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Die beunruhigende Gegenwart des Meisters
Der Standard

Ein Architekturrätsel: Er steht in einem seiner Gebäude, aber wo genau befindet sich Mies van der Rohe?

14. Oktober 2000 - Ute Woltron
Ein altes Foto. Schwarz Weiß. Darauf zu sehen: Fensterglas, gehalten von einem Stahlgerüst, Lamellenjalousien, dahinter schemenhaft die Zweige eines Baumes, Spiegelungen auf dem Steinboden, ein Mann, sein Schatten, eine Zigarre. Ein Rätsel. Wo befindet sich Mies van der Rohe? Denn dass er höchstselbst der so korrekt gekleidete Mann auf besagtem Bild ist, wenigstens darüber herrscht Klarheit.

Erstmals publiziert wurde diese penibel inszenierte Fotografie im Jahr 1958 in einer amerikanischen Architekturzeitschrift. Den Spanier Ricardo Daza ließ „dieses historische Foto des weltberühmten Architekten nicht zu Ruhe kommen“, er wollte den genauen Aufenthaltsort des Architekturgiganten ausfindig machen: „Vermutlich sehen wir dieses oder ein sehr ähnliches Foto nicht zum ersten Mal. Ohne die Person Mies wäre die Szene uninteressant. In der beunruhigenden Gegenwart des Meisters kommt man jedoch nicht um hin, nach seinem genauen Standort zu fragen.“ Wo genau, auf welchem Kontinent, in welcher Stadt, welchem Haus, auf welche Bodenplatte hatte sich der Meister an einem trüben Tag irgendwann um 1956 hingestellt, die Zigarre entzündet, die rechte Hand in der Hosentasche in die berühmt lässige Pose geworfen, um sich vom Fotografen Bill Engdahl ablichten zu lassen?

Ricardo Dazas Indizienjagd nach diesen präzisen, aber flüchtigen Koordinaten Mies van der Rohes ist als das witzigste Architekturbuch seit langem gerade auf den Markt gekommen. Auf der Suche nach Mies ist ein vergnüglich formulierter kleiner Zeitvertreib. Das sorgfältig und gut designte Buch verrät nebenbei eine ganze Menge über Mies, seine Zeit, seine Aura, seine Arbeit, die Architektur im allgemeinen. Daza nimmt uns Leser als Verbündeten mit auf die Reise zu Mies und seinem vorläufig unbekannten Aufenthaltsort. Wir alle suchen ihn, wir alle finden ihn, weil der Autor uns 188 Seiten lang geschickt vor Augen führt, was der Mensch zu sehen imstande ist, wenn man ihm beibringt, genau und das Gehirn gebrauchend hinzuschauen.

Mies, so erfahren wir beispielsweise, war Beidhänder. Er konnte mit beiden Händen zeichnen - und rauchen, was er auch unablässig tat. Seine Montecristos sind Legende. Die stets tadellosen dunklen Anzüge, auf jedem Foto knitterfrei und fussellos im Bild, stammten aus den Maßschneidereien Knizes und wurden vom Meister mit weißen Stecktüchern veredelt. Im Zuge der Lektüre decken wir auf, dass der Architekt vor allem im fortgeschrittenen Alter sehr schlecht sah und die jugendliche Allüre eines Monokels später gegen eine Brille tauschte. Die trug er allerdings nur dann, wenn er nicht gerade ein Kameraauge auf sich gerichtet fühlte. Eine Fotografie im Buch ertappt ihn gerade in dem Moment, da der schon reifere Mies sein Sehgerät verschämt zu verstecken sucht.

Natürlich ist es völlig nebensächlich, wenn wir irgendwann herausgefunden haben, dass sich Mies in der Hundertstelsekunde dieser Fotoaufnahme 2,06 Meter vor der Westseite und 2,36 Meter rechts von der Nordseite der Crown Hall befindet. Er hatte den Stahlbau - als Chicagoer Sitz der Architekturabteilung der Technischen Universität von Illinois - selbst in den Jahren 1950 bis 1956 errichtet. Wir haben damit nur einen Etappensieg errungen, Ricardo Daza hetzt uns sofort weiter, tiefer in Psyche und Leben des Architekten hinein. Er will sich mit der Standortangabe allein nicht begnügen und fragt: „Doch wohin schaut Mies van der Rohe?“

Die Antwort fällt ein wenig metaphysisch aus, doch das macht gar nichts, im Gegenteil. Wir befinden uns zwischenzeitlich auf Seite 124, und Mies van der Rohe ist uns schon menschlich nähergekommen, ein Freund geworden. Wohin schaut Mies aber wirklich? Nicht alles lässt sich analytisch beantworten. „Nähern wir uns dem verschleierten Blick seiner Haselnußaugen. Wer eine Brille trägt, zieht sich von der Welt zurück. Er lebt und fühlt in dem vernarbten und beschränkten Raum, der vom Brillenglas bis zur Netzhaut des Auges reicht. (...) Die Welt, das Auge und die Architektur sind schon eins.“


[Ricardo Daza, Auf der Suche nach Mies,
öS 288,-/188 Seiten, Birkhäuser, Actar, 2000.]

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