzen diese mit Nachbarschaftszentren für kommunale Einrichtungen und Handel. Gaza rühmt sich mit einem saudiarabischen Projekt (einer Moschee), einem italienischen, einem amerikanischen und dem österreichischen.


Österreichs Beitrag

Der österreichische Wohnbau, westlich von Khan Younis, vom österreichischen Architekten Johannes Fiedler entworfen und in Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Wohnbauministerium für Angestellte der Palestinian Authority realisiert, ist solch ein Beispiel. Der zehn Blocks, die drei geschützte Innenhöfe bilden. Umgeben von verstreuten Häusern von Flüchtlingen, ist der Wohnbau introvertiert und exklusiv. Seine Innenhöfe sind ein innerer Hafen, abends um zusammen fernzusehen, tagsüber als geschützter Kinderspielplatz.

Gaza City hat sich, sowohl horizontal als auch vertikal in unglaublicher Geschwindigkeit erweitert. Man meint zu glauben, dass eine Stadt dazu ein Jahrhundert braucht, in Gaza City waren es aber nur sechs Jahre. Die vitale Stärke und Lebenskraft der Stadt birgt einen unleugbaren Charme in sich, der vielleicht auch einmal Schönheit als Attribut erlangen wird.

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