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Berliner Befunde
Neue Zürcher Zeitung
21. Oktober 2000
ces. Im vergangenen Jahrzehnt, dem ersten nach der deutschen Wende, wurde Berlin zur Metapher für die städtebauliche Transformation. Den unaufhörlichen Wandel hat der Kunsthistoriker und Architekturkritiker Jürgen Tietz seit Mitte der neunziger Jahre in kritischen Beiträgen (u. a. für diese Zeitung) kontinuierlich verfolgt. Eine Auswahl von Texten sowie bisher unveröffentlichte Beiträge finden sich nun in einem Buch versammelt. Dabei setzt der Autor seinen Schwerpunkt erklärtermassen in denkmalpflegerischer Hinsicht. Einer kritischen Betrachtung unterzieht er Berlins Vorliebe für das historisierende Bauen, einem «Bauen fürs Gemüt», wie Tietz es nennt, wobei er vom Hotel Adlon über den Neuen Hackeschen Markt bis zum teilweisen Wiederaufbau der Bauakademie kein Ende der «verklärenden Rückwendung zur Stadt des 19. Jahrhunderts» erkennen mag. Am Beispiel des Reichstags-Umbaus von Norman Foster, der die ebenfalls nicht unproblematische Modernisierung des Gebäudes nach dem Krieg durch Paul Baumgarten unkenntlich gemacht hat, illustriert Tietz die Schwierigkeit, sich auf eine «historische Dimension» als Diskussionsgrundlage zu einigen in einer Stadt, in der sich die historischen Schichten überlagern. Das grosse Verdienst der Publikation ist ihr Blick über die publikumswirksamen Highlights der Hauptstadtwerdung hinaus in Gegenden wie die Einkaufsmeile Schlossstrasse. Dort dämmern eine Reihe von Bauten aus den fünfziger Jahren wie das Kaufhaus Wertheim von Hans Soll, von der Berliner Verkleidungswut verschandelt, vor sich hin. Der Abriss ungeliebter Bauten der Nachkriegsmoderne hat in Berlin eine traurige Tradition. Derzeit steht die Architektur der siebziger Jahre zur Disposition. Hier bietet die vorliegende Publikation eine Diskussionsgrundlage in ihrer Stellungnahme für ein bauliches Erbe, das derzeit zum Verlierer des städtebaulichen Umbruchs zu werden droht.


[Jürgen Tietz: Berliner Verwandlungen. Reihe Hauptstadt/ Architektur/Denkmal. Verlag Bauwesen, Berlin 2000. 160 S., 60 Abb., Fr. 46.-. ]

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